„Der Wucht der Stigmatisierungen widerstehen“

Redebeitrag auf der Mad & Disability Pride Parade

Theresia Degener ist eine der Veteran_innen der deutschen Krüppel- und Behindertenbewegung und heute Professorin für Recht und Disability Studies. Außerdem arbeitet sie im Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit. Wir dokumentieren hier leicht gekürzt ihren Redebeitrag auf der Mad & Disability Pride Parade.

Liebe Freunde und Freundinnen, liebe Freaks, liebe Krüppel und Verrückte, liebe Lahme, liebe Eigensinnige, Blinde, Kranke und Normalgestörte! Liebe alle, die ihr hier auf der ersten deutschen Mad & Disability Pride Parade versammelt seid. (...) Es ist für mich eine große Ehre auf der Bühne zu stehen und ein paar Worte sprechen zu dürfen. Gleich zu Anfang möchte ich dem Parade-Bündnis (...) danken für die großartige Idee eine Mad & Disability Pride Parade in Deutschland zu organisieren. Und der Tag wurde gut gewählt: Fast auf den Tag genau vor 80 Jahren, am 14. Juli 1933, verabschiedeten die Nazis das Erbgesundheitsgesetz! Eigentlich ist es unvorstellbar, dass es bislang in Deutschland keine Mad & Disability Pride Parade gegeben hat. Das Vorbild, die Disability Pride Parade in Chicago, feiert nächste Woche schon ihren zehnten Geburtstag. Mittlerweile gibt es Disability Pride Parades in vielen Städten, nicht nur in den USA, sondern auch in Norwegen, Südkorea oder Großbritannien. Aber in Deutschland hat es so eine Parade noch nie gegeben, obwohl die radikale deutsche Behindertenbewegung schon über 30 Jahre alt ist. Als eines der historischen Meilensteine gilt ja das Krüppel-Tribunal von 1981, das wir damals als Protestaktion gegen das UNO-Jahr der Behinderten in Deutschland organisierten. Wir haben damals Menschenrechtsverletzungen an Behinderten durch den Staat und die großen Wohlfahrtsverbände angeklagt. Wir haben an konkreten Fällen aufgezeigt, dass Psychiatriepatient_innen misshandelt, zwangssterilisiert und erniedrigend behandelt, dass behinderte Frauen innerhalb und außerhalb von Behinderteneinrichtungen vergewaltigt, dass Behinderte durch Barrieren im öffentlichen Nah- und Fernverkehr diskriminiert werden und vieles mehr. Für mich waren das Krüppel-Tribunal 1981 und unsere anderen Proteste in diesem Jahr eine große Offenbarung. Ich hatte gerade mein Jurastudium aufgenommen und als einzige offensichtlich Behinderte unter 300 Studierenden sehr schnell zu spüren bekommen, dass ich dort an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt nicht vorgesehen war. Professoren waren irritiert und Kommiliton_innen verunsichert. Das Studium der Rechtswissenschaften war ein Kurs in „Diskriminierung aushalten", und ich habe diesen Kurs bestanden, weil ich mich bereits in einer Regelschule bewährt hatte. Ich wusste, wie man in der Nichtbehindertenkultur überlebt. Die Vorbereitungen für das Krüppel-Tribunal 1981 haben mich mit Streitgenoss_innen der Krüppelszene zusammengebracht. Ich traf Behinderte, die so wütend waren wie ich. Behinderte, die die Nase voll hatten von der ewigen Anpassung an den Terror der Normalität; Behinderte, die sich provokativ Krüppel nannten und die Rolle des Musterkrüppelchens, das dankbar, lieb, doof und leicht zu verwalten ist, ablehnten. Diese Zeit damals war eine wichtige Zeit der Identitätsfindung, als politische Behinderte, als Feministin, als Linke. Sie prägt mich und meine Identität auch heute noch, als über 50jährige Professorin, die nicht mehr gegen die UNO, sondern mit der UNO arbeitet, und die gewiss nicht mehr ganz so häufig schrille Töne von sich gibt. Was ich aber schon damals in der Krüppelszene vermisst habe: (...) Wir haben viel und auch oft erfolgreich protestiert, aber wir haben zu wenig gefeiert. Umso erfreulicher ist es nun hier auf der ersten Mad & Disability Pride Parade in Berlin zu stehen und mit euch und Ihnen zu feiern. Disability Pride Parades haben drei wunderbare Ziele: Erstens soll Behinderung neu und anders gedacht werden. Vom medizinischen Modell, nachdem wir Behinderte vor allem als medizinische Probleme, therapeutische Herausforderungen, leidende Wesen und Rehabilitationsobjekte gelten, gilt es Abschied zu nehmen. Stattdessen wollen wir das Menschenrechtsmodell von Behinderung in den Köpfen der Menschen verankern. Danach sind wir vor allem und zuerst Menschen, die eine unantastbare Würde und unveräußerliche Menschenrechte haben. Erst die Verweigerung dieser Menschenrechte macht unsere gesundheitlichen Abweichungen zu einem Problem, macht uns zu Anderen, zu den so genannten Auch-Menschen. Erst die Verweigerung von Menschenrechten macht uns Behinderte zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Es ist höchste Zeit, die Verschleierung und Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen an Behinderten durch das medizinische Modell zu enttarnen. Sondereinrichtungen für Behinderte sind keine Schonräume sondern Apartheid. Mitleid mit Behinderten ist keine Tugend, sondern Dominanzverhalten. Zwangsbehandlung ist keine Therapie sondern Traumatisierung. Zweitens sollen Pride Parades uns Behinderten helfen, unsere eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu verlieren. Indem wir uns auf der Straße in einer Parade zeigen und gemeinsam tanzen, wollen wir unsere verinnerlichte Scham über unser Anderssein, über unsere Beeinträchtigungen, über unsere Schräg- und Verrücktheiten öffentlich ablegen. Aus der Diskriminierungsforschung wissen wir, dass Unterdrückung dort am besten funktioniert, wo die Unterdrückten die Ideologie der Unterdrücker verinnerlicht haben. Diejenigen, die sich selbst als minderwertig sehen, empfinden keine Verletzung, wenn ihre Würde getreten wird. Diejenigen, die sich selbst als Problem sehen, fordern keine Rechte ein, wenn sie verletzt werden. Diejenigen, die ihr Anderssein als Schicksal bedauern, fügen sich in die Ungerechtigkeit. Disability & Mad Pride brauchen wir Behinderten und Verrückten tagtäglich, um der Wucht der Stigmatisierungen, der Gewalt der Entwürdigung, der Heftigkeit der Diskriminierungen zu widerstehen. Behindertenstolz brauchen wir ganz besonders in unserer deutschen Kultur. Eine deutsche Kultur, die noch vor siebzig Jahren Menschen, denen eine Behinderung zugeschrieben wurde, massenhaft und industrialisiert zwangssterilisiert und ermordet hat. Aus der Euthanasieforschung wissen wir, dass die Mehrheit der Bevölkerung und sogar die Mehrheit der Familienangehörigen die T-4-Morde an Behinderten stillschweigend gebilligt haben. Die Politik des Heilens oder Vernichtens wurde in Deutschland nicht mit dem Nationalsozialismus beendet. Viele der NS-Täter und Täterinnen konnten insbesondere in Westdeutschland in der Medizin und in der Behindertenhilfe munter weitermachen. Eine klare Zäsur hat es nie gegeben. Ich gehöre zu den so genannten Contergangeschädigten, die Anfang der 1960er Jahre geboren wurden, gerade einmal 15 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Warum von den über 10.000 contergangeschädigten Neugeborenen nur ein Viertel überlebte, wurde niemals genau erforscht. Die meisten von uns Überlebenden hörten aber von unseren Eltern, dass ihnen damals direkt nach der Geburt unsere Tötung als Lösung angeboten wurde. Wir leben in einer deutschen Kultur, in der die Geburt eines behinderten Kindes immer noch und schon wieder als Schande gilt. Es ist kaum verwunderlich, dass die Mehrheit der Schwangeren in Deutschland sich selbstverständlich für eine Abtreibung aufgrund einer möglichen Schädigung des Embryos entscheidet. Es ist kaum verwunderlich, dass in Deutschland immer wieder über Euthanasie als Rettung für die Menschenwürde von schwerbehinderten Neugeborenen und dementen Alten diskutiert wird. Eine deutsche Kultur, die auf Behinderung immer wieder nur als Antwort „Heilen oder Vernichten“ kennt, hinterlässt Spuren in jedem und jeder einzelnen Behinderten. Aber so wie wir gelernt haben, uns als minderwertig zu fühlen und uns für unsere Andersartigkeit zu schämen, so können wir das Erlernte auch wieder verlernen. Die Mad & Disability Pride Parade ist eine großartige Gelegenheit dazu. Wir sind hier, weil wir stolz sind auf uns und weil wir es wert sind, gesehen zu werden. Wir sind hier, weil wir uns wertschätzen und den Respekt vor unserer Würde einfordern. Wir sind hier, weil wir mutig sind und laut. Das ist dann auch zugleich das dritte Ziel von Disability Pride Parades (...) - unsere Andersartigkeit zu zelebrieren. So wie es in Artikel 3 der Behindertenrechtskonvention heißt, feiern wir uns heute als Teil der menschlichen Vielfalt. Wir sind heute auch auf der Straße, weil wir viel zu bieten haben: Wir sind behindert und verrückt, wir sind aber auch lesbisch, bi oder straight, wir sind alt und jung, wir sind weiß oder people of color, wir sind Migrant_innen und Nichteinwander_innen, wir sind Frauen, Männer und Intersexuelle und Transgender, wir sind vor allem hier und heute bunt und frech. Es ist an der Zeit, dass wir uns feiern, es ist an der Zeit, dass Behinderte auch in Deutschland es wagen, frech und stolz zu sein, dass wir unsere Andersartigkeit zelebrieren, Behinderung als Lebensstil wertschätzen, den Respekt vor unserer Würde einfordern. Das sind unsere Bedingungen für Inklusion, denn wir sind nicht mehr bereit, uns dem Terror der Normalität zu beugen!

Erschienen in
GID-Ausgabe
219
vom September 2013
Seite 41 - 43

Dokumentation

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