Das Gen ist 100...
... und niemand feiert mit
... und niemand feiert mit. Selbst bei den Genetikern und Molekularbiologen findet keine große Party statt wie noch zum 50-jährigen Jubiläum des „genetischen Codes“. Ernüchterung ist allenthalben spürbar. Doch heißt das, dass wir nun auch die alten Auseinandersetzungen um einen genetischen Reduktionismus hinter uns lassen? Eine kleine Umschau auf neu erschienene und immer noch aktuelle Literatur.
Vor 100 Jahren begann die Karriere des „Gens“, als der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen den Begriff einführte. Allerdings hatte Johannsen damit gar nichts so Genaues vor Auge. Das „Gen“ war im Grunde ein rein hypothetisches, ein formales Ding. Das lag an der Arbeitsweise der Mendelschen Genetiker. Das Einzige, was sie zur Hand hatten, waren äußere Merkmale: Blütenfarbe, Fellmuster, Wuchsformen und so weiter. Durch trickreiche Experimente versuchten sie, die Regeln und Mechanismen der Vererbung (Transmission) solcher Merkmale aufzudecken. Vom Erscheinungsbild („Phänotyp”) schlossen sie auf den zugrundeliegendem Anlagetypus („Genotyp“) – ebenfalls eine begriffliche Unterscheidung, die Johannsen in seinem Lehrbuch „Elemente der exakten Erblichkeitslehre“ einführte. Das ist alles bekannt und auch wieder nicht. Denn das „Gen“ hat von da aus eine sehr eigene Karriere angetreten. Das Gen ist zu einem Mythos geworden, mit dem sich die Welt erklären lässt. Es gab kaum etwas, wozu die Gene nicht herhalten mussten, um die Existenz von Dingen zu beweisen - Dinge, mit denen sich die Mendelsche Genetik oftmals zunächst gar nicht beschäftigt hatte: Rasseneigenschaften, Erbkrankheiten, dann auch Verhaltensunterschiede, die menschliche Abstammung bis hin zum „Egoistischen Gen“, das in Zeiten neoliberaler Neuorientierung zum Signum einer total auf das Individuum abgestellten biologischen Ordnung wurde. Dorothy Nelkin und Susan Lindee haben schon vor einigen Jahren diese Karriere hin zu einem „kulturellen Ikon“ beschrieben. „Das Gen ist zum Supergen geworden. Es wird dazu verwendet, Urteile darüber zu fällen, welche Gesellschaftssysteme moralisch gut und richtig sein sollen. Es wird dazu benutzt, etwas über die Zukunft der Menschheit vorauszusagen.“1
Aufstieg eines Mythos
Was ist von all dem geblieben? Zum Jahrestag des Gens herrscht Totenstille. Gleichzeitig verbreiten die Zeitungen routiniert und unbesehen die Presseerklärungen aus den Universitätslaboren zu neu entdeckten „Genen für dies“ oder „Genen für das“. Das scheint eine widersprüchliche Situation, nicht vergleichbar mit den glänzenden Zeiten, als das Gen das A & O eines genetischen Lebensverständnisses zu sein schien. In der Hochzeit der Mendelschen Genetik waren Begriff und Konzept zwar unter Wissenschaftlern geläufig, ansonsten blieb das Gen uneingängig. Wahrscheinlich hat die populäre Phase des Gens an dem Punkt begonnen, als die Molekularbiologie erstmals in den Genen den Code, die Sprache des Lebens verortet hat - so vermutet Lenny Moss in seiner brillanten Kritik des Genmythos’.2 Buchstaben, Wörter und Information, die in elementare Lebensvorgänge übersetzt werden - all das war nicht nur eingängig, sondern hat die Aura eines Dings erzeugt, das der Molekulargenetiker Scott Gilbert schließlich als den „Gral des Lebens“ bezeichnen sollte. Dies alles gipfelte in der religiösen Metaphorik, die die Genomära umgab (siehe Abbildung).3 Neben der kulturellen Aufladung dürfte allerdings die technische Verwertbarkeit der Gene entscheidend für ihre „Popularität“ gewesen sein. Gene sind technisch-ökonomische Entitäten. Bio- und Gentechnik haben Anfang der siebziger Jahre die Objekte der molekularbiologischen Forschung zu Instrumenten der Manipulation gewandelt. Von jetzt an waren die biologische Dinge synthetisch und die Gene die zentralen Einheiten der Manipulation. Es ist auch das unsichtbare Plastikobjekt, das Risiken zu ‚harten’ Entscheidungs- und Handelskriterien in der pränatalen Selektion macht. Dass die Technisierung des Biologischen eine, wenn nicht die entscheidende Wende darstellte, darin sind sich jedenfalls verschiedene AutorInnen, die einen historischen Rückblick vornehmen, einig.
Im Zeitalter des Natürlichkeitswahns?
