„Unauflösbare Gegensätze“
GKV und personalisierte Medizin
In welchem Verhältnis steht die Logik der „individualisierten“ oder „personalisierten“ Medizin zum System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)? Wird die Solidargemeinschaft in der Zukunft - wenn es möglicherweise immer mehr „personalisierte“ Medikamente gibt - die immensen Kosten tragen können, die den Bereich schon jetzt kennzeichnen? Und welche Chancen bietet der Ansatz für die Gesundheitsversorgung?
Herr Müller, wie bewerten Sie den Beitrag, den die so genannte „personalisierte Medizin” heute dazu leistet, die Versorgung zu verbessern? Und was erwarten Sie diesbezüglich für die Zukunft?
Erst mal lassen Sie uns klären, worüber wir sprechen. „Personalisierte Medizin” versteht jeder nach seinem Gusto. Wir haben bisher kein akzeptiertes und auch kein theoretisch fundiertes Konzept für den Begriff. Da sind verschiedene Ideologien am Werk, deshalb plädiere ich auch dafür, diesen Begriff zu meiden.
Wir meinen mit „personalisierter Medizin” die Fokussierung der Behandlung auf bestimmte biologische Merkmale von Patienten, vereinfacht also Präparate, die nur manchen Kranken helfen, oder auch Tests, die auf der Basis biologischer Marker eine nähere Bestimmung der Wirkstoffdosis ermöglichen.
Also die Abbildung des Ansatzes in der Diskussion und auch in der Literatur - das, was manche auch als Hype bezeichnen - findet sich in der konkreten Versorgung heute noch nicht wieder, die klinische Relevanz der so genannten personalisierten Medizin ist bisher gering. Für die Versorgung der Zukunft sehe ich aber durchaus Potenziale, insbesondere die Möglichkeit, die Patientensicherheit zu stärken. Das heißt, nicht nur die so genannten Therapieversager oder „Non-Responder“ durch vorherige Tests zu bestimmen, sondern auch diejenigen, die massiv Schaden nehmen durch nicht beabsichtigte Arzneimittelwirkungen. Ich glaube, dieser Bereich wird in der Diskussion noch zu selten besprochen. Wir haben jedes Jahr zwischen 40.000 und 60.000 Todesfälle aufgrund von problematischen Arzneimittelwirkungen. Vor einer Behandlung den Reaktionstyp zu bestimmen, könnte einen Beitrag dazu leisten, die Sicherheit von Patienten auszubauen. Möglicherweise stiftet der Ansatz gerade hier seinen größten Nutzen.
Auf der Sitzung des Ethikrates haben Sie die Befürchtung geäußert, dass sich die individualisierte Medizin zu einer Bedrohung für die solidarische Gesundheitsversorgung entwickelt. Wie und wo könnte das Konzept die Idee der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) torpedieren?
Das Problem besteht in den unauflösbaren Gegensätzen, die zwischen den Grundprinzipien der GKV und denen der „personalisierten Medizin” bestehen. Ob es nun um Disease-Management-Programme oder um Leitlinien geht, in der GKV können Indikationen und Standardbehandlungen klar beschrieben werden - und zwar für Kollektive. Dagegen geht es bei der „individualisierten Medizin” um eine singuläre Situation. Ein anderer Widerspruch besteht darin, dass die GKV vom Gedanken der Solidarität getragen wird. Wenn Sie in der GKV versichert werden wollen, dann werden Sie versichert, und auch wenn Sie krank sind, werden Sie aufgenommen. Das ist eine große Errungenschaft! Ganz anders die Logik der „personalisierten Medizin”: Sie baut auf Unterscheidung und Diskriminierung auf, und zwar in dem Sinne, dass sie versucht, in Abhängigkeit von biologischen Variationen Personen zu stratifizieren und dann zu behandeln oder eben nicht zu behandeln. Wenn ich aber anhand Ihres Genprofils Ihre Risiken berechne, oder Ihre Erkrankungen vorhersage - das wird ja jedenfalls behauptet - dann kalkuliere ich Ihren individuellen Versorgungsbedarf. Das hat nichts mehr mit der Idee der GKV zu tun.
Aber inwiefern führt das zu Konflikten? Müssen die Krankenkassen diese Risikoberechnungen in ihre Kalkulationen übernehmen?
