Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit

Prinzipien für eine internationale Debatte über vererbbare Eingriffe in die menschliche Keimbahn

Die aktuellen Debatten über genetische Veränderungen der menschlichen Keimbahn drehen sich häufig um die Sicherheit der Technologie. In dem Bestreben, den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit und Menschenrechtsfragen zu verlagern, hat ein internationales Bündnis entsprechende Grundsätze entwickelt.

Ein mittels K.I. generierter Plenarsaal mit Rängen voller Menschen

Ob der bestehende gesellschaftliche Konsens gegen vererbbares Genome Editing verändert werden soll, muss in einem globalen Prozess geprüft werden. Foto: generiert mittels K.I. (runwayml.com)

Vererbbare Veränderungen des menschlichen Genoms – der Einsatz von Gentechnologien wie CRISPR an Embryonen oder Keimzellen und deren Verwendung zu Fortpflanzungszwecken – würde die Genetik und Eigenschaften künftiger Generationen verändern. Trotz der katastrophalen Auswirkungen, die diese Technologie auf die Gesellschaft haben könnte, wird sie selten als Problem der sozialen Gerechtigkeit oder der Menschenrechte thematisiert. In der öffentlichen und politischen Diskussion wird vererbbares Genome Editing allzu oft als ein Aspekt behandelt, der von Wissenschaftler*innen oder Ethiker*innen zu bewerten sei. Es besteht ein dringender Bedarf an Stimmen aus der Zivilgesellschaft und von Wissenschaftler*innen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, wenn es um die zentrale Frage geht, ob vererbbares Genome Editing überhaupt eingesetzt werden sollte.

Diese Stimmen hörbar zu machen ist das Ziel der Missing Voices Initiative (MVI), einem Projekt der in den USA ansässigen Organisation Center for Genetics and Society. Die MVI bringt Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Wissenschaft zusammen, um Möglichkeiten einer sinnvollen Inklusion zu entwickeln und Aspekte der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte in den Debatten über die vererbbaren Veränderungen des menschlichen Genoms zu stärken. Die Gender Justice and Disability Rights Coalition (vom CGS initiiert im Rahmen des UN Women‘s Generation Equality Forum und später unter dem Dach der MVI) wurde gegründet, um Leitlinien, Modellgesetzgebungen und Instrumente für die Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln, die Geschlechter- und reproduktive Gerechtigkeit sowie die Rechte von Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt der politischen Entscheidungsfindung zu vererbbarem Genome Editing stellen.1 Die Koalition besteht aus 16 Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus zehn Ländern, die in diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen und akademischen Institutionen arbeiten und sich für feministische, behindertenrechtliche, anti-eugenische und sich damit überschneidende Perspektiven einsetzen.

Basierend auf diesem intersektionalen Ansatz hat das Bündnis verschiedene Grundsätze erarbeitet, um die politische Entscheidungsfindung und die öffentliche Beteiligung daran zu leiten. Diese elf Prinzipien „stellen die Gesundheit, die Rechte und die Freiheit von Frauen und Schwangeren vor Ausbeutung in den Mittelpunkt und bekräftigen die volle gesellschaftliche Inklusion und den Wert aller Menschen mit Behinderung“. Sie priorisieren Geschlechter- und reproduktive Gerechtigkeit, sowie die Rechte von Menschen mit Behinderung und gehen gleichzeitig auf die Verflechtung dieser Werte mit Antirassismus, Umweltgerechtigkeit, der Souveränität indigener Völker, LGBTQI+-Rechte sowie den Rechten von Kindern und künftigen Generationen ein. Die Koalition kommt zu dem Schluss, dass es keine Argumente für eine vererbbare Veränderung des menschlichen Genoms gibt, die mit feministischen und anti-eugenischen Grundsätzen vereinbar sind.

Neue Impulse für die Debatte 

Unsere Koalition ist nicht allein in ihrer Einschätzung, wie gefährlich das vererbbare Genome Editing für die Gesellschaft wäre. Tatsächlich gibt es einen weit verbreiteten globalen politischen Konsens über dessen Anwendung. Mindestens 70 Länder verbieten Eingriffe in die menschliche Keimbahn kategorisch – darunter die 29 Länder, die die Oviedo-Konvention des Europarats (Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin), welche die „Veränderung des Genoms von Nachkommen“ verbietet, unterzeichnet und ratifiziert haben – und kein Land der Welt erlaubt es ausdrücklich. Diese Ausgangslage wird in den Diskussionen über Regulierungsfragen häufig heruntergespielt oder ignoriert, und die politische Entscheidungsfindung in Bezug auf das vererbbare Genome Editing als ein unbeschriebenes Blatt dargestellt.

