Indigene Rechte und Gene Drives
Informierte Einwilligung im Kontext von Risikotechnologien
Das Recht indigener Völker auf „freie, vorherige und Informierte Einwilligung“ nimmt einen zentralen Platz im Diskurs über nachhaltige Technologieentwicklung und die Nutzung von natürlichen Ressourcen ein. Wie kann die Umsetzung im Kontext von Gene Drives aussehen?

Weil Unsicherheiten nicht ohne kontrollierte Experimente beseitigt werden können, gehen Gene Drives über traditionelle Grenzen der Expert*innenkontrolle hinaus. Foto: gemeinfrei auf pexels.com (idzzzed)
Für Befürworter*innen der sich rasant weiterentwickelnden Gene Drives bietet diese Technologie alternative Lösungsansätze für komplexe Probleme in unterschiedlichsten Feldern. Bei Gene Drives werden genetische Merkmale schneller als gewöhnlich verbreitet, z. B. Unfruchtbarkeit bei Malaria-übertragenden Stechmücken, so dass ganze Populationen über mehrere Generationen hinweg genetisch verändert werden können. Während Forschende, Förderer*innen, Behörden und Nichtregierungsorganisationen sich seit vielen Jahren mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Auswirkungen neuer Gentechnologien beschäftigt haben, wurde potenziell betroffenen Communities bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese werden oft nur als passive Rezipient*innen von Technologien betrachtet. Teile der Gene-Drive-Forschungsgemeinschaft haben begonnen, sich mit dieser Leerstelle auseinanderzusetzen und mehrere Entwickler*innen haben Vorschläge für Partizipationsprozesse erarbeitet. Gleichzeitig wird auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) darüber diskutiert, bei jeder Freisetzung künstlich erzeugter Gene Drives die „freie, vorherige und informierte Einwilligung“ (free, prior and informed consent, FPIC) betroffener Indigender Bevölkerungsgruppen bzw. lokaler Communites obligatrisch zu machen. Im Rahmen der Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD) wurde die Interpretation von FPIC in Bezug auf Gene Drives weiterentwickelt – von „möglicherweise erforderlich“ in 2017 zu „wo angebracht“ und „wo anwendbar“, bis hin zu „unter Einbezug der gesamten Community“ in 2019.1 Allerdings macht die CBD keine konkreten Vorschläge zur Implementierung von FPIC.
Ursprünge und Interpretationen von FPIC
Konzeptionell ist FPIC im Kontext von Entscheidungen zu Naturschutz und Landentwicklung entstanden, von denen Indigene Gruppen betroffen waren. Ursprünglich auf Entscheidungen angewandt, bei denen Indigene Gruppen durch eine mögliche Umsiedlung bedroht waren, entstammt die Idee dem Menschenrechtsprinzip der Selbstbestimmung Indigener Völker. Das internationale Recht und die internationale Politik haben dieses Selbstbestimmungsrecht schon früh anerkannt und gefördert, beispielsweise in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 (Artikel 55). Zwei zentrale internationale Menschenrechtsvorschriften, die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker (UN-DRIP) und die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), konkretisieren FPIC als Verfahrensmechanismus zur Umsetzung dieses Selbstbestimmungsrechts. In der UN-DRIP wird FPIC auf verschiedene Kontexte abseits der Umsiedelung von Communities ausgeweitet wie z. B. staatliche oder privatwirtschaftliche Eingriffe im Zusammenhang mit der Entsorgung gefährlicher Materialien, bei militärischen Aktivitäten oder dem Beschluss von staatlichen Maßnahmen, die sich auf Indigene Völker auswirken können. Diese Erweiterungen zeigen, dass FPIC ein sich entwickelndes Konzept im internationalen Recht ist, das potenziell auf ein breiteres Spektrum von Kontexten anwendbar ist.