Das ist nicht so sehr der Punkt. Vor allem wird dieser Widerspruch die Konstruktion von Präventionspflichten nach sich ziehen, und das geht schnell. Es gab zum Beispiel 2007 einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der GKV-Mitglieder verpflichten wollte, sich an Krebsfrüherkennungsprogrammen zu beteiligen, andernfalls wären sie im Krankheitsfall nicht unter die Chronikerregelung gefallen, das heißt ihre Zuzahlung zur Behandlung hätte sich verdoppelt. Das wurde in letzter Minute vom GBA in eine Beratungsverpflichtung umgewandelt - aber Sie sehen an diesem Beispiel, wie schnell Prävention zu einem Zwang gemacht werden kann. Die Idee, sämtliche Gesundheitsrisiken zu berechnen, um sie zu vermeiden, führt eben auch dazu, eine Pflicht für die Gesundheitsvorsorge zu schaffen. Und ein letzter Punkt: Auch die systemischen Auswirkungen der Kosten sind zu bedenken, und zwar auf der Grundlage der heutigen Ausgaben für die so genannten personalisierten Therapien in der Onkologie. Wenn rein rechnerisch bei jedem Krebspatienten ein Jahr Lebensverlängerung erzielt werden könnte, dann entspräche das bei den heutigen Therapiekosten einem Aufwand von jährlich 136 Milliarden Euro - bei einem Gesundheits-Fondvolumen von 170 Milliarden Euro (im Jahr 2010). Und überdies wird ja keiner von diesen Patienten geheilt! Der Aufwand ist absurd. Es geht ja bei den neuen Wirkstoffen oft um wenige Monate progressionsfreien Überlebens im Ergebnis der Behandlung. Das will ich nicht gering reden, aber die Situation wäre völlig anders, wenn die Patienten auch Aussicht auf Heilung hätten. Dafür würden wir alles, was wir haben, ausgeben! Aber das ist leider nicht so. Für die GKV muss das von Hans Jonas ausgerufene „Primat der schlechten Diagnose“ beachtet werden. Deshalb können wir uns auch nicht betäuben lassen mit dem Szenario, das uns die pharmazeutische Industrie in Auftragsgutachten vorlegt.
Was für ein Szenario meinen Sie?
Die Industrie redet die zukünftige Entwicklung gern schön. Nehmen Sie zum Beispiel das Gutachten der Boston Consulting Group im Auftrag des Verbands forschender Azneimittelhersteller (vfa): Darin wird ganz klar gesagt, dass es darum geht, die herausragenden Erfolge der „personalisierten Medizin” darzustellen.1 Oder in der allgemeinen Diskussion wird gesagt: Es gibt keine Kostenexplosion im Einsatzbereich der „personalisierten Medizin”, die Entwicklung der Kosten sei unproblematisch. Das ist überhaupt keine Hilfestellung für diejenigen, die Budgetverantwortung in den Häusern hier tragen! Ohnehin kann nicht der Anbieter eine Aussage treffen und sagen: Meine Angebote sind ganz billig, die wirst du dir die nächsten Jahre leisten können. Das müssen wir schon selber mit bewerten, das darf man dem Anbieter nicht überlassen. Aber was der vfa hier macht - in Gutachten ausschließlich positive Effekte abbilden zu lassen - ist angesichts der Entwicklung der „personalisierten Medizin” unangemessen. Angemessen und verantwortungsvoll wäre eine Gegenüberstellung positiver und negativer Wirkungen, eine Diskussion der Chancen und Risiken. Denn gerade als Kostenträger und Kassenmanager müssen wir uns mit den Gefährdungen - auch der GKV - auseinandersetzen. Das meint das „Primat der schlechten Diagnose". Und wenn es um die tatsächlich wahrscheinliche Kostenentwicklung geht, ist es zum Beispiel sehr hilfreich, sich die Märkte anzuschauen - etwa, um welche Summen es bei Übernahmen von pharmazeutischen Unternehmen geht. Da wird ein extremer Wachstumsmarkt vermutet. Wenn vor diesem Hintergrund behauptet wird, die so genannten individualisierten Therapien könnten langfristig Kosten senken, kann ich nur noch mal betonen, dass alle Erwartungen in die entgegengesetzte Richtung gehen.
Stichwort „Erwartung“: Im Ethikrat haben Sie von einer „Erwartungserwartung“ gesprochen und von Folgerungen und Einschätzungen, die Realitäten schaffen. Wie beurteilen Sie zurzeit den Stand und die Qualität des Wissens über den „personalisierten” Ansatz, insbesondere unter politischen EntscheiderInnen?
Aus meiner Sicht gibt es wenig Sachkenntnis, eine Diskussion findet hier auf niedrigem, oft polarisierendem Niveau statt. Nach einer Position des Spitzenverbandes der GKV zur „individualisierten Medizin” beispielsweise können Sie lange suchen, die gibt es nicht. Auch einzelne Kassenverbände beteiligen sich eher als Zaungäste denn als Akteure in dieser Diskussion. Ich habe den Eindruck, hier wird die „personalisierte Medizin” oft als Licht am Ende des Tunnels betrachtet, aber niemand kommt auf die Idee, dass dieses Licht vielleicht auch von einem sich nähernden Zug stammen könnte. Insofern ist hier dringend eine intensivere Auseinandersetzung mit der „personalisierten Medizin” und insbesondere mit sozialrechtlichen und -ethischen Konsequenzen notwendig.
Sind falsche Vorstellungen von dem, was „personalisierte” Medizin heißt, auch dafür verantwortlich, dass sich Forschungs- und Innovationsförderung auf diesen Ansatz fokussiert, wie Sie in der Veranstaltung des Ethikrates beklagt haben?
