Entscheidungsfalle für alle
Pränataldiagnostik via Bluttest
Noch in diesem Jahr soll in der Bundesrepublik ein Bluttest für werdende Mütter auf den Markt kommen, mit dem in der zehnten Schwangerschaftswoche festgestellt werden kann, ob beim Ungeborenen eine Trisomie 21 vorliegt. Ein minimaler Eingriff, ein früher Zeitpunkt und eine hohe Aussagesicherheit - Pränataldiagnostik für alle.
Katrin Scholl ist ratlos. Sie müsse sich entscheiden, so hat ihr Frauenarzt eben erklärt, ob sie einen Bluttest auf Chromosomenveränderungen machen lassen will oder nicht. Der würde heutzutage allen Frauen angeboten. Sie müsse auch wissen, dass mit 36 Jahren ihr Risiko erhöht sei, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Wenn sie das beunruhigen würde, dann könnte sie durch den Test „Sicherheit gewinnen“. Ein Eingriffsrisiko brächte der Test nicht mit sich, ihr würde lediglich etwas Blut abgenommen. Die Entscheidung müsse sie aber selbst treffen, hatte der Arzt mehrfach betont. Er könne nur sagen, was sie tun kann, und nicht, was sie tun soll.
Katrin Scholl überlegt nicht lange. Sie überwindet ihr Unbehagen im Bauch und willigt ein. Es scheint ihr unvernünftig, das ärztliche Angebot auszuschlagen. Ihre Reaktion ist verständlich. Wahrscheinlich würden die meisten Frauen so handeln. Was spricht gegen einen Test, der - anders als die Fruchtwasseruntersuchung - nur einen kleinen Pieks in die Armbeuge erfordert? Der sicher feststellen kann, ob das Kind „chromosomal gesund“ ist, wie der Arzt sich ausdrückt? Wie stünde Katrin Scholl da, wenn sie das Angebot eines solchen Tests ausschlüge, und ihr Kind nachher behindert wäre?
Noch ist die Situation von Katrin Scholl fiktiv. Schwangere müssen heute über Ersttrimestertest und Fruchtwasseruntersuchung entscheiden, aber nicht über einen Bluttest, der - mit hoher Sicherheit und ohne Eingriffsrisiko - eine Trisomie 21 feststellen kann. Das könnte sich jedoch bald ändern: Die ersten klinischen Studien für einen solchen Test laufen, und ein deutsches Unternehmen plant, ihn noch in diesem Jahr auf den Markt zu bringen.
Eine erste Fassung dieses Artikels erschien unter dem Titel: „Bluttest auf Down-Syndrom. Nur ein kleiner Pieks?“ im Juli 2011 in der Deutschen Hebammenzeitschrift.
Ein neuer Markt
Seit Ende der 1990er Jahre arbeiten Forscher fieberhaft daran, einen Bluttest auf Down-Syndrom zu entwickeln. Im Blut von Schwangeren befinden sich DNA-Fragmente des Ungeborenen, die angereichert und auf genetische Normabweichungen überprüft werden können. Das technische Verfahren ist aufwändig. Die Menge der kindlichen DNA im Blut der Mutter ist gering und es bereitet Schwierigkeiten, sie eindeutig von der mütterlichen DNA zu unterscheiden. In den vergangenen Monaten häuften sich jedoch die Erfolgsmeldungen: Eine zypriotische Forschergruppe entwickelte ein Verfahren, mit dem sie bei 80 Schwangeren in der 12. und 15. Woche alle 34 Fälle von Trisomie 21 nachweisen konnte. Sensitivität und Spezifität des Tests lagen also bei 100 Prozent, und die Methode ist angeblich so einfach, dass sie in jedem Labor durchgeführt werden könnte.1 Die anderen Erfolgsmeldungen kamen aus Honkong: Eine Forschergruppe veröffentlichte im Dezember 2010 einen Artikel, in dem sie die Sequenzierung von 94 Prozent des fetalen Genoms aus dem mütterlichen Blut beschreibt.2 Zwei Monate später berichtete die gleiche Forschergruppe, dass sie mit Hilfe von neuen Sequenziermethoden und des