Rezension: XX0XY ungelöst: Geschichte der Intersexualität

Noch immer werden Menschen, deren Körper nicht der Norm „eindeutiger Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ entsprechen, von der Medizin für krank erklärt. Verbunden mit der Diagnose Intersexualität sind oft operative Eingriffe ab frühester Kindheit, die die angebliche Normalität von nur zwei Geschlechtern wiederherstellen sollen. Diese Eingriffe beschreiben viele der davon betroffenen Menschen als Gewalt (siehe auch GID Spezial Nr. 9, 2009, zu diesem Thema). Ulrike Klöppel verfolgt in „XX0XY ungelöst“ auf fast 700 Seiten die Spuren der heutigen Intersexualitätsbehandlung in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert zurück. Sie gibt zunächst einen Überblick über den aktuellen medizinisch-psychologischen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit und die Einsprüche von Intersex-Aktivist_innen. Anschließend wertet die Autorin medizinische und juristische Quellen von der frühen Neuzeit bis in die 1980er Jahre aus. Statt Intergeschlechtlichkeit als spezielles Thema weniger „Betroffener“ zu sehen, rückt Klöppel die gesellschaftlichen Probleme der rigiden Zwei-Geschlechter-Ordnung in den Blick. Sichtbar werden die Verschränkungen von alltäglichem und medizinischem Wissen über Geschlecht. Im Zentrum der Analyse steht die Geschichte des Begriffs Gender. Dieser kam in den 1950er Jahren in den USA im Zusammenhang mit der medizinischen Normierung intergeschlechtlicher Menschen auf: Gender sollte die soziale Prägung des Geschlechts benennen. So wurden Genitaloperationen an Kleinkindern, wie sie die ForscherInnen um John Money praktizierten, von dem Bemühen begleitet, psychische Aspekte des Geschlechts durch stereotype Erziehung zu formen. Die Unterscheidung eines „sozialen“ Geschlechts vom „biologischen“ Geschlecht wurde von vielen Feministinnen dankbar aufgegriffen, lieferte sie doch wissenschaftliche Argumente gegen die „Biologie als Schicksal“. Die Verstrickung des Gender-Konzepts mit der heteronormativen und gewaltsamen Intersexualitätsbehandlung wurde vernachlässigt. Ulrike Klöppel zeigt auf, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der wichtigen Kategorie Gender bis heute nicht in ausreichender Weise erfolgt ist. Die Autorin bezieht nicht nur Position gegen medizinische Forschung und Eingriffe an intergeschlechtlichen Menschen ohne deren informierte Einwilligung. Sie arbeitet heraus, unter welchen Bedingungen die körperlichen und psychischen Manipulationen an Kindern überhaupt erst als medizinische Notwendigkeit gelten können. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sehen es die BehandlerInnen als eine Bedingung des Menschseins an, dass sich ein Individuum in die zweigeschlechtliche Ordnung einfügt. Vor diesem Hintergrund wird erst verständlich, warum ÄrztInnen das Behandlungsziel - Schaffung einer stabilen Geschlechtsidentität - als „humane Antwort“ verstehen. Die Uneindeutigkeit des Geschlechts verstehen sie bis heute als „psychologische Katastrophe“. „XX0XY ungelöst“ ist ein Beitrag zur Veränderung des Wissens über Geschlecht und zur Neudefinition dessen, was als das eigentliche Problem gelten muss: nicht die Menschen, die nicht in die zweigeschlechtliche Norm passen, sondern die Norm selbst und die Praktiken, die sie aufrechterhalten. Ulrike Klöppel positioniert sich mit „XX0XY ungelöst“ deutlich: Ihr Buch ist ein engagierter und zugleich fundierter Beitrag gegen die dominierende medizinisch-psychologische Problemdefinition, damit intergeschlecht­liche Menschen endlich über sich selbst bestimmen können.
Jannik Franzen
Ulrike Klöppel: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine his­torische Studie zur Intersexualität, transcript Verlag, Bielefeld (2010), 695 Seiten, 39,80 Euro, ISBN 978-3-8376-1343-8.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
202
vom Oktober 2010
Seite 48

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