Eugenik im Gewand des Familienschutzes
Europäischer Menschengerichtshof bestätigt deutsches Inzestverbot
Geschwister dürfen wegen Inzests verurteilt werden. Diese Position des Bundesverfassungsgerichts bestätigte am 12. April der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dass Rechtsprechung und Gesetzgebung zum Inzest in der Bundesrepublik mit Menschenrechten herzlich wenig zu tun haben, zeigt ein Blick auf die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts und auf den betreffenden Paragraphen im Strafgesetzbuch: Es sind eugenische Vorstellungen, die das Inzestverbot begründen.
In den Medien stand der konkrete Fall einer geschwisterlichen Beziehung im Mittelpunkt. Um den Voyeurismus, der die Berichterstattung nicht selten kennzeichnete, nicht zu wiederholen, soll der Fall hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Es genügt, die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts Revue passieren zu lassen, um die Problematik der Gesetzgebung und ihrer historischen Kontinuitäten in der Bundesrepublik zu erschließen und die aktuelle Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichts (EGMR) zu bewerten.1
Nebulöse Historie
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte im Jahr 2008 die Verfassungsbeschwerde des wegen Inzest verurteilten Mannes zurückgewiesen und diese Entscheidung einleitend mit einer „kulturgeschichtlich überlieferten und international weit verbreiteten Verbotsnorm“ begründet. Die „Wurzeln des Inzestverbots“ reichten schließlich bis zum mosaischen, islamischen, griechischen, römischen und - ja - auch ins „germanische Recht“ zurück.2 Der Vorsitzende Richter Hassemer, der eine von der Senatsmehrheit abweichende Meinung vortrug, kritisierte diese Argumentation als „nebulös kulturhistorisch“.3 Weiter erinnern die VerfassungsrichterInnen in ihrer Begründung an das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das den Paragrafen 173 zum Tatbestand der „Blutschande“ einführte. Den Begriff lassen die RichterInnen ebenso unkommentiert, wie sie ohne Anführungszeichen von „sittlichen Anschauungen des Volkes“ sprechen, die im Reichsstrafgesetzbuch das Inzestverbot begründet hätten. Darüber hinaus erläutert das Gericht auch, dass die Reformen während des Nationalsozialismus den Geltungsbereich des Inzestverbotes reduzierten und die Strafbarkeit für den Fall der Verschwägerung abschafften; hier hätten „eugenische Gründe im Vordergrund” gestanden.4 Es folgt ein Rückblick auf die Argumentationen der Bundesregierung, die 1973 zwar den Paragraphen 173 reformierte und den „Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie zuordnete“, das Inzestverbot für Geschwister aber beibehielt. Schon damals war es - so gesteht das Gericht ein - „insbesondere der Gesichtspunkt genetischer Schäden“, mit dem die Aufrechterhaltung der Strafbarkeit des Geschwisterinzests gerechtfertigt wurde.5 In der eigenen Begründung, warum der Paragraf mit dem Grundgesetz vereinbar sei und der Staat hier in die individuelle Privatsphäre eingreifen dürfe, nennt das Bundesverfassungsgericht zunächst „familien- und sozialschädliche Wirkungen des Geschwisterinzests“. Es bezieht sich dabei auf ein von ihm beim Max-Planck-Institut in Auftrag gegebenes Gutachten. Die GutachterInnen bezeichneten zwar selbst die empirischen Studien, auf die sie sich beziehen, als „nicht repräsentativ“, und auch die VerfassungsrichterInnen erläutern, dass die in diesem Gutachten erwähnten negativen „Auswirkungen“ des Geschwisterinzests schwer von anderen Einflüssen zu isolieren und daher nicht ohne weiteres greifbar seien. Das hindert sie jedoch nicht daran, eine lange Negativliste zu präsentieren. Folgen des Geschwisterinzests, so das Gericht, seien „ein vermindertes Selbstbewusstsein, funktionelle Sexualstörungen im Erwachsenenalter, eine gehemmte Individuation, Defizite in der psychosexuellen Identitätsfindung und der Beziehungsfähigkeit, Schwierigkeiten, eine intime Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, Versagen im Arbeitsumfeld, eine generelle Unzufriedenheit mit dem Leben, starke Schuldgefühle, belastende Erinnerungen an die Inzesterfahrung, Depression, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Selbstverletzung, Essstörungen, Suizidgedanken, sexuelle Promiskuität und posttraumatische Erlebnisse sowie indirekte Schäden, auch für dritte Familienmitglieder, zum Beispiel durch Ausgrenzung oder soziale Isolation“.6
Eugenik in der Begründung des Gerichtes...
