Rezension: Rekonstruktion westdeutscher Behindertenpolitik

„Disability History“ ist für die Herausgeberinnen des Bandes, Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt, die„Erforschung der Geschichte von ‚Behinderung‘“, hier vor allem im Hinblick auf die Bundesrepublik bis 1990. Behinderung verstehen sie in diesem Zusammenhang als „naturalisierte Differenzkategorie“. Lesenswerte Beiträge behandeln den „Contergan-Skandal“ (Anne H. Günther), die Rolle der Eltern „geistig behinderter” Kinder beim Ausbau humangenetischer Beratungsstellen (Britta-Marie Schenk), Inklusion durch Bildungspolitik (Anne Klein), die Rehabilitationspädagogik der DDR (Sebastian Barsch) und die westdeutsche Behindertenbewegung (Swantje Köbsell und Jan Stoll). Obwohl historiografische Einteilungen schwierig sind, macht insbesondere Wilfried Rudloffs Überblicksaufsatz zentrale Orientierungspunkte in der widersprüchlichen Politik nach 1968 deutlich: Im Zuge von Bildungsreformen wird der Ausbau der Sonderschulen beschlossen, aber auch eine gemeinsame Beschulung behinderter und nichtbehinderter Kinder empfohlen. Problematisch erscheinen die sozialkonstruktivistischen Vorzeichen der „Disability History“: Nicht um Bedingungen und Interessenkonflikte scheint es den Herausgeberinnen zu gehen, sondern um Kategorisierungen und Repräsentationen. Den Begriff der Tatsache nennen sie nur in relativierenden Anführungsstrichen. Dagegen spricht, dass die Geschichtswissenschaften das wirklich Geschehene nicht konstruieren, sondern faktengestützt rekonstruieren müssen. Ungeachtet dieses Einwandes bleibt festzuhalten, dass das Buch einen wichtigen Beitrag zur historischen Erforschung (west-)deutscher Behindertenpolitik leistet.

Michael Zander

➤ Gabriele Lingelbach, Anne Waldschmidt (Hg.): Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte. Campus, Frankfurt/M. (2016), 290 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978-3593505206.

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Erschienen in
GID-Ausgabe
238
vom November 2016
Seite 49