Bioethik in Albanien
Vom 17.-19. März fand in Berlin ein europaweites Treffen zur Biopolitik statt. Rund 50 Aktivisten, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und AkademikerInnen nahmen auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung und des Instituts Mensch Ethik und Wissenschaft teil. Rezarta Reimann nahm die Begegnung zum Anlass für einen GID-Bericht über Bioethik in Albanien.
Die Einladung zur Teilnahme an der Konferenz über die europäische Politik im Bereich Biologie rief bei mir zunächst gemischte Gefühle hervor: Einerseits freute ich mich darauf, mehr über die Grundsätze und aktuellen Entwicklungen dieser Politik zu erfahren, andererseits fühlte ich eine gewisse Verantwortung, da zum ersten Mal eine Vertreterin Albaniens zu einer solchen Veranstaltung eingeladen worden war. Würde mein kleines Land das Interesse der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wecken? – Schließlich war Albanien über 40 Jahre lang völlig vom Rest Europas abgeschnitten und hatte unter einer der unmenschlichsten kommunistischen Diktaturen der Welt gelitten. Mehr noch: Gab es irgendetwas speziell "Albanisches", das man auf der Konferenz präsentieren konnte? Diese zwiespältigen Gefühle wurden noch stärker in Anbetracht der Tatsache, dass mir in meinem eigenen Land noch nie etwas von einer Institution, einer öffentlichen Debatte oder irgendwelche Informationen zu Ohren gekommen waren, die mit dem Thema "Bioethik" zu tun gehabt hätten. Daher möchte ich gleich zu Beginn dieses Beitrags darauf hinweisen, dass sämtliche Daten, Fakten und Meinungen ausschließlich auf persönlichen Recherchen beruhen. Als Informanten fungierten dabei Vertreter von privaten und staatlichen Kliniken, Ärzte, Biologen, Publizisten, Politiker und Biologiestudenten. Trotz unterschiedlichster Ansichten waren sich alle in einem Punkt einig: Bisher wurde die Bioehtik in Albanien von niemandem – weder von Einzelpersonen noch internationalen Organisationen – jemals öffentlich thematisiert, lediglich einmal kam es zu einer kurzen und oberflächlichen Diskussion, auf die ich noch zurückkommen werde. Daher kann ich hier nur einen allgemeinen Überblick über die Lage in Albanien und die Probleme beim Thema künstliche Befruchtung geben.
Gesetz zur künstlichen Befruchtung
Im April 2002 wurde das Gesetz Nr. 8876 über künstliche Befruchtung vom albanischen Parlament verabschiedet – nach lang anhaltenden Bemühungen von hauptsächlich in Frankreich und Italien ausgebildeten albanischen Gynäkologen und Biologen und begleitet von einer hitzig geführten öffentlichen Debatte über In-vitro-Fertilisation (IVF). Das von Experten als "liberal” eingestufte Gesetz erlaubt seither die Durchführung von IVF in staatlichen und privaten Kliniken. Von Eizellenspenden oder dazu gehörigen gesetzlichen Bestimmungen ist nicht die Rede. Demgegenüber ist der Gebrauch von Embryonen sowohl zu kommerziellen wie auch zu wissenschaftlichen Zwecken kategorisch verboten. Nach der Verabschiedung des Gesetzes eröffnete im Jahr 2003 die erste und bisher einzige Klinik Albaniens, an der IVF vorgenommen wird. Die Belegschaft ist albanisch, wenn auch zeitweise Biologen und Gynäkologen aus Italien mitarbeiten. Diese Zusammenarbeit erstreckt sich mittlerweile auf Kliniken in Italien und Frankreich und kommt somit dem stetig steigenden Interesse ausländischer Ärzte an der albanischen Klinik entgegen. Es ist nicht einfach, Informationen über die derzeitigen Aktivitäten der Klinik zu bekommen. Ihr Leiter, Orion Gozheni, gleichzeitig Chefarzt einer staatlichen Frauenklinik, zeigte sich jedoch bereit, alle Fragen dazu ausführlich zu beantworten. Laut Glozheni werden in der Klinik jedes Jahr etwa 150-200 Zyklen vorgenommen; für dieses Jahr erwartet er einen starken Anstieg auf etwa 300. Die Erfolgsquote liege bei über 35 Prozent – bisher hätten 76 Kinder aufgrund seiner Bemühungen das Licht der Welt erblickt, davon einige Zwillingspaare und einmal sogar Drillinge. Spenden von Eizellen habe es bisher nicht gegeben; jedoch sei es das Ziel, zukünftig auch diesen Dienst anzubieten. "Uns fehlt ein modernes Labor, in dem man die Qualität einer Eizelle schnell und sicher bestimmen kann; dieses wollen wir so bald wie möglich einrichten.” Die allgemeinen Probleme Albaniens wie ständige und lang anhaltende Stromausfälle wie auch die Qualität der Krankenhäuser, sowohl Geräte als auch Personal betreffend, sind für Glozhani Grund zur Annahme, dass seine Klinik auf Jahre hinaus die einzige ihrer Art in Albanien bleiben wird.
