Das neue Gesicht des Kapitalismus

In Biocapital. The Constitution of Postgenomic Life untersucht der US-amerikanische Sozialanthropologe Kaushik Sunder Rajan das Verhältnis von biowissenschaftlichen Innovationen und Transformationen des Kapitalismus. Ausgehend von der Einsicht der Wissenschafts- und Technikforschung, dass »Wissenschaft« und »Gesellschaft« nicht zwei einander äußerliche und getrennte Systeme oder Sphären darstellen, sondern sie sich wechselseitig konstituieren, analysiert das Buch die Ko-Produktion biowissenschaftlichen Wissens und politisch-ökonomischer Regime. Seine empirische These ist, dass das Auftauchen der Biowissenschaften eine neue Gestalt und eine neue Phase des Kapitalismus markiert. Die Entstehung einer »Biotechnologie« und die Akzeptanz medizinisch-genetischer Krankheitsdeutungen seien nur mit Blick auf globale Produktions- und Konsumtionsbeziehungen im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie zu begreifen. In theoretischer Hinsicht will Sunder Rajan Foucaults Konzept der Biopolitik mit der von Marx ausgehenden Kritik der politischen Ökonomie im Rahmen einer anthropologischen Analyse verbinden. Die Konstitution des »Biokapitals« soll wiederum aus einer doppelten Perspektive verfolgt werden. Den Autor interessiert zum einen, welche Formen von Entfremdung, Ausbeutung und Enteignung notwendig sind, um eine »Kultur biotechnologischer Innovation« zu ermöglichen; zum anderen fragt er, wie individuelle und kollektive Subjekte und Bürgerrechte durch diese Technologien zugleich geformt und beschränkt werden. Biocapital beruht aus einer Vielzahl von Feldstudien, Beobachtungen und Interviews mit Wissenschaftlern, Medizinern, Unternehmern und Regierungsbeamten in den USA und in Indien und verbindet detaillierte ethnografische Forschungsarbeit mit übergreifender theoretischer Reflexion. Obwohl die Thematik des Buches insgesamt sehr breit angelegt ist, liegt der empirische Fokus der Untersuchung auf der Entwicklung von Pharmazeutika, insbesondere auf der Frage, wie sich deren Produktion durch die Genomforschung verändert hat. Ein wichtiger Teil der gegenwärtigen Pharmaforschung zielt auf eine »personalisierte Medizin«, d.h. auf die Entwicklung von Medikamenten, die auf die genetischen Merkmale des Patienten oder der Patientin abgestimmt sind (Pharmakogenomik). Sunder Rajan zeigt, wie in diesem Feld wissenschaftliche Wissensproduktion nicht mehr von kapitalistischer Wertproduktion zu trennen ist. Zwei Risikodiskurse durchdringen einander in diesem Segment der Pharmaforschung: das medizinische Risiko von (zukünftigen) Patienten, an einer schweren Krankheit zu leiden, und das finanzielle Risiko der Pharma-Unternehmen, deren hohe Investitionen in therapeutische Entwicklungsprozesse sich schließlich in einer Ware realisieren müssen. Sunder Rajan beschreibt diese Branche als eine besondere Form des Kapitalismus: ein spekulativer Kapitalismus, der weniger auf der Produktion von konkreten Waren als auf Visionen und Erwartungen beruht und in dem die Hoffnung von Kranken auf neue Medikamente und der Hype von Risikokapitalisten um zukünftige Profite eine »organische« Synthese eingehen. Zum Beispiel in einem Forschungskrankenhauses in Mumbay in dem ein Privatunternehmen pharmakogenomische Studien für westliche Pharmaunternehmen durchführt. Die Forschungseinrichtung befindet sich in einem Stadtteil, in dem Menschen leben, die durch den Niedergang der Textilindustrie arbeitslos wurden und verarmten. Die meisten von ihnen haben kaum eine andere Wahl als ihren Körper gegen ein geringes Entgelt als Experimentierfelder biowissenschaftlicher Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Allerdings dürften sie kaum von den neuen Therapien profitieren, die möglicherweise aus dieser Forschung resultieren.Sunder Rajan zeigt überzeugend, wie globale Forschungsarbeiten und klinische Studien auf lokale Verhältnisse rekurrieren und im »Biokapitalismus« die Lebensverbesserung oder -verlängerung der einen an die systematische Ausbeutung der Körper und die gesundheitliche Schädigung Anderer gekoppelt ist. Somit weist das »neue Gesicht des Kapitalismus«, das der Autor beschreibt, durchaus vertraute Züge auf. Thomas Lemke

Erschienen in
GID-Ausgabe
184
vom Oktober 2007
Seite 62

Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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