Unter falscher Flagge
Einführung
„Seemännisch gesprochen“, so formulierte es Heiner Raspe auf einer Sitzung des Ethikrates, „hat die so genannte personalisierte Medizin ein älteres Schiff gekapert und segelt nun unter falscher Flagge.“1 Denn der Begriff erinnere an jene „patientenzentrierte Medizin“, die der Londoner Psychoanalytiker Michael Balint 1969 erstmals explizit beschrieb und die davon ausgeht, „dass jede Krankheit mit zahlreichen menschlichen Problemen verbunden ist, deren Beachtung oder Nichtbeachtung auf das Krankheitsbild zurückwirkt.“2 Im Gegensatz dazu, so der Lübecker Professor für Bevölkerungsmedizin vor dem Ethikrat, gehe es der „individualisierten“ oder „personalisierten“ Medizin allein um spezifische biologische Dispositionen, die mit Hilfe molekulargenetischer Biomarker vergegenwärtigt werden sollen. In der Tat, sowohl bei der Entwicklung von Wirkstoffen, die sich auf einzelne molekulare Eigenschaften von Krankheiten richten, wie auch von Tests, die diese Eigenschaften feststellen oder durch Bestimmung des Stoffwechseltyps dabei helfen sollen, Verträglichkeit oder Dosis eines Medikamentes zu bestimmen - bei der „individualisierten Medizin“ geht es ausschließlich um molekulare Merkmale. Und es ist diese Ausschließlichkeit, die Raspe kritisiert, denn damit bleibe „all das ausgeblendet, was sonst noch für das Krank- und wieder Gesundwerden, das Kranksein, die Prognose und Therapie eines Kranken von Bedeutung ist: Die Person des Kranken, sein Verhalten und Befinden, die Vorstellungen und Präferenzen seiner Lebenswelt, seine Ernährung, seine Arbeit und Freizeit, seine Beziehungen zu anderen Menschen - auch zu Ärzten und Therapeuten - oder auch finanzielle Rahmenbedingungen.“ Wie reduktionistisch dieses Krankheitsverständnis ist, lässt sich an der klinischen Bedeutung der „individualisierten Medizin“ ablesen, die bisher nur als geringfügig bezeichnet werden kann: Kaum zwanzig Wirkstoffe, die auf eine bestimmte molekulare Struktur einer Erkrankung gerichtet sind - zumeist geht es um Krebserkrankungen - haben bisher eine Zulassung, und sie bewirken allenfalls einige Monate Aufschub im Krankheitsverlauf. Der große Durchbruch in der Behandlung ist bislang ausgeblieben. Erfolgreich ist dagegen die Entwicklung von Tests. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein neuer Biomarker-Test angepriesen wird, der eine noch präzisere Risikobestimmung, eine noch genauere Prognostik erlauben soll. Das ist es, was „individualisierte Medizin“ heute heißt: Die Entwicklung von immer mehr Möglichkeiten, aus biologischen Eigenschaften von Individuen Krankheitsrisiken zu errechnen. So zielt sie denn auch eher auf eine „personalisierte Prävention“ denn eine Behandlung des ganzen Menschen. Wie kommt es, dass die „individualisierte“ Medizin trotz dieser wenig ermutigenden Zwischenbilanz zum Leitbild geworden ist? Und was bedeutet die Idee, spezifische Medikamente für einzelne, anhand molekularer Merkmale definierte Patientengruppen zu entwickeln, für die Praxis von Behandlung und Versorgung? Einige interessante Antworten auf diese Fragen haben wir zusammengetragen: Gisela Schott und Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit den derzeit zugelassenen Wirkstoffen und ihrer Bedeutung für PatientInnen. Im Anschluss wirft Uta Wagenmann einen Blick auf ökonomische Hintergründe des Hypes um den neuen Ansatz; gemeinsam mit Ulrich Wernitz untersucht sie außerdem, welche Rolle Forschungsförderung und Politikberatung dabei spielen. Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen gibt im Interview Auskunft über Gegensätze und Widersprüche zwischen der „individualisierten Medizin“ und dem System der gesetzlichen Krankenkassen, und schließlich widmet sich Silja Samerski der Standardisiertheit der Behandlung, die die voranschreitende Ökonomisierung des Gesundheitssystems erst ermöglicht und die mit der „individualisierten Medizin“ noch verstärkt wird. Eines geht aus den Beiträgen hervor: Mit dem, was Menschen sich wünschen, wenn sie krank sind - Zuwendung, Aufmerksamkeit und gute Behandlung - hat die „individualisierte Medizin“ herzlich wenig zu tun. Wesentlich für ihren Aufstieg sind, wie so oft, politische und ökonomische Verhältnisse. Auf sie lenkt der Schwerpunkt dieses GID-Heftes seine Aufmerksamkeit - und die seiner LeserInnen hoffentlich auch!
- 1Jahrestagung „Personalisierte Medizin - der Patient als Nutznießer oder Opfer?“ am 24.Mai 2012 in Berlin. Im Netz unter www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/p….
- 2Zitat aus: Engelhardt, Karlheinz (1971): „Patienten-zentrierte“ Medizin. Münchner Medizinische Wochenschrift 1971, S. 803-809.
GID-Redaktion