Zwischen Markt und Qualitätsbürokratie

Das politische Primat der Ökonomisierung

Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit des Arzneimittelwesens (IQWiG), Peter Sawicki, muss den Hut nehmen. Grund dafür ist nicht nur der Lobbydruck diverser Pharmafirmen, sondern auch das politische Primat der Ökonomisierung.

Gigantische Geldströme durchziehen das Gesundheitswesen. Laut Statistischem Bundesamt wurden vor vier Jahren 245 Milliarden Euro für Krankenbehandlungen und Rehabilitation ausgegeben. Zur Kasse gebeten werden dafür mittlerweile vor allem die privaten Haushalte. Sie bezahlen 47 Prozent dieses Finanzvolumens. Die Arbeitgeber steuern nur noch 36 Prozent bei, die öffentlichen Haushalte 17 Prozent. Auch wenn im pausenlosen politischen Reformgerangel vorrangig von „Kostensenkungen“ die Rede ist: Die Gesundheitsausgaben sollen keineswegs sinken, sondern anschwellen und neu justiert werden - weiter zu Lasten der Versicherten. Die solidarischen Anteile werden kontinuierlich demontiert, um „Gesundheitsversorgung“ und „Pflege“ auch in privat zu finanzierende Waren zu überführen, deren Bedarf, Nachfrage und Angebot unbegrenzt mobilisiert werden kann. Das Gesundheitswesen ist eine Chimäre. Es ist einerseits ein begrenzter und staatlich sanktionierter Versorgungssektor, in dem andererseits aber viele privatwirtschaftliche Akteure ihre Medikamente, Geräte und Dienstleistungen anbieten. Deren Absatz ist in gewissen Grenzen garantiert - über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Deren Innovations- und Wachstumsambitionen sind ungebrochen und werden politisch gefördert. Denn: Im Gesundheitswesen werden nicht nur staatliche Budgets belastet. Hier wird gewirtschaftet, produziert und global mit Wissen und Waren gehandelt. Der Arzneimittelumsatz aller Ausgabenträger beläuft sich beispielsweise auf 39,6 Milliarden Euro.

Steuerungsversuche im Gesundheitssektor

Infolge der gegenläufigen Logiken - marktförmige Wachs­­tumsambitionen der Gesundheitsindustrie einerseits und Kostensenkung im öffentlich finanzierten Krankenversicherungswesen andererseits - entstehen Unter-, Über- und Fehlversorgung. Arbeitslosigkeit und Lohndumping strapazieren die Einnahmesituation und die Ausgaben stehen zunehmend im Fokus der Sozialplaner. Ein Versuch, die umkämpften Geldströme zu steuern, ist das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (IQWiG) in Köln. Seit der Rot-Grünen Gesundheitsreform im Jahr 2003 soll das Institut mit seinem renommierten Leiter Peter Sawicki Arzneien, Therapien und Behandlungsleitlinien bewerten. Auftraggeber ist in der Regel der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Das mächtige Gremium mit VertreterInnen aus Ärzteschaft, Krankenkasse und Kliniken (sowie den nicht entscheidungsbefugten Patienten- und Selbsthilfeorganisationen) handelt aus, welche Leistungen die gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlen müssen. Dann durchforsten WissenschaftlerInnen im IQWiG die wissenschaftlichen Publikationen über klinische Studien zu Wirkstoffen und Therapien. Sie prüfen, ob Interessenkonflikte vorliegen, Langzeitstudien durchgeführt oder statistische Ergebnisse plausibel ausgewertet wurden. Sie laden externe Fachleute, Pharmavertreter/innen und kundige Laien zum Gespräch über ihre Vorberichte. Ihre Gutachten spielen bei den Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses eine gewichtige Rolle.

Keine guten Noten

Tatsächlich sind einige wenige Abschlussberichte nicht nach dem Geschmack der Pharmaindustrie ausgefallen. Reboxetin, ein Wirkstoff, der hierzulande für die Behandlung von depressiven Menschen zugelassen ist, hat der evidenzbasierten Prüfung nicht standgehalten. Der Hersteller Pfizer ist von solchen Ergebnissen nicht angetan. Eigene Studien, die wenig therapeutischen Nutzen auswiesen, soll er selbst versucht haben, unter Verschluss zu halten.1 Auch die Stammzell-Transplantation, die bei Leukämie-Kranken durchgeführt wird, hat keine guten Noten bekommen. Es gibt wenig aussagekräftige Studien, die Datenlage ist dünn und jeder dritte Patient würde an den Folgen dieser Transplantation sterben. Auch das Erst-Trimester-Screening in der Schwangerenvorsorge sollte nach Empfehlung des Instituts nicht zur Kassenleistung avancieren. Als privat zu zahlende Leistung (IGeL) wird es aber von niedergelassenen Gynäkologen weiterhin ausgiebig angeboten. Besonderes Aufsehen erregte das IQWiG-Gutachten und die nachfolgende G-BA-Entscheidung, kurzwirksame Insulinanaloga zur Behandlung von DiabetikerInnen Typ 2 nicht mehr über Krankenkassen zu erstatten. Die Kassen müssen diese gentechnisch hergestellten Kunst-Insuline nur noch bezahlen, wenn sie nicht teurer als Humaninsulin sind. Die ebenfalls gentechnisch produzierten Humaninsuline würden das Behandlungsziel „ebenso zweckmäßig und derzeit wesentlich kostengünstiger erreichen“, schrieb der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Pressemitteilung vom 18. Juli 2006. Erstmalig wurde damals eine ganze Gruppe zugelassener Arzneien aus dem gesetzlichen Leistungskatalog gestrichen, weil die Preise als zu hoch angesehen wurden. Die Pharmahersteller waren es gewohnt, die Preise alleine festlegen und nach Zulassung des Präparates auch realisieren zu können.