Großfamilie und Frauenbild
Laut Glozheni bietet die Klinik hohe Standards bei im Vergleich zu westeuropäischen Einrichtungen dieser Art konkurrenzlos niedrigen Preisen. Diese führten dazu, dass nicht mehr nur Albaner kämen, sondern mittlerweile auch Paare aus dem Kosovo und Mazedonien, wie auch albanische Emigranten aus Europa und dem Rest der Welt, die sich eine IVF in ihren Ländern nicht leisten könnten. Albanische Paare, die sich mit dem Gedanken tragen, IVF an einer westlichen Klinik vornehmen zu lassen, sehen sich hohen bürokratischen und finanziellen Hürden gegenüber, die bei Problemen mit der Visavergabe beginnen und bei den hohen Kosten noch lange nicht zu Ende sind. Daher ist die Einrichtung in Tirana für die meisten die einzige Möglichkeit, eine IVF vornehmen zu lassen. In einer Gesellschaft wie der albanischen, die nach wie vor von der Großfamilie geprägt ist, hat IVF eine sehr wichtige soziale Komponente. Die gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen in Albanien geraten immer wieder in Konflikt mit den Symptomen des schwierigen und noch lange nicht abgeschlossenen Übergangs von einer rückständigen Stammesgesellschaft in eine moderne Demokratie. Die albanische Rückständigkeit auf vielen Gebieten ist die Konsequenz aus von Kriegen und Besatzung geprägten Jahrhunderten wie auch die Folge der Jahre 1945 bis 1990, als dem von den Kommunisten mit aller Brutalität geschaffenen "Neuen Menschen” Begriffe wie "Freiheit" und "Menschenrechte" weitgehend unbekannt waren. Abtreibung war gesetzlich verboten, Empfängnisverhütung wurde als Symptom eines degenerierten Kapitalismus gebrandmarkt. Die Vorstellung von der albanischen Frau als "Mutter, die den Jungen im Dienst des Gewehrs und des Vaterlandes”, später "den kommenden Kommunisten” zur Welt bringt, hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Frauen werden auch heute noch misstrauisch beäugt und beschuldigt, wenn Kinder ausbleiben - außer in der Hauptstadt Tirana. Auch Familien von Akademikern und Intellektuellen in der Hauptstadt haben meistens zwei oder mehr Kinder, auf dem Land dementsprechend mehr. Dies geht einher mit einer aufopfernden Unterstützung der Eltern durch die Großeltern und mit einem vorbildlichen Angebot an Kindertagesstätten aller Art. So ist es nicht verwunderlich, dass Albanien eine der höchsten Geburtenraten Europas aufweist. Die Nachfrage nach IVF in Albanien steigt ständig, trotz der damit verbundenen finanziellen Probleme. Natürlich stellt sich die Frage, ob die Interessenten wie auch die Gesellschaft allgemein ausreichend über die wichtigsten Aspekte der IVF informiert sind. Hat die einzige Klinik dieser Art im Land wirklich alle Kompetenzen und Möglichkeiten, um den Problemen zu begegnen, die vor, während und nach der Anwendung von IVF auftreten können? Wie kann man solche und ähnliche Aktivitäten kontrollieren und Missbrauch ausschließen? Diese und eine Reihe von anderen Fragen könnten theoretisch Teil einer breiten Debatte in Albanien werden; bisher blieb diese jedoch aus, obwohl viele Menschen im persönlichen Gespräch sehr wohl ihren Wunsch nach mehr Informationen und Diskussionen zu diesem Thema äußern. Vereinzelt haben sich Fernsehsendungen mit Biotechnologie beschäftigt, doch eher unter rein naturwissenschaftlichen Aspekten. Das sporadische Interesse an diesen Sendungen ließ jedoch bald wieder nach, da es keine Fortsetzung gab. Auch die Debatte um die Eröffnung einer Klinik für IVF in Albanien wurde von vielen Menschen hauptsächlich als Kampf um Einflusssphären, um den Ausschluss von Konkurrenz und um das Ausnutzen der unzureichenden Gesetzeslage wahrgenommen.
