Ein Symbol des Genom-Zeitalters wankt
Estlands nationale Biobank muss abspecken und die Gründer suchen ihr Heil in einem internationalen Konsortium. Doch was die Wissenschaftler freut, ist den Anlegern ein Graus.
Es war als eines der ambitioniertesten Unternehmen der Genom-Ära gestartet. Ein nationales Prestigeprojekt. Mehr als fünfundneunzig Prozent der estnischen Parlamentarier im "Riigikogu" zu Tallinn hatten im Dezember 2000 - die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts war kurz vorher verkündet worden - der Gründung der nationalen Genom-Datenbank zugestimmt. Mit wehenden Fahnen und unter internationaler Anteilnahme hatte das Eineinhalb-Millionen-Volk im Norden des Baltikums seine endgültige Entfesselung vom sowjetischen Anachronismus vollzogen und sich zugleich als Avantgarde des bio- und informationstechnischen Zeitalters zu präsentieren versucht. Ein modernes Märchen. Doch nun, kaum dreieinhalb Jahre und einen ausgewachsenen Börsenkollaps später, finden sich die Helden dieses märchenhaften Aufstiegs in einer veritablen Krise. "Wenn wir nicht weiter finanziert werden, haben wir im November kein Geld mehr", konstatierte der Mitbegründer des Genom-Projekts, Andres Metspalu, Anfang des Jahres.
Abwendung der Krise
Wenige Wochen später war zumindest das größte Debakel abgewendet. Die Verhandlungen der estnischen Genomstiftung mit dem amerikanischen Hauptinvestor "EGeen Inc" haben ergeben, dass das Projekt zumindest vorläufig nur abgespeckt weiterlaufen wird. In den kommenden drei Jahren sollen in der als größte nationale Biobank gestarteten Einrichtung rund hunderttausend Proben gesammelt werden. Mit den 1,6 Millionen Euro, die EGeen in diesem Jahr investieren will, können zu den zehntausend bisher erfassten Spendern bis zum Jahresende höchstens 5000 weitere Bürger erfasst werden. Das Biotechnikunternehmen "EGeen Inc" hatte mit amerikanischem Risikokapital die Anschubfinanzierung des Genomprojektes übernommen und mit dem Eigentümer und Betreiber der Biobank, der öffentlich-rechtlichen estnischen Genom-Stiftung EGPF, einen Exklusivvertrag für die kommerzielle Nutzung der Genom-Daten abgeschlossen. Eine Art Knebelvertrag, wie Metspalu bald darauf feststellen musste. Kaum war das Projekt gestartet, meldeten die amerikanischen Teilhaber ihre Ansprüche an und dirigierten die avisierten Forschungsprojekte in ihre Richtung. Das war ebenso wenig im Sinne der Erfinder wie der estnischen Öffentlichkeit und der Ärzteschaft, deren Vertrauen die Wissenschaftler in den Jahren zuvor mühsam zu gewinnen versuchten. Der Konflikt eskalierte, als Metspalu und seine estnischen Kollegen Ende 2002 den Vorstand des EGeen-Ablegers verließen und den Poker um die Weiterfinanzierung damit ganz offensiv betrieben. Es ging um rund zehn Millionen Dollar, die das Projekt in den kommenden drei Jahren benötigt. EGeen wollte mit Verweis auf die Krisensituation in der Branche nur drei Millionen anbieten, obwohl sich das Unternehmen bislang für die Übernahme von rund neunzig Prozent der Kosten verpflichtet hatte. Mit einem Drittel der Gelder aber wird das estnische Genom-Projekt nicht einmal die diesjährige Probensammlung beenden können. Im vergangenen Jahr hatte man es nach der Pilotphase immerhin geschafft, an die zehntausend Blutentnahmen zu organisieren. Die Zahl der teilnehmenden Ärzte - ein entscheidendes Kriterium für das Gelingen des Projekts - war sukzessive auf mittlerweile rund 280 im ganzen Land angewachsen. Sie entnehmen nicht nur die in der nationalen Biobank eingelagerten Blutproben, aus denen letztendlich das Erbmaterial gewonnen wird, sondern sie sind auch wichtige Garanten dafür, dass möglichst viele der freiwilligen Spender ihre Fragebögen zu ihrer individuellen medizinischen Geschichte und ihren Stammbaumdaten korrekt und lückenlos ausfüllen. Nur so kann, wenn die Wissenschaftler die Datenbank eines Tages für ihre epidemiologischen Genetikstudien nutzen, das Potential der biomedizinischen Volkserhebung voll ausgenutzt werden. Ziel ist es, aus dem Vergleich der genetischen, medizinischen und genealogischen Daten von Patienten möglichst viele Kandidatengene zu lokalisieren, die bei der Entstehung von komplexen Krankheiten, insbesondere von Volkskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Osteoporose, Depression oder Schlaganfall, eine wichtige Rolle spielen.
