Vorsorge, Nichtwissen und Evidenzpolitik

Die Pluralisierung von Wissensperspektiven

Die Diskussion um das Vorsorgeprinzip reiht sich ein in eine ganze Serie von Debatten, welche eine Pluralisierung von Wissensperspektiven anzeigt. Letztlich muss das Problem gelöst werden, wie trotz der Infragestellung bisheriger Wissensroutinen Wissen für Entscheidungsprozesse bereitgestellt werden kann, das sozialen und politischen Ansprüchen an Evidenz genügt.

Das Vorsorgeprinzip enthält wissenspolitisch ein Paradoxon: Bei konsequenter Auslegung des Vorsorgeprinzips rückt der Schutz vor bisher noch gar nicht identifizierten und näher analysierten Gefährdungen in den Fokus. Unter dem Eindruck von Nichtwissen - „Wie vermeiden wir zukünftige Ozonlöcher?“ 1 - gewannen die politischen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Vorsorgeprinzips deutlich an Schärfe. Nichtwissen wird zu einer wesentlichen Bezugsgröße.2 Was ist dann aber die konkrete Wissensbasis für die Anwendung des Vorsorgeprinzips? Das Spektrum an Vorschlägen reicht von einer strikt evidenzbasierten bis hin zu einer konsequent nichtwissensorientierten Ausgestaltung des Vorsorgeprinzips. Dabei meint idealtypisch eine evidenzbasierte Ausformulierung des Vorsorgeprinzips, dass dieses nur dann zur Anwendung kommen dürfe, wenn die Möglichkeit von Schadensereignissen nachweislich existiert. Eine nichtwissensorientierte Anwendung des Vorsorgeprinzips reagiert hingegen schon auf die Äußerung eines Verdachts möglicher Gefährdungen mit regulativen Maßnahmen. Nun scheint gerade die in modernen Gesellschaften wachsende Unsicherheitserfahrung die Rückkehr zu Konzepten eindeutiger Evidenzkonstruktion zu provozieren. Es lässt sich behaupten, dass es in dem Maße, in dem verschiedene Formen der wissenschaftlichen Evidenzkonstruktion für Risikowissen bedeutsam werden, institutioneller Verfahren bedarf, um aus dieser Vielstimmigkeit Wissen für Entscheidungen zu extrahieren. Wie vertrackt das im Einzelnen ist, lässt sich gerade an der GVO-Regulierung beobachten. Deshalb ist eine am Vorsorgeprinzip orientierte Politik nur als Evidenzpolitik denkbar.

Die Rationalitätsgewissheit moderner Gesellschaft - und ihr Wandel

Moderne Gesellschaften verdanken ihre Entwicklungsdynamik der Transformation von Unsicherheit in partielle Gewissheiten. Entscheiden unter Unsicherheit bezog sich schon immer auf eine Zukunft, die im Moment des Entscheidens unerkannt war und das Potenzial unerwünschter Effekte in sich barg.3 Entsprechend gab es eine Rationalitätsgewissheit in dem Sinne, dass man darauf vertrauen konnte, dass das noch Unerkannte im Prinzip erkennbar sei - entsprechender Aufwand oder Verfügbarkeit von Ressourcen vorausgesetzt. Jedoch kamen mit der Diskussion um das Vorsorgeprinzip und der damit einhergehenden stärkeren öffentlichen Sichtbarkeit unterschiedlicher wissenschaftlicher Wissens- und Nichtwissensperspektiven die etablierten Wissensroutinen ins Wanken. Wie können daher, trotz dieser Infragestellung von Wissensroutinen, Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen werden? Welche kognitiven und institutionellen Anpassungen sind hierfür erforderlich? Sicher ist, die Rationalitätsgewissheit hat sich nicht in Luft aufgelöst, jedoch hat sich ihre Form und Reichweite verändert. Entsprechend gestehen immer noch die meisten Zeitgenossen der Wissenschaft eine bedeutende Rolle als Wissensproduzentin zu und erkennen ihre Autorität an. Aber der selbstverständliche Charakter der Zuweisung von Autorität hat sich verflüchtigt. Autorität des Wissens ist in wachsendem Maße abhängig von besonderen epistemischen Prozeduren und institutionellen Vorkehrungen der Legitimitätsstiftung. Oder kurz: Evidenzen werden fragil. Dies zeigt sich prägnant an den Konflikten über gentechnisch veränderte Organismen (GVO) in Europa. Dies fängt schon bei der Pluralisierung der Wissensperspektiven für die Charakterisierung möglicher Problemlagen an. Diese Pluralisierung von Wissensperspektiven lässt sich dadurch charakterisieren, dass man die unterschiedlichen Formen der Definition von Nichtwissen wie Konstruktion von Evidenz aufzeigt, welche die jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen (oder die jeweils betrachteten anderen Wissensanbieter) nutzen.4 Im Feld der Debatte um GVO lassen sich zum Beispiel die Molekularbiologie und Ökologie dadurch voneinander abgrenzen, dass erstere als restriktive Evidenzkultur charakterisiert wird, bei der im Mittelpunkt die Herstellung von Phänomenen (etwa: Herbizidresistenz einer Pflanze) und deren systematische Erklärung steht. Nichtwissen ist temporäres Nichtwissen, das durch mehr Forschung überwunden werden kann. Als evident gilt nur, was im Experiment systematisch reproduziert und theoretisch erklärt werden kann. Zweitere zeigt sich als holistische Evidenzkultur, welche sich dadurch auszeichnet, die verschiedenen Naturphänomene in eine strukturierte „dichte Beschreibung“ einzuordnen. Nichtwissen wird als unauflösbar akzeptiert, die Offenheit gegenüber Überraschungen kultiviert; als evident gilt, was sich in ein Narrativ der Verbundenheit von Phänomenen systematisch einfügen lässt.