Problematische Standards

Medizin ist eine empirisch begründete Handlungswissenschaft, die sich wissenschaftlicher Methoden anderer Disziplinen bedient. Sie wendet nicht erst seitdem die „evidenzbasierte Medizin“ in aller Munde ist bei Millionen von Fällen gesammelte Daten auf individuelle Krankheiten an. Und schon seit langem wird dabei statistische „Effizienz“ mit „Wahrheit“ und „Wirkungssicherheit“ verwechselt. Daten, Normalwerte und Durchschnittsmuster können nur einen begrenzten Einblick und lediglich Wirkungswahrscheinlichkeiten bieten. Randomisierte - also von allem Untypischen bereinigte - klinische Studien werden nicht nur mangelhaft durchgeführt oder wider besseren Wissens von Pharmaunternehmen positiv bewertet. Sie entsprechen im Grundsatz nicht den vielen Kranken, die später ihren Ergebnissen gemäß behandelt werden. Das Kollektiv der Probanden wird nach strengen Ein- und Ausschlusskriterien zusammengesucht. Wenn es hoch kommt, entspricht ein Viertel der Patienten eines normalen Krankenhauses diesen artifiziellen Bedingungen. Aus dem Versuch, eine Art „Stiftung Medizintest“ zu machen, kann auch eine „Qualitätsbürokratie“ hervorgehen, die Verschiedenes aus dem Auge verliert: den Entstehungskontext ihrer Daten und die individuellen Kranken. Jede Krankheitssituation hat ihr persönliches Gepräge, jede/r Kranke eine eigene Biografie und Symptomatik. Kranksein ist ein sozialer Tatbestand, der nur in Grenzen vollständig standardisiert werden kann - und sollte. Es gibt ein frühes Beispiel überzogener Normierung. In der griechischen Sagenwelt wird vom Riesen Prokrustes berichtet. Der lud ahnungslose Reisende ein, in Betten mit festgelegter Standardlänge zu übernachten. Durch Kürzen der Beine und Strecken des Körpers regulierte er ihre unterschiedlichen Körpergrößen. Der griechischen Sage nach hat der reisende Held Theseus dem Leben des Prokrustes und seiner Normierungspraxis ein Ende gesetzt, indem er Prokrustes selbst auf eines seiner Betten zurechtstutzte.

Kosten-Nutzen-Bewertungen

Auch wenn unter Leitung von Peter Sawicki und seinem Team vor allem das Qualitätsmanagement zentral war: Sowohl im Sozialgesetzbuch V als auch im Kölner Institut spielen ökonomische Fragen eine gewichtige Rolle. Das Beispiel der Insulin-Analoga zeigt: Es geht auch darum, den „Zusatznutzen“ neuer Medikamente in Bezug zu deren Preisen zu bewerten. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom März 2007 kann das Institut beauftragt werden, das „Kosten-Nutzenverhältnis von Arzneimitteln zu ermitteln“ und „bei der wirtschaftlichen Bewertung auch die Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft“ zu berücksichtigen.2 Die politische Absicht: Pharmahersteller sollen neue Medikamente zu niedrigen Preisen entwickeln und herstellen. Das kann aber auch dazu führen, dass Patienten für sie wirksame Therapien zum Teil oder ganz bezahlen müssen, wenn die Produkte bei der wirtschaftlichen Bewertung durchgefallen sind. Neben dem politischen Willen zur Ausgabenkontrolle kann dies gleichzeitig die erwünschte, private Nachfrage beflügeln. Diejenigen, die es sich leisten können, kaufen die Medikamente. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, werden sich um ihr Leben beziehungsweise das ihrer Angehörigen und Freunde betrogen fühlen. Welche Praktiken in Sachen Kosten-Nutzen-Bewertungen möglich sind, zeigt das britische „National Institute for Health and Clinical Excellence“. Dort wird der „Gewinn an Lebensjahren in guter Lebensqualität“ bemessen. Maximal 30.000 Pfund dürfe ein zusätzliches Lebensjahr die Versichertengemeinschaft kosten. Im neuen Koalitionsvertrag wurde im letzten Jahr vage angedeutet, die „Arbeit des IQWiG auch unter dem Gesichtspunkt stringenter, transparenter Verfahren“ zu überprüfen. Dass Peter Sawicki seinen Hut nehmen muss, hat wenig mit vermeintlich intransparenten Verfahren zu tun. Eher steht zu befürchten, dass sein evidenzbasiertes Qualitätsmanagement dem Primat der „wirtschaftlichen Bewertung“ nachgeordnet werden soll.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
199
vom Mai 2010
Seite 35 - 36

Erika Feyerabend ist Autorin und Journalistin und Mitbegründerin und Mitarbeiterin bei BioSkop e.V. - Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien.

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