Auch wenn hier ein Beziehungsmuster, das die „soziale und familiäre Ordnung“ angeblich stört, erheblich pathologisiert wird, relativiert und hinterfragt das Gericht - wie oben beschrieben - gleichzeitig selbst die empirischen Grundlagen dieser Aussagen. Dass die VerfassungsrichterInnen nichtsdestotrotz am Inzestverbot festhalten, macht deutlich, dass sie das Hauptgewicht auf eugenische Argumente legen: Der Gesetzgeber sei „davon ausgegangen“, so das Gericht in seiner Begründung, „dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne”. Gegen die Kritik, auch dieser Behauptung ermangele es an empirischer Validität, führen die RichterInnen wiederum das Gutachten des Max-Planck-Instituts ins Feld, das einzelne humangenetische Studien als positiven Beleg für „Erbschäden“ bei Kindern von Geschwistern heranzieht. Vor diesem Hintergrund, so das Verfassungsgericht weiter, „kann das strafbewehrte Inzestverbot auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als irrational angesehen werden”. Dass sie „historisch für die Entrechtung von Menschen mit Erbkrankheiten und Behinderungen missbraucht worden” sind, schließe solche Rechtfertigungsgründe für das Inzestverbot nicht automatisch aus.7 Die VerfassungsrichterInnen folgen damit auch dem Generalbundesstaatsanwalt. In seiner vom Gericht erbetenen Stellungnahme habe er „dem Schutz der Volksgesundheit ein legitimierendes Gewicht“ zugesprochen. Solange die Folgen von Geschwisterinzest „wissenschaftlich nicht abschließend geklärt seien“, so sein Argument, „könne es dem Gesetzgeber nicht verwehrt werden, sich des Strafrechts zu bedienen, um diese Rechtsgüter zu schützen“. Und auch der vom Verfassungsgericht um Stellungnahme gebetene Verein M.E.L.I.N.A. Inzestkinder/Menschen aus VerGEWALTigung e.V. habe auf wissenschaftliche Untersuchungen hingewiesen, „in denen signifikante Erhöhungen der Mortalitätsrate und der Rate körperlicher Missbildungen bei Kindern aus Inzestbeziehungen gegenüber Kindern aus einer Vergleichsgruppe festgestellt wurden“.8
...wie auch im Strafrecht selbst
In seiner Argumentation kann das Verfassungsgericht sich zudem auf die strafrechtliche Sanktionierung von Inzest stützen. Schon ein kurzer Blick auf den im Nationalsozialismus reformierten und bis heute gültigen Paragraphen 173 macht die Unterordnung des Rechtsguts „Schutz von Ehe und Familie“ unter eugenische Begründungen deutlich: Der „Beischlaf zwischen Verwandten“ wird im Strafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren versehen. In Absatz 2, Satz 2 des Paragraphen heißt es außerdem: „Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.“ Die Strafbarkeit auf Beziehungen zwischen leiblichen Verwandten zu beschränken war Gegenstand der nationalsozialistischen Reform des Paragraphen, die eugenische Zielsetzungen in den Mittelpunkt des Verbotes rückte. Dass mit dem Paragraphen 173 der Schutz der Familie auch heute noch auf einem biologisch-genetischen Konzept basiert, zeigt, dass eugenische Aspekte nach wie vor die Essenz des Inzestverbotes ausmachen: Da der Beischlaf zwischen Geschwistern aus Patch-Work- oder Adoptivfamilien ausdrücklich straffrei bleibt, geht es beim Inzestverbot eindeutig nicht um einen allgemeinen „Schutz“ vor innerfamiliärer Sexualität. Zudem ist nur der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern strafbar; andere sexuelle Handlungen oder Beziehungen werden nicht bestraft. Warum aber sollte allein der Beischlaf eine solch „familien- und sozialschädliche“ Kraft entfalten, andere Sexual-Handlungen aber nicht? Kurzum: Eugenische Gründe sind nicht nur - wie die VerfassungsrichterInnen meinen - ein „ergänzendes“ Argument des Gesetzgebers für das