Warten auf den Nutzen
Bis es freilich soweit ist, bis die Menschen oder auch die Industrie von der Datensammlung profitieren, werden noch viele Jahre ins Land gehen. "Natürlich würde die Industrie den Prozess gerne beschleunigen und Nutzen daraus ziehen", sagt der an der Universität von Tartu beschäftigte Biotechnologe Metspalu, "aber wir brauchen nunmal mehr Daten, und das dauert seine Zeit." Die andere, in Island zuvor aufgebaute nationale Gendatenbank der Firma "DeCode" hat aus ihrem Datenpool inzwischen zwar mehr als ein Dutzend potentieller Krankheitsanlagen, unter anderem für Schlaganfall und Osteoporose, wenigstens näherungsweise im Genom ausgemacht. Aber kaum eines dieser in der pharmazeutischen Industrie begehrten "Targets" - Zielmoleküle - ist bislang über die erste Stufe der klinischen Untersuchung hinausgekommen. Zur Geduld mahnt Metspalu, während Dagni Krinka, die Leiterin seines Genom-Labors in Tartu, in ihrer umgebauten, mit mannigfaltigen Sicherheitsvorkehrungen ausgestatteten postsowjetischen Kuchenfabrik ungeduldig auf die Lieferung weiterer Blutproben wartet. Die ersten statistischen Analysen haben wenig, aber zumindest schon mal ein bezeichnendes Licht auf genetische Besonderheiten geworfen: Zwei Drittel der Proben stammen von Frauen. Männer seien, Biotechnikeuphorie hin oder her, offenkundig ängstlicher als Frauen, stellt die Laborleiterin selbstbewusst fest.
Internationale Kooperation
Bis zum Jahr 2006, bis Ende der nächsten Finanzierungsrunde also, will man an die hunderttausend Blutproben in dem Hochsicherheitslager des Labors ausgewertet und für unbestimmte Zeit in Stickstofftanks abgelegt haben. Dass es nicht soweit kommen könnte, glaubt wohl auch Metspalu selbst nicht. Zuviel vor allem an internationalem Ansehen steht auch für die estnische Regierung auf dem Spiel. In den Verhandlungen ging es zuletzt augenscheinlich auch darum, inwieweit der Staat, der ohnehin einen wenn auch kleinen Teil des Budgets trägt, finanziell in die Bresche springt. Die Signale jedoch waren widersprüchlich. Der stellvertretende Generalsekretär im Forschungsministerium, Kristjan Haller, hielt die offen stehende Summe gemessen an anderen Haushaltsposten für zu groß und sprach von "vier bis fünf Optionen" - wozu angeblich auch die Beendigung des Projekts zählte. Doch andere aus seinem Haus zitierten den estnischen Regierungschef mit der Aussage, "im Interesse Estlands weitere Mittel bereitzustellen". Wenn es nach den Wissenschaftlern des Projekts geht, wäre letztlich die Kündigung des Vertrags mit der amerikanischen Firma EGeen alles andere als eine Katastrophe. Sie wollen geschäftlich nach dieser Verhandlungspleite nochmal von vorne anfangen - auch und vor allem, weil man international inzwischen weniger auf kurzfristige kommerzielle Erfolge zu zielen braucht, was sich inzwischen hinlänglich herumgesprochen hat. Vor allem aber orientiert man sich in Estland mittlerweile längst auch in Richtung internationaler Forschungskooperation. Früher war Metspalu monatelang auf Akquisitionstournee durch ganz Europa und schließlich in den Vereinigten Staaten, um die private Investoren und die Industrie für seine Vision einer "genomischen Schatzsuche" zu begeistern. Damals sprach er auch von einer "Datenbank des estnischen Volkes" mit mindestens einer Million Teilnehmern. Heute klingen seine Ziele moderater, bodenständiger. Von einem im vergangenen Jahr gemeinsam mit drei anderen großen Biobanken unterschriebenen Memorandum etwa verspricht man sich offenbar auch in Tartu viel. Es handelt sich um ein als "Public Population Project in Genomis" (P3G) bezeichnetes Konsortium, das sich unter kanadischer Federführung dazu verpflichtet hat, die Datensammlungen von vier mehr oder weniger nationalen Datenbanken zu harmonisieren - und vor allem gegenseitig frei verfügbar zu machen. Ein Ziel, das den privaten Teilhabern des estnischen Genom-Projekts natürlich vollständig zuwiderläuft. Beteiligt sind außerdem die in diesen Tagen startende britische "UK Biobank" mit angepeilten 500.000 Teilnehmern, das kanadische "Cart@gene"-Projekt mit bis zu 65 000 Teilnehmern sowie die in acht europäischen Ländern tätige Forschergruppe um die renommierte finnische Genforscherin Leena Peltonen. Auch in anderen Ländern sind in den vergangenen Jahren immer neue solcher mehr oder weniger "nationaler" - vornehmlich aus staatlichen Mitteln unterhaltene - Genom-Projekte entstanden. Und alle verweisen auf ihre langfristigen Perspektiven. Was die Forscher freut, ist den Anlegern ein Graus.
Joachim Müller-Jung ist Leiter des Ressorts „Natur und Wissenschaft“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.