Evidenzpolitik im Kontext der GVO-Debatte

Die GVO-Debatte ist aus vielen Gründen ein sehr aufschlussreicher Fall bei der Betrachtung von Implikationen und Paradoxien, die im Gefolge einer am Vorsorgeprinzip ausgerichteten Risikopolitik auftauchen. Der Kürze dieses Artikels geschuldet, sollen knapp drei Miniaturen skizziert werden.5 Erstens der rechtliche Rahmen von Feldversuchen zu Nachzulassungsmonitoring. In der Richtlinie der Europäischen Union zur Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen (2001/18/EG) ist das Monitoring (im Sinne einer begleitenden Erhebung beziehungsweise Beobachtung) der Auswirkungen von GVO auf die Umwelt und menschliche Gesundheit nach der Marktzulassung verbindlich vorgeschrieben. Das Ziel des so genannten Nachzulassungsmonitorings besteht darin, schädliche Wirkungen transgener Organismen festzustellen, die sich in der vorausgegangen Sicherheitsforschung und Risikoprüfung nicht vorhersehen ließen. In Verbindung mit dem Prinzip der Neuzulassung von GVO nach zehn Jahren kann diese Regelung als nichtwissensorientiert verstanden werden. Denn sie stellt einen Rahmen zur Verfügung, in dem bisher unerkanntes Nichtwissen entdeckt werden kann, und zugleich auch die Konsequenzen in Form einer möglichen Nicht-Erteilung der weiteren Zulassung gezogen werden können. Zweitens die behördlichen Bewertungspraktiken. Die möglichen Risiken von GVO sind Gegenstand sowohl der nationalen wie der europäischen Sicherheitsforschung und Risikobewertung. In Deutschland ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) für die Zulassung zuständig, das sich mit dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sowie dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) ins Benehmen setzen muss. Nun sind die Evidenzpraktiken der Behörden unterschiedlich geprägt, wobei das BVL mit seiner restriktiven Evidenzorientierung mit den anderen beiden Behörden und ihrer offenen Evidenzorientierung zumindest noch Gegenspieler hat. Das ist bei der EFSA, der Behörde auf europäischer Ebene, nicht der Fall. Hier entfaltet sich deshalb relativ ungebremst eine restriktive Evidenzorientierung. Das bedeutet, dass nur solche Risikovermutungen als evident gelten, bei denen schon ein Schaden nachgewiesen werden konnte. Das Vorsorgeprinzip wird hier also nicht nichtwissensorientiert, sondern evidenzbasiert und damit restriktiv ausgelegt. Hier wären also Transparenzregeln und -pflichten für die genutzten wie abgewiesenen Formen von Evidenz hilfreich. Der dritte Aspekt schließlich sind transnationale Handelskonflikte. Die politische Dimension der Regulierung von GVO ist freilich nicht auf die Gesetzgebung innerhalb der EU beschränkt. Vielmehr stellt sich die Frage umfassender nach den Entwicklungen auf transnationaler Bühne. Welche Effekte die transnationale Konfliktstrukturierung mit sich bringen kann, zeigte sich exponiert an dem Streit zwischen der EU und den USA zur Aufhebung des Importverbots von GVO.5 Im Rahmen dieses internationalen Handelsstreits zwischen der EU und einer Gruppe von GVO-exportierenden Ländern, angeführt durch die USA, musste die WTO letztlich entscheiden, was als evidentes Problem im Rahmen von Prozeduren des Risk Assessment angesehen werden konnte beziehungsweise musste. Das US-Modell basierte auf einem restriktiven Evidenzansatz, bei dem allein nachgewiesene Schäden - also nur die Beobachtung massiver negativer Konsequenzen - als begründungsfähige Argumente zur Einschränkung des Handels mit bestimmten Gütern berücksichtigt werden sollten. Demgegenüber orientierte sich das EU-Modell institutionell an dem offenen Ansatz. Nicht nur Risiken, sondern mögliche Risiken - also die Verfügbarkeit von bedenkenswerten Gründen für Sorge, auch wenn der wissenschaftliche Beweis noch aussteht - schienen für die EU ein akzeptables Argument zur Begrenzung von Handelsbewegungen. Die WTO folgte schließlich dem US-Modell. Betrachtet man diese Konstellation, dann wird deutlich, dass zwar in der Zwischenzeit die institutionellen Bedingungen zur Artikulation von abweichenden Wissensperspektiven sich verbessert haben. Hier hat die Orientierung am Vorsorgeprinzip Früchte getragen. Jedoch kann zugleich nicht übersehen werden, dass die noch größere Baustelle bisher unbearbeitet ist: Die Charakterisierung und Transparenz der Wissensperspektiven findet de facto bisher nicht statt. Das zeigt sich etwa am Beispiel des Nachzulassungsmonitorings von MON810. In diesem Fall lässt sich das Vorgehen gerade nicht als nichtwissensorientiert beschreiben, sondern folgt althergebrachten strikten Evidenzerwartungen.