Die Grundsätze bieten der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit – insbesondere Geschlechtergerechtigkeit und die Rechte von Menschen mit Behinderungen – in den Vordergrund der öffentlichen und politischen Diskussion über vererbbares Genome Editing zu rücken. Renommierte Wissenschaftler*innen, Bioethiker*innen, nationale Wissenschaftsakademien, internationale Gremien wie der Europarat und die Weltgesundheitsorganisation und viele andere sind sich einig, dass Entscheidungen über vererbbares Genome Editing nicht allein durch Forschende getroffen werden können und von der breiten Öffentlichkeit beeinflusst werden sollten. Es gibt jedoch diverse Vorstellungen darüber, was eine solche Beteiligung der Öffentlichkeit konkret bedeuten würde.

Die Wissenschaftler*innen und Bioethiker*innen, die bei der Organisation hochkarätiger wissenschaftspolitischer Debatten die Führung übernommen haben, scheinen die Rolle der Öffentlichkeit begrenzen zu wollen. Formate zur „öffentlichen Konsultation“, die scheinbar der Forderung nach öffentlichem Engagement entsprechen, sind zudem sensibel für Manipulation, um die öffentliche Akzeptanz des vererbbaren Genome Editings zu fördern. In den Grundsätzen werden daher diejenigen Elemente im Detail beschrieben, die notwendig sind für eine umfassende, nachhaltige und legitime öffentliche Debatte in der eine echte Einflussnahme der Öffentlichkeit möglich ist.

Solche notwendigen Bedingungen sind präzise und unvoreingenommene Informationen über die Technologie – zum Beispiel die wichtige Unterscheidung zwischen somatischem und vererbbarem Genome Editing – und die Anerkennung, dass es sich bei letzterem nicht um eine medizinische Behandlung handelt.

In den Grundsätzen wird auch die Wichtigkeit davon betont, Vertreter*innen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Wandels einzubeziehen, insbesondere solche, die feministische und anti-eugenische Perspektiven vertreten. Denn diese bringen eine einzigartige Sichtweise ein, auf die breiteren politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sowie den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Technologie erforscht, entwickelt und eingesetzt werden würde. Aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Engagements für eine gerechte und integrative Gesellschaft, sind zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Lage abzuschätzen, wie Keimbahneingriffe mit den existenten Ungleichheiten interagieren und marginalisierten Communities sowie der Gesellschaft insgesamt schaden würden. Stimmen und Perspektiven, die sich ernsthaft mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen, reproduktiver Gerechtigkeit, Antirassismus, Gesundheitsgerechtigkeit und indigener Souveränität auseinandersetzen, würden die Diskussion grundlegend verändern. Die Prinzipien machen deutlich, dass dieser intersektionale Ansatz der Ausgangspunkt für Debatten über vererbbares Genome Editing sein muss.

Die Grundsätze

In diesen Grundsätzen wird eine Vision für die Welt entworfen, in der wir leben wollen, und sie untermauern unsere Einschätzung, dass es kein Argument für die Weiterentwicklung von vererbbarem Genom Editing gibt. In der folgenden Kurzfassung werden die wichtigsten Inhalte aller elf Grundsätze dargelegt. Weitere Informationen zu den einzelnen Grundsätzen finden Sie in dem vollständigen Dokument.2

Grundsatz 1 fordert einen umfassenden globalen Prozess, in dem geprüft wird, ob vererbbares Genome Editing überhaupt weiterverfolgt werden sollte, und zwar in Anerkennung der potenziellen Schäden durch die Humanexperimente, die für die Entwicklung dieser Technologie erforderlich sind, insbesondere bei Frauen und schwangeren Menschen.

Grundsatz 2 fordert, dass Frauen und geschlechtlich diverse Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Kontexten eine führende Rolle in politischen Entscheidungsprozessen zu Keimbahneingriffen erhalten und die Art und Weise anerkannt wird, in der ebendiese Menschen historisch und aktuell an ihrer reproduktiven Selbstbestimmung gehindert wurden bzw. werden.

Grundsatz 3 bekräftigt, dass Entscheidungen über den Einsatz von Biotechnologien wie dem vererbbaren Genome Editing auf einer Haltung beruhen müssen, die alle Lebensentwürfe und die Vielfalt in Bezug auf Körper, Geist und Fähigkeiten wertschätzt.

Grundsatz 4 erkennt die schmerzhafte Geschichte der Eugenik an und fordert Wissenschaft und Medizin auf, sich mit ihrem kontinuierlichen Erbe auseinanderzusetzen, und zwar durch Aufklärung, Maßnahmen gegen genetische Diskriminierung und umfassende Information und Beratung über Behinderungen von werdenden Eltern, die sich einem reproduktiven genetischen Screening unterziehen.

Grundsatz 5 zielt darauf ab, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beenden, indem ein umfassendes Verständnis von Gesundheit gefördert und Lösungen angestrebt werden, die von Menschen mit Behinderungen artikuliert werden, anstatt aufgezwungene technische Lösungen wie vererbbares Genome Editing zu verfolgen.

Grundsatz 6 erkennt an, dass vererbbares Genome Editing gesundheitliche Ungleichheiten nicht beseitigen würde, und fordert eine Politik, die den Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung sicherstellt und die strukturellen und sozialen Wurzeln der gesundheitlichen Ungleichheit beseitigt.