Einsatzes von Bioinformatik aus den Blutproben von 232 Schwangeren alle 86 Fälle von Trisomie 21 nachgewiesen hatte.3 Allerdings ergab der Test dreimal ein falsch-positives Ergebnis. Das bedeutet, das Verfahren könnte das Down-Syndrom zwar sicher ausschließen, aber nicht sicher nachweisen. Ein positiver Befund müsste anschließend durch eine Fruchtwasseruntersuchung überprüft werden. Die Konstanzer Firma Life Codexx hat diese Methode inzwischen weiterentwickelt (siehe Kasten). Eine Pilotstudie mit dem Ziel, die Spezifität auf 99 Prozent zu erhöhen und die Test-Kosten von derzeit über 1000 Euro pro Probe zu reduzieren, wurde laut Internetseite des Unternehmens „erfolgreich“ abgeschlossen. Seit Juni führt Life Codexx eine klinische Validierungsstudie durch, in der das Verfahren an Blutproben von 500 schwangeren Frauen getestet werden soll. Ende 2011 soll der Test auf den Markt gebracht werden. Genetiker bejubelten den Bluttest bereits als „Heiligen Gral der Pränataldiagnostik”, der alle anderen Tests „wegblasen” könnte.4 Tatsächlich würde ein Bluttest die medizinische Schwangerenbetreuung grundlegend verändern. Eine Trisomie 21 - und in Bälde wohl auch andere genetische Veränderungen - könnten nach einer einfachen Blutabnahme ausfindig gemacht werden und zwar schon in der zehnten Woche. Da kein Eingriffsrisiko besteht, würde der Bluttest allen Schwangeren angeboten, unabhängig von Alter und Risikostatus. Kein Wunder, dass daran so fieberhaft geforscht wird: Der Bluttest hat, wie es die Autoren der zypriotischen Studie formulieren, ein enormes „kommerzielles und medizinisches Potenzial“.Alle Frauen im Test
Silke Anders (Name geändert) siebenjährige Tochter Sarah hat Down-Syndrom. Sie musste darum kämpften, dass Sarah mit ihren Freundinnen im Dorf zur Schule gehen kann und nicht ausgesondert wird. Der Kampf hat sich jedoch gelohnt. Sarah lernt gerade lesen, und ihre Mutter ist sichtlich stolz auf sie. Silke Anders erzählt auch, wie froh sie ist, dass es Sarah gibt. Der Ersttrimestertest hatte ihr während der Schwangerschaft ein niedriges Risiko für Down-Syndrom bescheinigt. Silke Anders war daher sehr überrascht, als Sarah zur Welt kam. Heute ist sie glücklich und dankbar, dass der Test ihr Kind „übersehen“ hat. Überraschungen wie Sarah sind zwar nicht mehr häufig, kommen aber trotz Pränataldiagnostik immer mal wieder vor. Noch hat das vorgeburtliche Kontrollnetz Schlupflöcher. Ob das ungeborene Kind einen normgerechten Chromosomensatz aufweist oder nicht, können derzeit nur Fruchtwasseruntersuchung oder Chorionzottenbiopsie sicher feststellen. Sie werden jedoch nicht allen Frauen angeboten, da sie ein Fehlgeburtsrisiko von 0,5 beziehungsweise einem Prozent mit sich bringen. Ließen alle Frauen eine Fruchtwasseruntersuchung machen, so die Kosten-Nutzen-Analyse, dann würden mehr „gesunde“ Kinder um ihr Leben gebracht als Kinder mit Trisomien entdeckt. Daher siebt die Medizin potenzielle Testkandidatinnen nach statistischen Kriterien aus: diejenigen, die als Kohorte eine Entdeckungsrate aufweisen, die die Fehlgeburtsrate übersteigt. Lange Zeit waren das Schwangere ab 35 Jahren. Weil aber auch jüngere Frauen Kinder mit Down-Syndrom zur Welt bringen, entwickelten Forscher Siebtests ohne Eingriffsrisiko, wie den Triple-Test und später den erfolgreicheren Ersttrimestertest. Anhand von Blutwerten und Ultraschallbefunden stuft der Ersttrimestertest Schwangere in Risikopopulationen