In einem Bericht des Ständigen Forums für Indigene Angelegenheiten (UNPFII) von 2005 zu einem Workshop zum Thema wurde die normative Vision des FPIC weiter ausformuliert: Frei bedeutet, dass es keinen Zwang, keine Einschüchterung oder Manipulation von externer Seite gibt. Vorherig bedeutet, dass die Indigene Bevölkerung in die Entscheidungsfindung einbezogen wird, bevor die betreffende Aktivität beginnt. Informiert bedeutet, dass Informationen über Zweck, Verfahren, Dauer, Ort, Umfang, Reversibilität und das räumliche Ausmaß betroffener Gebiete zugänglich gemacht werden. Einwilligung wiederum meint die Zustimmung einer Community zu einer Maßnahme, auf der Basis von Konsultationsprozessen und Beteiligung auf Augenhöhe und gegenseitigem Respekt.2 Angesichts des im Bericht beschriebenen Status von FPIC als „sich entwickelndes Prinzip“, das „an verschiedene Realitäten angepasst werden kann“ haben andere Organisationen innerhalb der UN damit begonnen, es für ihre Arbeitsbereiche anzupassen. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) hat die Anwendung des Konzepts beispielsweise von Indigenen auch auf lokale Gemeinschaften ausgeweitet. Es bestehen jedoch Meinungsverschiedenheiten und Unsicherheiten darüber, wie – und sogar ob – die Grundsätze von FPIC in verschiedenen Kontexten zu interpretieren sind.
Während FPIC als theoretisches Konzept im Kontext des internationalen Rechts erfolgreich entwickelt wurde, hat sich seine Umsetzung in die Praxis der Verwaltung von Land und Ressourcen als schwierig erwiesen. Die Übertragung von FPIC auf Gene Drives stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Die Erklärungen der CBD-Ad-Hoc-Expert*innengruppe für synthetische Biologie (AHTEG) bleibt vage darin, ob und wie die Entwicklung und Freisetzung von Organismen von „der vollen und wirksamen Beteiligung indigener Völker und lokaler Gemeinschaften begleitet“ werden sollte. Im Bericht ist die FPIC jedoch auch wie bei der FAO auf den Einbezug lokaler Gemeinschaften ausgeweitet.
Der Entwurf der Grundsätze der Internationalen Union für die Erhaltung der Natur (IUCN) zu synthetischer Biologie und zur Erhaltung der Biodiversität nimmt eine deutlichere Haltung ein, indem er feststellt, dass die freie, vorherige und informierte Einwilligung Indigener Gruppen und lokaler Communities „eingeholt werden muss“, wenn es um die Einführung von Gene Drives geht. Insgesamt deuten diese Stellungnahmen darauf hin, dass innerhalb der Wissenschafts- und Technologiepolitik – mit Gene Drives als Beispiel – ein stärker auf Partizipation ausgerichteter Ansatz angebracht ist.
FPIC als Erweiterung forschungsethischer Prinzipien
A) Ausweitung von Individuen auf Communities
In der traditionellen Forschungsethik wurde die Anwendung der Informierten Einwilligung durch eine individualistische Brille betrachtet. Sie beruht auf dem Grundsatz des Respekts vor der Person, wobei der*die Einzelne als autonome*r Entscheidungsträger*in betrachtet wird, der*die das Recht hat, selbst zu entscheiden, was mit ihm*ihr geschieht. FPIC verschiebt die Einwilligung vom Individuum auf die Community, was die Frage aufwirft, wie Kommunikation und Entscheidungsfindung organisiert werden können, um eine Einwilligung auf dieser Ebene zu erreichen. In der akademischen Literatur haben einige Autor*innen versucht, das medizinische Konzept der Informierten Einwilligung auf den Gene-Drive-Kontext zu übertragen. Kolopack und Lavery schlagen bspw. vor, dass individuelle Informierte Einwilligung eine Voraussetzung für Forschende bei Feldversuchen sein muss, wenn das Projekt a) die Sammlung persönlicher Gesundheitsdaten (z. B. die Auswertung, ob die Malaria-Infektionsrate zurück geht), b) die Teilnahme an Verhaltensforschung oder sozialwissenschaftlicher Forschung (z. B. Umfragen oder Interviews) oder c) die Sammlung anderer persönlich zuordenbarer Daten beinhaltet.3 Andere stellen die Umsetzbarkeit des Vorhabens in Frage, eine individuelle Einwilligung einer ganzen Community nach dem Tür-zu-Tür-Prinzip zu erreichen; Forschende sollten stattdessen eine „gemeinschaftliche Einwilligung“ anstreben. Weijer und Emanuel beschreiben einen Rahmen für die biomedizinische Forschung, der den Respekt für die Kultur, das Wissen und die politischen Strukturen von Gemeinschaften betont.4 Nach ihnen muss die Einbindung in jeden Schritt des Prozesses erfolgen – sowohl in der frühen Phase des Studiendesigns als auch in der späten Phase der Umsetzung.