Helga Nowotny und Giuseppe Testa zielen mit ihrem Titel „Die gläsernen Gene“ genau auf diese technisch-epistemische Sichtbarkeit der Gene ab. Für sie erklären sich nicht zuletzt hieraus die Widersprüchlichkeiten im Gen-Glauben. Die Gentechnik hat gezeigt, dass das Gen oder besser: die DNA ein ganz normales biologisches Objekt in dem Sinne ist, dass man es manipulieren kann - auch wenn dabei eine Menge Schwierigkeiten auftreten, weil sich eben die reduktionistischen Vorstellungen der alten Genetiker als falsch herausgestellt haben. Aus der Entzauberung erwachsen provokative Fragen. Warum gilt die Manipulation der Gene als Sakrileg? Wir kommen doch sowieso nicht umhin, das Natürliche und uns selbst ständig technisch zu manipulieren. Das manipulierte Gen wird also zur Chiffre einer immer schon oder unwiderruflich künstlich veränderten und technisierten Natur. Die Widersprüche, mit denen wir es heute zu tun haben, liegen dann vor allem darin, dass immer noch eine unlautere Unterscheidung von unberührter Natürlichkeit und manipulierter Natur gemacht wird, so Nowotny und Testa. Das beste Beispiel liefert der Sportbetrieb und seine haarigen Versuche, Training und erlaubte Tricks von Doping zu unterscheiden.4
Im Zeitalter der Epigenetik?
Haben sich aber die Ideen der „alten Genetiker“ wirklich so sehr gewandelt? „Das entmachtete Gen“, „Dolly ist tot“ oder „Gen in der Krise“ lauten die Titel. Sind wir also in einem epigenetischen Zeitalter angekommen, in dem die Genetik zusammen mit anderen Zugangsweisen ein Bild vom Leben entwirft, das komplex ist und den genetischen Reduktionismus ins Absurde führt.5 Vieles weist darauf hin und die Fanfaren, die mit guten Gründen das Ende einer Ära verkünden, fehlen nicht.6 Die Vorstellung, die vielen Darstellungen zugrunde liegt, ist, dass die Geschichte des um das Gen zentrierten genetischen Wissens, des Gendiskurses und damit auch der Politik der Vererbung als eine lineare Abfolge erzählt werden kann, die quasi von Untiefen des genetischen Reduktionismus (und düsterer Vergangenheit) immer höher ans Licht der Erkenntnis strebte. Doch trifft diese Beschreibung zu? Schon der besagte Botaniker Johannsen war überzeugt, dass es „in Bezug auf die Natur der ‚Gene’ sinnlos ist, irgendeine Hypothese vorzutragen“. Johannsen - und mit ihm die meisten anderen Genetiker - hatte große Bedenken, das Gen als ein Partikel zu betrachten und warnte vor der schon damals verbreiteten, verkürzten Rede von „Genen für“ bestimmte Merkmale.
Am Ende des Gens: Es lebe der genetische Reduktionismus?
Tatsächlich hat das „Gen“ in der seiner Geschichte immer verschiedene Bedeutungen gehabt. Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger gehen sogar so weit festzustellen, dass es „zum Prinzip des Gens“ gehört hat, nicht festgelegt zu sein. Jedenfalls ist die wissenschaftliche Karriere des Genbegriffs „nicht durch sein Erklärungspotential, sondern vielmehr durch die Struktur und Dynamik seines Forschungspotentials ermöglicht“ worden.7 Das Gen war also ein nützliches Forschungsinstrument, an dem sich immer wieder neue Fragen entzündet haben. Und die größten Anhänger des Gens waren Praktiker, die hofften, mit dem Gen eine manipulative Einheit in der Hand zu haben. Heute haben sich die Genetik und Molekularbiologie als wissenschaftliche Disziplin mehr oder weniger aufgelöst; sie haben sich durch die Dekonstruktion des eigenen Genbegriffs selbst zum Verschwinden gebracht. Zugleich ist die Genetik aber durch die Ausbreitung ihrer Techniken in den Lebenswissenschaften omnipräsent. Was das für die Zukunft bedeutet, ist keinesfalls klar. Man kann auf eine neue Zukunft hoffen, aber innere Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaft gibt es nicht, die man dafür in Verantwortung nehmen kann. Im Gegenteil, die Erkenntnis, dass der Genbegriff in seiner Geschichte nie vollständig determiniert gewesen ist, sondern immer den epistemischen und technischen Ansprüchen von Wissen-machen und Manipulieren folgte, muss skeptisch stimmen. Im Zeitalter der Postgenomik könnte sich herausstellen, dass der genetische Reduktionismus nach wie vor ein quicklebendiges machtvolles Forschungsinstrument ist und unsere Wissensbestände in seinem Bann hält.
- 1Dorothy Nelkin, Susan M. Lindee: The DNA Mystique: The Gene As a Cultural Icon, New York 1995, S. 16 (eine teilweise aktualisierte Neuauflage ist 2004 erschienen).
- 2Lenny Moss: What Genes Can’t Do, Cambridge 2003, S. 29.
- 3Die Ikonographie des Genomzeitalters ist dokumentiert in: Fabian Kröger, Ch. Schulz, A. Schwerin, U. Wagenmann (Hg.): Angewandte Genetik. Gene zwischen Mythos und Kommerz, Berlin 2002.
- 4Helga Nowotny, Giuseppe Testa: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Frankfurt 2009, S. 33.
- 5Z.B. Bernhard Kegel: Das entmachtete Gen. Wie Erfahrungen vererbt werden, Köln: 2009.
- 6Siehe das lesenswerte Buch von Christoph Then: Dolly ist tot - Biotechnologie am Wendepunkt, Zürich 2008 oder die Beiträge im GID Spezial 2008.
- 7Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt 2009, S. 135.
Alexander v. Schwerin lehrt an der TU Braunschweig Wissenschafts-, Technik- und Pharmaziegeschichte und ist Mitarbeiter im Forschungsprogramm zur „Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin.
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