Über die Notwendigkeit von Evidenzpolitik

Unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge ergibt sich ein vielschichtiges Geflecht von Wissenslagen und Wissensprozeduren. Entscheidend ist, dass unter diesen Bedingungen die Anpassungen nicht mehr allein auf der Ebene institutioneller Verfahren stattfinden können, sondern vielmehr genauer auch auf die Ebene der Wissensproduktion geschaut werden muss. Welche Evidenzen werden denn zur Verfügung gestellt und entsprechen diese den institutionellen Erfordernissen - oder eben nicht? Es zeigen sich also zwei wesentliche Problemkreise: der Problemkreis der Evidenzpolitik einerseits, der Problemkreis der Evidenzkonstruktion andererseits. Ad a) Problemkreis Evidenzpolitik. Die Erfahrungen aus dem Kontext der Regulierung von GVO sprechen für sich. Selbst gut aufgesetzte institutionelle Regeln können durch die organisationale Orientierung im Prinzip unterlaufen werden. Die EFSA hat zwar den institutionellen Auftrag, schon jedem möglichen Verdacht nachzugehen, um jedoch die eigene Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden, ist die Orientierung stark an restriktiven Evidenzmustern ausgerichtet. Auf diese Weise findet eine starke Selektion von Evidenzen statt. Evidenzpolitik stellt also den institutionellen Ort dar, um epistemische und kulturelle Werte zu verknüpfen, und für die dadurch entstehenden Konflikte Lösungen zu finden.6 Deshalb stellen sich hier Fragen nach der institutionellen Ordnung, in denen Evidenzprobleme gelöst werden: Lassen sich institutionelle Mechanismen des Abgleichs zwischen unterschiedlichen Formen von Evidenz gestalten, gleichsam „Wissensprozessordnungen“ etablieren? Solche institutionellen Ordnungen stehen aber immer in einem übergeordneten politischen Rahmen. Denn es gilt zu bedenken, dass im transnationalen Raum ganz unterschiedliche Standards der Evidenz zum Tragen kommen und so regional etablierte Formen der Vorsorgepolitik begrenzen können. Ad b) Problemkreis Evidenzkonstruktion. Aber das Problem ist nicht allein ein institutionelles. Vielmehr, und das macht die Angelegenheit besonders misslich, entstehen auch vielschichtige epistemische Probleme. Dabei sind die Fragen zu stellen: Welche Rolle spielen unterschiedliche Formen von Evidenz im politischen Raum? Was ist, wenn der Raum möglicher Effekte mehr oder weniger im Dunklen liegt, also die Szene von Nichtwissen bestimmt ist? Welche Evidenz soll gelten? Solange der Glaube an eine übergeordnete Form wissenschaftlicher Rationalität aufrechterhalten werden konnte, stellte sich die Frage nach unterschiedlichen Formen der Konstruktion von Evidenz im Grunde nicht ernsthaft. Die Herausforderung besteht nun darin, die widersprüchlichen Wissensangebote hinsichtlich ihres Evidenzanspruchs zu klassifizieren, gegeneinander abzugleichen und diese Puzzle-Teile