Speziell für den Einsatz von gentechnisch veränderten Stechmücken in der Umwelt fordert der Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2014 Strategien des „ethischen Engagements“ bei der Durchführung von Studien und erwähnt ausdrücklich den „Respekt für Communities“ als Ziel.5 Hier wird die ethische Verantwortung über die Einhaltung der Vorschriften für die individuelle Einwilligung hinaus erweitert und die Forschenden werden ermutigt, intensive und wiederholte Aktivitäten zur Einbindung der Öffentlichkeit und der Gemeinschaft in die Planung und praktische Forschung durchzuführen.
B) Transparenz, die einbindet statt informiert
Die in der Wissenschaft üblichen Transparenznormen fördern die Veröffentlichung von Methoden, Daten und Forschungsergebnissen. Im Zusammenhang mit FPIC ist Transparenz nicht nur entscheidend, um sicherzustellen, dass Informationen zugänglich und verständlich sind, sondern auch, um gleichberechtigte Konsultationen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Damit die Communities wirksam in die Entscheidungsfindung einbezogen werden können, müssen Forschende und Entwickler*innen Informationen in einem für die Community zugänglichen Format verbreiten, was bedeutet, dass sie sich an örtliche Sprachnormen und Kanäle der Informationsverbreitung anpassen müssen. Zudem sollte die Entwicklung von besseren Transparenzpraktiken in Zusammenarbeit mit den Communities erfolgen.
In Bezug auf Gene-Drive-Experimente bedeutet Transparenz auch eine Kontextualisierung der Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem vorgeschlagenen Eingriff. Forschende müssen Risiken und Unsicherheiten ebenso explizit und ehrlich darlegen, wie sie es mit dem potenziellen Nutzen ihrer Forschung tun. Transparenz setzt auch voraus, dass Communities über alternative Ansätze informiert werden, um den vorgeschlagenen Ansatz bewerten zu können. Dies sollte auch das „Nichtstun“ oder die Beibehaltung des Status quo mit den entsprechenden Vorteilen und Risiken umfassen. Mehr Transparenz und geteilte Macht können dazu führen, dass das Vertrauen in den vorgeschlagenen Ansatz gestärkt wird, dass ein anderer Ansatz verfolgt wird oder auch, dass die Entscheidung aufgeschoben wird.
Co-Entwicklung mit einer FPI-Perspektive
Das Konzept der Co-Entwicklung hat seine Wurzeln in der Community-basierten partizipativen Forschung, in deren Praxis die Forschenden sich dazu verpflichten, Vertreter*innen der Öffentlichkeit in die Forschungsaktivitäten einzubeziehen, die Forschungsziele an den Bedürfnissen einer Community auszurichten und Wissen und Ressourcen zu teilen. Wendet man dieses Paradigma auf Gene Drives an, würden Entwickler*innen und Forschende mit Indigenen Gruppen und lokalen Communities in allen Phasen des Projektes zusammenarbeiten – beginnend mit der Problemerkennung. Diese Vielfalt an Aktivitäten bedeutet, dass Forschende Strategien zur Machtteilung umsetzen müssen, bevor Projekte zu weit fortgeschritten sind (idealerweise in der Phase der Ideenfindung). Die Umsetzung von FPIC sollte auch die Komplexität der Machtstrukturen innerhalb der örtlichen Communities berücksichtigen. Konsultationen mit Communitymitgliedern, die möglicherweise einen niedrigeren sozialen Status haben, können ein vollständigeres Bild von den Bedürfnissen und Anliegen der Community vermitteln.
