„Tanzt aus der Reihe“

Die Pride Parade als politischer Ort

In diesem Jahr hat die behindert und verrückt feiern - Pride Parade mindestens doppelt so viele Menschen angezogen wie 2013 und große mediale Aufmerksamkeit erfahren. Die gegenüber dem Mainstream radikal andere Vorstellung von einer inklusiven Gesellschaft, die die Paradeteilnehmer_innen vereint, wird in manchen Medien aber gern ignoriert. Ein Paradebericht.

Zwei Hände berühren sich, greifen zu und gleiten wieder auseinander. Räder drehen sich glänzend in der Sonne, und eine ver-rückte Perücke hüpft pink im Takt. Vor den beiden Tanzenden wird ein Wagen geschoben, von dem laut „Le Freak“ dröhnt, neben ihnen haben sich gerade zwei Rollstuhlfahrer beim Begrüßen versehentlich verhakt, und weiter hinten erstreckt sich eine kaum überschaubare Menschenmenge. So oder so ähnlich ist es geschehen auf der zweiten behindert und verrückt feiern - Pride Parade am 12. Juli in Berlin. Dem Aufruf des Organisationsteams, sich „Rechte zu nehmen“, „Begehren zu zeigen“ und „lauter als die Norm zu sein“, folgten um die 2.000 Menschen. Auf Plakaten und Shirts, durch Tanzen und Dabeisein, über Interviews und Lieblingslieder-Mitsingen und in Redebeiträgen verschiedener Gruppen wie zum Beispiel dem Arbeitskreis Psychiatriekritik oder dem Gen-ethischen Netzwerk wurden deutliche Botschaften formuliert. „Wir wollen Barrieren abschaffen, nicht Behinderte“, hieß es beispielsweise im Redebeitrag des Arbeitskreises mit ohne Behinderung (ak moB). „Wir wollen mit euch laut sein und stören, bis alle Kinder in der Schule Anerkennung bekommen. Und wir beschweren uns so lange, bis neben der Arbeit auch das Recht auf Faulheit viel Platz hat!“ Nicht nur während des Umzugs vom Hermannplatz im Berliner Bezirk Neukölln bis zum Kottbusser Tor in Kreuzberg, der von Konfetti, Musik und Sonne begleitet wurde, auch auf einer Zwischen- und der Abschlusskundgebung transportierten viele Betroffene ihren Blick auf gesellschaftliche Ausgrenzung. Von der Frauenbeauftragten in einer Behindertenwerkstatt, die sich gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt einsetzt, über eine gehörlose Rapperin, der ihre musikalischen Fähigkeiten immer wieder abgesprochen werden, bis hin zur Spoken-Word-Performance des Kindes einer psychiatrieerfahrenen Mutter, dem eine baldige Schizophrenie attestiert wird - Parade und anschließendes Bühnenprogramm waren geprägt von Menschen, die den ständigen Angriffen auf Persönlichkeit und Handlungsfähigkeit an diesem Tag einen Spiegel vorhielten. Gegen Anpassungserwartungen der Mehrheitsgesellschaft Damit machte die diesjährige Parade wie schon im vergangenen Jahr deutlich, was Inklusion nicht bedeutet: Dass Behinderte als gesellschaftliche Minderheit von der normativen Mehrheit aufgenommen und akzeptiert werden und sich zu diesem Zweck weitestgehend an die Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen. Um eine wirklich inklusive Gesellschaft zu ermöglichen, ist es vielmehr dringend notwendig, delegitimierte Lebensweisen, Körperformen und Verhaltensweisen präsent zu machen, zu stärken und das Recht auf Gleichberechtigung zu leben. Und so richtete sich ein großer Teil der Botschaften in erster Linie nicht an ein in der Mehrheit vorurteilsbeladenes Umfeld, sondern vor allem an alle, die sich angesprochen fühlten. Mit diesem Ansatz präsentiert die behindert und verrückt feiern - Pride Parade einen Gegenentwurf zu einer Forderung, die mittlerweile gern bemüht wird: Auch Behinderte müssten ihren Beitrag leisten, damit Inklusion funktioniere und könnten nicht immerzu Rücksicht erwarten (siehe Kasten). In einer von Grund auf selektierenden und auf Leistungs- und Anpassungsfähigkeit aufbauenden Gesellschaft kann aber von einem beidseitigen sich Entgegenkommen auf gleicher Augenhöhe nicht die Rede sein. Sich den Anpassungserwartungen der Mehrheitsgesellschaft zu widersetzen, ist also notwendig, zum Beispiel für die gehörlose Rapperin DKN: „Was ich im Spiegel sehe, mag ich, und oft feier ich meinen Style”, heißt es in einem ihrer Texte, „aber die Leute auf der Straße reden und haben alle keine Peilung. Zum Glück müssen solche Leute nicht meine Freunde sein.“ Genau darum ging es auf der Parade: Das Eigene zu feiern und sich nicht zu verstecken, und das gemeinsam mit vielen anderen.

