Rezension: Das Subjekt der Euthanasie

Euthanasie? Das ist doch diese schreckliche und menschenverachtende Variante der Bevölkerungspolitik, die schließlich im Nationalsozialismus zur radikalen Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens in Krankenhäusern, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen führte. Und was hat das mit Sterbehilfe zu tun? Dem Wunsch von Menschen nachzukommen, die sterben wollen, bevor ihnen die Apparatemedizin das Leben künstlich verlängert, hat doch keinen bevölkerungspolitischen Hintergrund, ist doch nicht von staatlichen Programmen angeleitet und folgt doch nur dem freien, autonomen Willen des Einzelnen. Wie nah sich diese beiden Vorstellungen von Leben sind, verdeutlicht Christoph Schneider in seinem Buch „Das Subjekt der Euthanasie". Er greift dabei zum einen die kritischen Debatten der Krüppelbewegung und des Feminismus der 1980er Jahre über die Renaissance von Definitionsversuchen „lebensunwerten" Lebens durch humangenetische Beratung, Gen- und Reproduktionstechnologien sowie Sterbehilfe wieder auf und aktualisiert sie zugleich angesichts der Privatisierung sozialer Risiken und des instrumentellen Zugriffs auf den vermeintlich freien Willen des Einzelnen. Schneider prägt den Begriff der modernen Euthanasie. Er beobachtet in der von ihm untersuchten Literatur, dass sich „einflussreiche Diskurse des frühen 20. Jahrhunderts, historische Umbrüche, die NS-Vernichtungspolitik, der Versuch ihrer Bewältigung und das heute dominante liberale Subjektverständnis kreuzen“. Von den Anfängen der so genannten Sozialhygiene zu Beginn des letzten Jahrhunderts über die Massenmordpraxis im Nationalsozialismus bis zu den heutigen Vorstellungen vom „guten“ Leben ohne Behinderung, Krankheit und Abhängigkeit spürt Schneider der Energie und Emphase nach, die in diesem Diskurs liegt. Seine Kritik an der gängigen Definition der NS-„Euthanasie“ - dass sie mit dem, was historisch davor und danach passiert ist, nichts zu tun habe - zielt darauf ab, sich die Begründung genauer anzuschauen, warum immer wieder Versuche unternommen werden, Leben, das nicht lebenswert sei, zu definieren. Eine der zentralen These Schneiders ist, dass das selbstbestimmte Verlangen nach dem Tod und die Verfügung über Nichteinwilligungsfähige argumentativ eng beieinander liegen. Die heutige Abgrenzung zur NS-Euthanasie versucht eine Tradition zu konstituieren, die es nie gegeben hat: „eine rechtlich geregelte, von souveränen Staatsbürgern anzufordernde Sterbehilfe, ohne jeden bevölkerungspolitischen Einschlag und ohne vorausgegangenes Werturteil.“ Schneider legt den Widerspruch der Sterbehilfedebatte offen. Zum einen wird immer wieder betont, dass jeder eine persönliche Entscheidung treffe, aber gleichzeitig suchen die Akteure dieser Debatte immer wieder nach Kriterien, nach denen bestimmt werden soll, was lebensunwertes Leben sei. Der Text zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich eine historische Rekonstruktion der Euthanasie-Begründung liefert und durch seine Zuspitzung auf heutige Verhältnisse in aktuelle politische Debatten interveniert. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch einer überfälligen kritischen Auseinandersetzung mit der Neo-Eugenik neuen Antrieb verschafft.
Gottfried Oy
Christoph Schneider: Das Subjekt der Euthanasie. Transformationen einer tödlichen Praxis. Verlag Westfälisches Dampfboot (2011), 244 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-89691-889-5.

Erschienen in
GID-Ausgabe
211
vom Mai 2012
Seite 47