Bioethik: unbekannt
So ist der Begriff "Bioethik” vielen Albanern nach wie vor unbekannt. Das Gesundheitsministerium hat zwar eine Kommission für Bioethik eingesetzt, doch sitzen dort lediglich einige Honoratioren, von denen nicht viel Konstruktives zu hören ist. Auch in der Literatur für Schüler und Studenten kommen bioethische Fragen nicht vor. Engagierte Universitätsdozenten versuchen, diese in ihren Unterricht zu integrieren, und es gibt sogar den Vorschlag, Bioethik an der naturwissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Fakultät als eigenes Fach anzubieten. Viele Experten, die mit der Lage in Albanien vertraut sind, bezweifeln daher die Aussage Glozhenis, derzufolge in Albanien weder mit Eizellen noch mit Embryonen gehandelt wird. "Niemand weiß, was bei uns passiert”, ist der gängige Kommentar dazu. Nahrung bekommt eine solche Skepsis durch Sachverhalte, die von offiziellen Stellen gerne verschwiegen werden: die miserablen sanitären Bedingungen in vielen staatlichen und privaten Kliniken, die überall grassierende Korruption im Gesundheitswesen und die fehlende staatliche Kontrolle. Erst vor wenigen Wochen wurde enthüllt, dass Kindern mit Gerinnungsstörungen in staatlichen Kliniken HIV-infiziertes Blut verabreicht wurde. Diese Zustände und die allgemeine Armut haben in Albanien zu einem blühenden Kinder-, Frauen- und Organhandel geführt, wie in mehreren Berichten der EU nachzulesen ist. Der Weg zum Handel mit Eizellen und Embryonen scheint unter solchen Bedingungen nicht weit – allgemeine Intransparenz und die Skrupellosigkeit vieler Akteure machen das Land zu einem potentiellen Paradies für solche Aktivitäten, wenn es dies nicht schon lange ist.
Eizellen für die Forschung
Eizellen zu spenden, sei es zu wissenschaftlichen Zwecken oder um einer anderen Frau zu helfen, die sonst keine Kinder bekommen könnte, würde für viele der von mir befragten Biologiestudentinnen nicht das geringste Problem darstellen; mögliche negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit werden nicht in Betracht gezogen. Viele würde es sogar mit Stolz erfüllen, mit ihrer Spende etwas zum "wissenschaftlichen Fortschritt" beizutragen. Die Kirchen und Glaubensgemeinschaften im Land sind noch viel zu schwach, um konstruktiv in eine solche Debatte einzugreifen. Über 30 Jahre schärfster Drangsalierungen unter dem kommunistischen Regime haben dazu beigetragen, dass sie noch heute um ihre Identität ringen sowie ihr finanzielles Überleben sichern müssen; so kommen bioethische Fragen bei ihnen nicht vor. Die albanischen Regierungen jeglicher Couleur schließlich unterschreiben auf ihrem langen Weg nach Europa alles, was ihnen unter die Feder kommt, ohne sich danach sonderlich um die Umsetzung der Vereinbarungen zu bemühen. Nach Aussagen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Berliner Konferenz aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder der Türkei scheinen solche Erscheinungen nicht speziell auf Albanien begrenzt zu sein. In dieser Hinsicht bleibt Europa also weiter gespalten: Während man sich in der EU darum bemüht, problembewusst neue Visionen zu entwickeln, benötigt man in Südosteuropa zunächst dringend Hilfe bei grundsätzlichen Fragen wie der Organisation von Informationskampagnen oder der Schaffung eines Raums für breite öffentliche Debatten über Bioethik. Mittelfristiges Ziel dieser Hilfe muss die Möglichkeit sein, sich aktiv in europaweite Netzwerke zu integrieren sowie in Zusammenarbeit mit spezialisierten westeuropäischen Institutionen eine europäischen Standards entsprechende Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Für die Idee zur Recherche danke ich Heidi Hofmann.
Rezarta Reimann ist Biologin. Mehrere Jahre war sie am Institut für Pflanzenphysiologie der Friedrich Schiller Universität in Jena tätig, wo sie im Dezember 2003 promovierte. Zur Zeit unterrichtet sie an der Fakultät für Naturwissenschaftten der Universität in Tirana, Albanien.