ein. Was mit dem Kind ist, bleibt dabei offen. Aber der Ersttrimestertest macht die Pränataldiagnostik effizienter: Aus der Gesamtheit aller Schwangeren sortiert er diejenigen aus, bei denen sich die Fruchtwasseruntersuchung statistisch gesehen lohnt. So werden mit dem Test mehr Kinder mit Down-Syndrom aufgespürt und ausgesondert. Trotzdem behält das vorgeburtliche Kontrollnetz Schlupflöcher. Wie das Beispiel von Silke Anders zeigt, gibt es weiterhin Kinder, die eine Überraschung sind. Der Bluttest auf Down-Syndrom würde mit solchen Überraschungen endgültig Schluss machen. Ohne Eingriffsrisiko gäbe es aus medizinischer Sicht keinen Grund mehr, die Testpopulation zu begrenzen. Der Test würde nicht nur der 36-jährigen Katrin Scholl angeboten, sondern auch der 27-jährigen Silke Anders. Ihre Tochter Sarah wäre dann wahrscheinlich nicht auf die Welt gekommen. Die Schlupflöcher für Kinder mit Down-Syndrom wären gestopft.Die Falle der „informierten Entscheidung“
Natürlich soll keine Frau zum Bluttest gezwungen werden. Mediziner, Ethiker und Genetiker pochen auf die „informierte“ und „selbstbestimmte Entscheidung“ der Schwangeren. Dass diese „selbstbestimmte Entscheidung“ jedoch in eine Entscheidungsfalle führt, zeigt bereits der heutige Alltag der Pränataldiagnostik.5 Die viel beschworene Wahlfreiheit ist in der Praxis gering. Viele Schwangere haben das Gefühl, etwas entscheiden zu müssen, was schon entschieden ist. Und haben sie sich erst einmal auf einen Test eingelassen, ist alles Weitere vorprogrammiert. Gibt der Befund nicht das erhoffte „grüne Licht“, dann stecken Frauen in einer Mühle, an deren Ende meist der Schwangerschaftsabbruch steht. Mit einem Kind schwanger zu gehen, dass bereits im Mutterleib erfasst, vermessen, bewertet und verurteilt wurde, ist kaum auszuhalten. Weit über 90 Prozent der Schwangeren brechen nach dem Befund „Trisomie 21“ die Schwangerschaft ab. Die größte Falle ist jedoch nicht die mangelnde Wahlfreiheit, sondern die geforderte Entscheidung selbst: Die Tatsache, dass eine werdende Mutter eine informierte, rationale Entscheidung treffen soll, mit der sie das Kommen ihres Kindes in Frage stellt. Bevor sie überhaupt richtig schwanger geht, wird sie über Behinderungen, Risiken und entsprechende Testangebote aufgeklärt und muss wählen: Test oder kein Test? Abbrechen oder Fortführen? Dieser Zwang, eine „informierte Entscheidung“ über die Schwangerschaft treffen zu müssen, hat das Mutterwerden bereits heute grundlegend verändert. Ein Kind ohne Wenn und Aber auf die Welt zu bringen, wie es für vorige Generationen noch selbstverständlich war, ist heute kaum mehr möglich. Risikoaufklärung und Testangebote deuten das bedingungslose „Ja“ zum Kind in die bewusste Wahl eines Risikos um. Auch wenn sie einfach nur schwanger sein und sich auf ihr Kind freuen will, muss sich die werdende Mutter ausdrücklich und informiert dafür entscheiden. Das Kommen eines Kindes wird zur risikobehafteten Option, die die werdende Mutter bewusst wählen muss - und für deren Folgen sie anschließend verantwortlich gemacht werden kann. Der Bluttest auf Down-Syndrom würde ausnahmslos alle Frauen in diese Entscheidungsfalle führen. Alle werdenden Mütter müssten abwägen, ob sie das Risiko eingehen wollen, ihr Kind einfach so auf die Welt zu bringen, oder ob sie sein Kommen lieber vom Ergebnis des Bluttests abhängig machen. Und Frauen, die keine „Schwangerschaft auf Probe“ wollen, kämen stark