Zulassungsbehörden können das Risiko von Gene Drives nach Sicherheitsstandards bewerten, die auf wissenschaftlich fundierten Entscheidungen basieren. Das Risikoparadigma, das mit Gene-Drive-Eingriffen einhergeht, geht jedoch über die traditionellen Grenzen der Expert*innenkontrolle hinaus, da Unsicherheiten nicht ohne kontrollierte Experimente beseitigt werden können, ein kontrolliertes Experiment jedoch ggf. nicht möglich ist. Paradoxerweise wäre eine Freisetzung in die Umwelt erforderlich, um die zur Bewertung der Umweltauswirkungen erforderlichen Daten zu sammeln. Die Berücksichtigung eines solchen Risikos geht über das Paradigma der staatlich gelenkten Governance hinaus und erfordert die Integration verschiedener Formen von Wissen und wertebasierten Bedenken, einschließlich des lokalen Wissens und der Perspektiven der Communities, die von Feldversuchen und Umweltfreisetzungen betroffen sind. Das FPIC-Verfahren wurde in der Vergangenheit oft missbraucht und als Strategie für eine „inkludierende Kontrolle“ bei der Projektentwicklung dargestellt, die zu oberflächlichen Zertifizierungs- und Entscheidungsfindungsmodellen führt. Es liegt auf der Hand, dass Forschende und Entwickler*innen von Gene Drives bestrebt sein sollten, solche Verzerrungen von FPIC nicht zu reproduzieren und sich stattdessen an die ethischen Normen und Grundprinzipien zu halten, die auf Selbstbestimmung, Transparenz und geteilter Macht beruhen.
Fazit: Bescheidenheit bei FPIC im Kontext von Gene Drives
Ebenso wie das Design, die Entwicklung und die Erprobung von Gene Drives ein gewisses ökologisches Risiko bergen, wenn Wissen für künftige Forschungs- und Regulierungsentscheidungen gewonnen werden soll, bringen auch Experimente zur Einbindung von Interessengruppen und Communities Risiken mit sich. Diese werden zu einer Mischung aus Erfolgen und Misserfolgen führen, die Kapazitäten schaffen können: zum Aufbau von Wissen, sozialer Infrastruktur und Vertrauen für künftige Bemühungen. Wir schlagen vor, dass Forschende und Entwickler*innen von Gene Drives ihre Praxis an den von uns beschriebenen Grundsätzen der FPIC ausrichten – unabhängig davon, ob FPIC ein rechtlich durchsetzbarer Standard wird oder nicht. Im Kern müssen solche Praktiken dem Ethos der Bescheidenheit folgen, aus dem Formen des Vertrauens erwachsen können, die auf der ehrlichen Absicht beruhen, das Wissen, die Sorgen und die Ziele anderer zu respektieren.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung des Artikels George, D.R. et al. (2019): Articulating ‘free, prior and informed consent’ (FPIC) for engineered gene drives. Proceeding of the Royal Society B, Vol. 286, Issue 1917, www.doi.org/10.1098/rspb.2019.1484. Der Originalartikel enthält alle 81 Referenzen. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Jonte Lindemann und Isabelle Bartram.
- 1
CBD (2019): Report of the Ad Hoc Technical Expert Group on Synthetic Biology. Online: www.kurzlinks.de/gid272-bc.
- 2
UNPFII (2005): Report of the International Workshop on Methodologies regarding Free, Prior and Informed Consent and Indigenous Peoples. Online: www.kurzlinks.de/gid272-bd.
- 3
Kolopack, P.A./Lavery, J.V. (2017): Informed consent in field trials of gene-drive mosquitoes. Gates Open research 1, 14, www.doi.org/10.12688/gatesopenres.12771.1.
- 4
Weijer, C./Emanuel, E.J.(2000): Protecting Communities in Biomedical Research. Science 289, S.1142-1144, www.doi.org/10.1126/science.289.5482.1142.
- 5
Anmerkung der Redaktion: Die WHO hat den Bericht 2021 aktualisiert: WHO (2021): Guidance framework for testing of genetically modified mosquitoes, second edition. Online: www.kurzlinks.de/gid272-be. [Letzter Zugriff Onlinequellen: 20.01.25]
Dr. Dalton R. George war Doktorand am Genetic Engineering and Society Center der North Carolina State University in den USA.
Prof. Dr. Jason A. Delborne war Professor für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft am Genetic Engineering and Society Center der North Carolina State University in den USA.
Dr. Todd Kuiken war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Genetic Engineering and Society Center der North Carolina State University in den USA.
Abkürzungsverzeichnis
AHTEG: CBD-Ad-Hoc-Expert*innengruppe für synthetische Biologie
CBD: Biodiversitätskonvention
FAO: UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation
FPIC: freie, vorherige und informierte Einwilligung
ILO: Internationale Arbeitsorganisation
IUCN: Internationale Union für die Erhaltung der Natur
UN: Vereinte Nationen
UN-DRIP: UN-Deklaration der Rechte Indigener Völker
UNPFII: Ständiges Forum für Indigene Angelegenheiten der UN
WHO: Weltgesundheitsorganisation