dann zu einem Evidenzbild zusammenzufügen. Hierfür fehlen bisher zumeist die analytischen Werkzeuge.7 Neben dieser ganz generellen Problemstellung stellt sich aber auch diejenige Frage, wie im Falle von Unsicherheit oder gar Nichtwissen ein Bild der Problemlage entstehen kann. Hier ist also nicht die konflikthafte, sondern vielmehr die nur mit „schwachen Signalen“ versehene Evidenz das entscheidende Problem. Deshalb müssen Wege gefunden werden, solche schwachen Signale auszuwerten und in das Evidenzbild einfügen zu können. Wie lassen sich also Indizien, Hinweise und Ahnungen klassifizieren und zu Evidenzen verdichten? Sicher ist allein: Es bedarf unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge neuer Logiken der Sortierung von Hinweisen, die vielfach nur ‚ungesättigte’ (also leicht angreifbare) Evidenzen darstellen. Kurzum: Es muss erstens erforscht werden, welche Formen der Evidenzproduktion es in Abhängigkeit von unterschiedlichen Wissensanbietern gibt. Zweitens bedarf es institutioneller Verfahren, um die (Nicht-)Wissenskonflikte einer Bearbeitung zuzuführen. Die Bearbeitung muss nicht in einer eindeutigen Lösung bestehen, manchmal ist das Prozessieren von Lösungsmöglichkeiten schon die Lösung selbst, weil darin politische Optionen gebildet werden. Aber die Ausschöpfung der Perspektivenvielfalt sowie die Transparenz der Verfahren stellen in ihrer Verbindung den Lackmustest für die Effektivität wie Legitimität entsprechender Institutionalisierungen dar.

  • 1Vgl. WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen), (1999): Welt im Wandel: Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998, Berlin, S. 285.
  • 2Vgl. Wehling, P. (2006): Im Schatten des Nichtwissens? Konstanz.
  • 3Vgl. Luhmann, N. (1992): Ökologie des Nichtwissens. In: Ders.: Beobachtungen der Moderne. Opladen, S. 149-220.
  • 4Vgl. Böschen, S. (2009): Hybrid regimes of knowledge: challenges for constructing scientific evidence in the context of the GMO-debate. In: Environmental Science and Pollution Research 16(5), S. 508-520.
  • 5 a b Seifert, F. (2010): Back to Politics at Last. Orthodox Inertia in the Transatlantic Conflict over Agro-biotechnology. In: STI-Studies 6, S. 101-126.
  • 6Vgl. Kitcher, P. (2011): Science in a Democratic Society. Amherst, NY.
  • 7Hinweise dazu finden sich bei Weiss, Ch. (2003): Expressing Scientific Uncertainty. In: Law, Probability and Risk 2, S. 25-46 sowie bei Wiedemann, P. (2009): Vorsorgeprinzip und Risikoängste: Zur Risikowahrnehmung des Mobilfunks. Wiesbaden.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
223
vom Mai 2014
Seite 17 - 20

Stefan Böschen ist Senior Research Scientist im Forschungsbereich Wissensgesellschaft und Wissenspolitik des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe.

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