Grundsatz 7 fordert eine Politik, die die Rechte, Interessen, Würde und Gesundheit künftiger Generationen schützt, einschließlich derjenigen, die durch vererbbares Genom Editing geboren werden.

Grundsatz 8 zielt darauf ab, das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Genom und biologische Daten zu gewährleisten und die an der Forschung beteiligten Communities an dem daraus resultierenden Nutzen teilhaben zu lassen, und unterstützt die Forderungen indigener Völker und ethnischer Minderheiten.

Grundsatz 9 fordert die Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Politikgestaltung, um die unbekannten und unvorhersehbaren Schäden von vererbbarem Genom Editing für künftige Generationen zu berücksichtigen.

Grundsatz 10 fordert eine Regulierung, die den Werten Gesundheit, Wohlbefinden, Gerechtigkeit, Gleichheit sowie den Menschenrechten Vorrang einräumt; insbesondere im Hinblick auf eine rasche Kommerzialisierung von Biotechnologien und auf die finanziellen Interessenkonflikte, die dieses Ziel untergraben.

Grundsatz 11 fordert die Entwicklung von Programmen für eine wirksame Beteiligung der Öffentlichkeit und betont die Wichtigkeit davon, verschiedene Perspektiven einzubeziehen, insbesondere diejenigen, die am meisten vom vererbbaren Genome Editing und dessen potenziellen Schäden betroffen wären.

In dem Grundsatzpapier heißt es dazu: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle Maßnahmen im Zusammenhang mit vererbbaren Veränderungen des menschlichen Genoms im Rahmen von reproduktiver Gerechtigkeit, den Rechten von Menschen mit Behinderungen, Antirassismus, Umweltgerechtigkeit, der Souveränität indigener Völker, LGBTQI+-Rechte sowie der Rechte von Kindern und künftigen Generationen angewendet werden.“ Das Bündnis fordert die Regierungen auf, diesen Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte bei der Politikgestaltung im Bereich des vererbbaren Genome Editings Priorität einzuräumen. Es gibt keine Rechtfertigung für die Durchführung von vererbbarem Genome Editing, die mit diesen Grundsätzen im Einklang steht.

Nächste Schritte

Unsere Leitlinien wurden von einer Reihe von verschiedenen Organisationen, Interessenvertreter*innen und Wissenschaftler*innen unterstützt. Wir planen, sie in den Communitys und Netzwerken der Koalitionsmitglieder zu verbreiten und sie an die Medien, politische Entscheidungsträger*innen und Mitglieder einflussreicher Ausschüsse und internationaler Gremien weiterzugeben. Wir hoffen, dass die Grundsätze in mehrere Sprachen übersetzt und für die Verwendung in einer Vielzahl von Ländern, Regionen und internationalen Kontexten angepasst werden.

Auf der Grundlage dieser Grundsätze formuliert die Koalition eine Modellgesetzgebung, die sich ausdrücklich gegen vererbbares Genome Editing ausspricht. Wir werden zudem Werkzeuge und Ressourcen entwickeln, um Interessierte auf der ganzen Welt zu motivieren, sich mit vererbbarem Genome Editing als Thema der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte auseinanderzusetzen. Sie sollen sich mit den Grundsätzen und der Modellregulierung befassen, sie an ihren eigenen nationalen Kontext anpassen und sich für ihre Umsetzung einsetzen. 

Wir möchten Leser*innen ermutigen, das vollständige Grundsatzpapier zu lesen und sich über die kommende Modellgesetzgebung und Ressourcen zu informieren. Ihre Mitwirkung und Ihre Sichtweise werden in den öffentlichen und politischen Debatten über Keimbahneingriffe dringend benötigt.

 

Übersetzung des Artikels ins Deutsche von Dr. Isabelle Bartram.

  • 1Deutsch: Koalition für Geschlechtergerechtigkeit und Behindertenrechte, Online: www.kurzelinks.de/gender-justice oder www.genetics- andsociety.org [letzter Zugriff: 01.02.24].
  • 2Das vollständige englischsprachige Grundsatzpapier wird demnächst auf der Webseite der Coalition zu finden sein (siehe Anmerkung 1). Das Gen-ethische Netzwerk wird eine deutsche Version auf seiner Webseite veröffentlichen.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
268
vom Februar 2024
Seite 14 - 16

Dr. Katie Hasson ist Soziologin und stellvertretende Direktorin des Center for Genetics and Society (USA), www.geneticsandsociety.org.

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Texte Auch auf Englisch

Da es sich bei dem Thema Human Genome Editing um eine internationale Angelegenheit handelt, haben wir ausnahmsweise alle Artikel dieses Schwerpunktes auf unserer Webseite als englischsprachiges Dossier zusammengestellt. Verbreiten Sie es gern weiter an potenziell Interessierte.

www.gen-ethisches-netzwerk.de/HHGE

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