Inzestverbot zwischen Geschwistern. Sie bilden den Kern der Gesetzeslogik und sind auch für die Begründung der VerfassungsrichterInnen zentral. Dabei bezieht sich das Gericht nicht allein auf die „Volksgesundheit“, sondern auch auf die Situation des sogenannten „Inzestkindes“ - und rückt damit gänzlich ins Absurde. „Der Gedanke eines strafrechtlichen Schutzes potentieller Nachkommen vor genetischen Schäden”, so Richter Hassemer in seiner Kritik des Mehrheitsbeschlusses, setze „die absurde Abwägung des mutmaßlichen Interesses potentiell gezeugten Nachwuchses an einem Leben mit genetischen Defekten einerseits mit einem mutmaßlichen Interesse an der eigenen Nichtexistenz andererseits voraus.“9
„Lebendige Kräfte“
Der EMGR hat diese Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes nun bestätigt. Für das deutsche Gericht galt das Inzestverbot als „kulturhistorisch“ belegt: Was schon immer so war, muss auch so bleiben. Beim EMGR heißt es nun abgewandelt: Was an vielen Orten gilt, muss richtig sein. Das Inzestverbot gelte in vielen europäischen Ländern und könne deswegen Gültigkeit beanspruchen. Es gebe in Europa eben eine Vielfalt moralischer und ethischer Argumente, die eine Bandbreite verschiedener Gesetzgebungen rechtfertige. Aufhorchen lässt vor allem dieser Satz: „Aufgrund des direkten und kontinuierlichen Kontaktes mit den lebendigen Kräften ihres Landes“ könnten die Nationalstaaten besser eine Meinung über den „exakten Inhalt moralischer Erfordernisse“ in ihrem Land entwickeln.10 Welche „lebendigen Kräfte“ da wohl gemeint sind?
- 1Das Urteil des EGMR vom 12.4.2012 auf Englisch: http://kurzlink.de/ GID_212_b. Außerdem gibt es unter www.egmr.org eine deutschsprachige Pressemitteilung, die den Beschluss und seine Gründe darlegt.
- 2Vgl. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 392/07 vom 26.2.2008, http://kurzlink.de/GID_212_a, laufende Absatznummer 3.
- 3Vgl. Abweichende Meinung des Richters Hassemer zum Beschluss des Zweiten Senats vom 26. Februar 2008, http://kurzlink.de/GID_212_a, lfd. Absatznr. 81.
- 4Vgl. für alle Zitate dieses Absatzes Bundesverfassungsgericht, a.a.O., lfd. Absatznr. 4 und 5.
- 5Vgl. Bundesverfassungsgericht, a.a.O., lfd. Absatznr.10.
- 6Vgl. Bundesverfassungsgericht, a.a.O., lfd. Absatznr. 44.
- 7Alle Zitate in diesem Absatz in Bundesverfassungsgericht, a.a.O., lfd. Absatznr. 49.
- 8Zitiert aus Bundesverfassungsgericht, a.a.O., lfd. Absatznr. 27 (Generalbundesanwalt) und 28 (Melina e.V.). Unkommentiert lässt das Gericht, dass ein eugenisches Verbot der Fortpflanzung auch für andere Gruppen nicht existiert, denen ein erhöhtes Risiko der Weitergabe genetischer „Schäden“ an ihre Nachkommen prognostiziert wird. Lediglich Richter Hassemer macht deutlich, dass die „Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte (...) von vornherein kein verfassungsrechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm“ sein kann. Vgl. Abweichende Meinung, a.a.O., lfd. Absatznr. 82.
- 9Ebda., lfd. Absatznr. 83.
- 10Übersetzung der Autorinnen. Original: „By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, the State authorities are, in principle, in a better position than the international court to give an opinion, not only on the 'exact content of the requirements of morals' in their country, but also on the necessity of a restriction intended to meet them (...).“ Vgl. Urteil des EGMR, a.a.O., Absatz 60.
Jenny Jung studiert Politische Theorie in Frankfurt/Main.
Dr. Susanne Schultz ist Soziologin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Sie forscht zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen rund um Reproduktion, Humangenetik und Bevölkerungspolitik.