Tanzend Solidarität üben

Die Parade schuf für einen Nachmittag einen Ort, an dem sich Menschen treffen und die Erfahrung machen konnten, nicht die einzigen zu sein, die angestarrt, ausgegrenzt, pathologisiert und als „anders“ empfunden werden. An diesem Nachmittag gelang, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: sich nicht als Teil einer fremdbestimmten Gruppe in Sonderinstitutionen, sondern als frei gewählten Zusammenschluss von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu begreifen und hieraus Selbstbewusstsein und Stärke zu ziehen. „Ich habe noch nie so viele Behinderte gesehen wie jetzt innerhalb der letzten zehn Minuten“, so eine Teilnehmerin des Umzugs. „Wir müssen uns zeigen, damit die Welt mal schnallt, wie viele wir sind.“ Und jemand anderes schwärmte: "Wow, das war toll und empowernd! So viele schöne Menschen!" Nicht nur haben in diesem Jahr mehr Menschen teilgenommen, auch das Medienecho ist wesentlich stärker ausgefallen als 2013, als die behindert und verrückt feiern - Pride Parade das erste Mal in Deutschland stattfand. Dass der Parade in verschiedensten Zeitschriften und Fernsehsendungen Aufmerksamkeit zuteil wurde, heisst aber nicht, dass dort auch ihre eher unpopuläre Ausrichtung Platz hatte. Im Vordergrund der Medienberichterstattung stand vielmehr das Sich-Feiern mit einer optimistischen Perspektive, was als Botschaft leicht und konfliktarm an viele Menschen herangetragen werden kann. Auch wenn die Parade Tanzen und Feiern durchaus als wichtige politische Handlung versteht, fand nur in wenigen Medienberichten die auf der Parade präsente, grundlegende Kritik am kapitalistischen System Erwähnung. „Wir leben in einer Welt, die immer individueller wird und in der die Menschen immer gleichgültiger für die anderen sind“, stellt ein Teilnehmer des Umzugs fest. „Inklusion bedeutet für mich, dass man mehr Solidarität übt.“ Die Pride Parade war ein Ort, an dem diese Solidarität im Kleinen erprobt werden konnte, an dem Menschen gehört wurden, die zu oft zum Schweigen gebracht werden und sich Menschen begegnen, anstatt aneinander vorbeizulaufen. An diesem Sommertag im Juli jedenfalls sitzt ein freudig erschöpftes Tanzpaar abends Bier schlürfend in Berlin-Kreuzberg und geht später mit dem Gedanken nach Hause, dass seine so oft erträumte Utopie von Gesellschaft heute ein kleines bisschen Wirklichkeit geworden ist. Bleibt der Wunsch, noch viele solcher Tage erleben zu können.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
225
vom August 2014
Seite 41 - 43

Antje Barten ist Referentin und Trainerin in der antidiskriminierenden Bildungsarbeit. Sie lebt, feiert und studiert in Berlin und hat die Pride Parade mitorganisiert.

zur Artikelübersicht

Auf gleicher Augenhöhe?

„Es kann nicht sein, dass eine Gruppe von Menschen immer auf die ‚armen Behinderten‘ Rücksicht nehmen muss“, so kürzlich Sascha Decker, Pressesprecher von Aktion Mensch. „So wird das Modell Inklusion nicht erfolgreich sein, und so wird das Miteinander von Behinderten und Nicht-Behinderten auch niemals selbstverständlich werden.“ Mit seinem Kommentar begrüßte Decker ein Urteil des Amtsgerichts Bonn. Es hatte Anfang dieses Jahres eine behinderte Frau dazu verpflichtet, „medizinische Hilfe” in Anspruch zu nehmen, damit sie die Ruhe in der Reihenhaussiedlung nicht störe. Recht bekamen damit NachbarInnen, die geklagt hatten, weil die Frau „extremen Lärm” mache. Vgl. WDR-Bericht vom 28.3.14, im Netz unter www.kurzlink.de/gid225_a.
(uw)