unter Druck. Wer einen einfachen Pieks gegen Ende des dritten Monats ablehnt, muss gewichtige Gründe dafür haben. In der Logik der „informierten Entscheidung“ wäre ein „Nein“ zum Bluttest gleichbedeutend mit einem „Ja“ zum Risiko, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Wäre das Kind nachher tatsächlich behindert, so müsste die Mutter die Schuld bei sich suchen. Denn sie hatte die Wahl. Nicht das Schicksal hätte ihr ein behindertes Kind beschert, sondern ihre eigene „informierte Entscheidung“. Und wer sich bewusst entschieden hat, muss auch die Folgen tragen.Das produzierte Kind
Bisher wird kaum diskutiert, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Mütter nicht mehr schwanger gehen und gebären, sondern anhand von Testbefunden über das Kommen ihres Kindes entscheiden. Folgt man der Philosophin Hannah Arendt (1906-1975), sind diese Folgen fatal: Jeder Geburt wohnt ein Neuanfang inne, so Arendt, und dieser absolute Neuanfang ist für sie Sinnbild und Grundlage menschlicher Handlungsfähigkeit. „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“. Dieser Neuanfang ist nicht plan- oder berechenbar, Menschen stehen immer wieder staunend davor: „Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen (...) immer wie ein Wunder an“.6 Bereits heute bedrohen Risikoberechnungen, Testbefunde und Entscheidungszwänge den Sinn für dieses Wunder der Geburt. Der Bluttest würde ihn endgültig zerstören.Eine erste Fassung dieses Artikels erschien unter dem Titel: „Bluttest auf Down-Syndrom. Nur ein kleiner Pieks?“ im Juli 2011 in der Deutschen Hebammenzeitschrift.
- 1Papageorgiou, E. A. et al. (2011): Fetal-specific DNA methylation ratio permits noninvasive prenatal diagnosis of trisomy 21. Nature Medicine 17 (4): 510-513.
- 2Lo, Y. M. Dennis et al. (2010): Maternal plasma DNA sequencing reveals the genome-wide genetic and mutational profile of the fetus. Science Translational Medicine 2 (61): 61ra91.
- 3Chiu, R. W. K. et al. (2011): Non-invasive prenatal assessment of trisomy 21 by multiplexed maternal plasma DNA sequencing: large scale validity study. British Medical Journal.342: c7401.
- 4Down-Syndrom: Erschwingliches Screening durch Bluttest. In: Deutsches Ärzteblatt, 7. März 2011.
- 5Samerski, S. (2010): Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, Darmstadt: WBG.
- 6Arendt, H. (2002): Vita activa oder vom tätigen Leben, München: Piper, S.215-217.
GID Meta
Erschienen in
vom
Oktober 2011
GID-Ausgabe
208
Silja Samerski ist Biologin und Soziologin und arbeitet an der Universität Oldenburg. Mehr von ihr findet sich unter www.samerski.de.
Ethik in Zeiten der Machbarkeit
Unterstützung bei der Testentwicklung erhielt das Konstanzer Unternehmen Lifecodexx vom Bundesforschungsministerium. Dass das Projekt mit 230.000 Euro staatlich gefördert wurde, hält der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU) für „nicht hinnehmbar“. Es handle sich bei dem Test um „Rasterfahndung mit dem einzigen Ziel, Menschen mit Behinderung auszusortieren und zu töten". Erwartungsgemäß wies das Ministerium die Kritik zurück: Es sei „ethisch unvertretbar, die Weiterentwicklung einer in Deutschland angewandten Untersuchungsmethode nicht fördern zu wollen, die das ungeborene Leben und die werdende Mutter besser schützen könnte“, so der Parlamentarische Staatssekretär im Forschungsministerium, Thomas Rachel (ebenfalls CDU).Quellen: FAZ, 29.08.11; die tageszeitung, 02.09.11
(uw)