Die „individualisierte” Medizin behauptet ja, den Menschen allein anhand der genetischen Disposition zu erklären und zu verstehen. Da besteht die Gefahr, dass die soziale Bestimmtheit des Menschen ausgeklammert oder zumindest vernachlässigt wird. Dieser Biologismus, also die Tendenz, biologische Faktoren pseudodeterministisch zu betrachten, droht dahin zu führen, dass wir soziale Marker - Soziomarker, Psychomarker - vernachlässigen. Ich beobachte seit achtzehn Jahren das Versorgungsmanagement, und klar ist, dass die soziale und die individuelle Situation großen Einfluss nehmen auf das Behandlungsergebnis. Ich sehe eine Gefahr darin, dass wir Forschungsförderung zu sehr als Wirtschaftsförderung anlegen und damit die Bereiche vernachlässigen, die einen großen Outcome für die Verbesserung bei der Patientenversorgung generieren.
Welche Bereiche sind das?
Wenn Sie sich die sechs Felder des derzeitigen Bundesprogramms für Gesundheitsforschung ansehen, ist doch bemerkenswert, dass ein Feld „Gesundheitswirtschaft“ heißt, und ein anderes „Individualisierte Medizin“. Es ist auch beachtlich, dass Sie kein Wort finden zur Methodik der medizinischen Nutzenbewertung, oder zur evidenzbasierten Medizin, oder zu dem großen Bereich der Patientensicherheit und der Behandlungsfehler. Solche Forschungsfelder werden derzeit in der Bundesrepublik nicht gefördert. Da vertrete ich dann schon die Auffassung, dass eine Diskussion und Revision der Forschungsförderung dringend notwendig ist. Und wenn es denn um Wirtschaftsförderung geht, dann muss das auch deutlich gesagt werden - statt unter dem Etikett von Gesundheitspolitik doch nur Industrieförderung zu betreiben.
Sie haben vorhin von der „Behauptung“ gesprochen, dass anhand von Genprofilen Risiken berechnet oder gar Erkrankungen vorhergesagt werden können. Wie beurteilen Sie die tatsächliche Bedeutung solcher Testverfahren für die Gesundheitsversorgung?
Auf jeden Fall ist die Diskussion in diesem Zusammenhang oft unglaublich vereinfachend. Es scheint zum Beispiel immer so, als seien Gefährdungen automatisch reduziert, wenn ich mein Genprofil kenne. Dabei widerspricht das allen Erfahrungen und Untersuchungsergebnissen: Sie können ein tumoröses Lungengewebe auf eine Zigarettenpackung drucken, und trotzdem rauchen die Leute. Studien zeigen, dass das riskante Verhalten gleich bleibt; vielleicht gehen Menschen dann häufiger zum Screening, aber mehr Einfluss hat die Kenntnis eines Gesundheitsrisikos auf das Verhalten nicht. Primitiv ist auch der Glaube an die Tests und ihre Aussagefähigkeit und Sinnhaftigkeit. Sie kennen das Loblied, dass man heute bei der Diagnostik zigtausende von verschiedenen Krankheiten differenzieren kann. Das hilft aber dem Betroffenen nicht weiter - wenn man nicht auch zigtausende Behandlungs- oder zumindest Präventionsoptionen hat. Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten müssen korrespondieren, sonst nützt die ganze differenzierte Darstellung dem Patienten doch überhaupt nichts.
Wie werden Biomarkertests denn überhaupt geprüft und zugelassen?
Viele dieser Tests sind in der Bundesrepublik nicht so diskutiert, dass wir heute schon hinreichende Erkenntnisse hätten über die Sensitivität und Spezifizität und vor allem darüber, wie diese Tests die Versorgung für Patienten am Ende tatsächlich verbessern. Wir unterstellen, dass die Marker sinnvoll und exakt zu bestimmen sind. Dass jede Markerbestimmung aber mit Unsicherheiten verbunden ist, wird oft vergessen. Auf der Ethikratssitzung hat Manfred Dietel, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Pathologie, von einem Ringversuch berichtet, nach dem viele Labore Qualitätsanforderungen nicht gerecht werden. Bei Laboren, die sie bestehen, liegt die Spezifizität und Sensitivität bei der Bestimmung von Biomarkern bei durchschnittlich 80 Prozent - das heißt, selbst wenn sie gut sind und alles bestens läuft, liegt ein Teil der Testergebnisse immer daneben! Diese Fehlerhaftigkeit und Unbestimmbarkeit von Markern ist geradezu charakteristisch für den so genannten individualisierten Ansatz.
Und was bedeuten solche Ungenauigkeiten für Patienten, die bei allen verfügbaren Tests biomarker-negativ sind? Bekommen sie dann trotzdem die Behandlung?
In klinischen Studien ist das ein echtes Problem. Es geht um einen „personalisierten“ Wirkstoff, also kommen nur Patienten, die biomarker-positiv sind. Ein Beispiel ist Trastuzumab: In den Zulassungsstudien wurde der Antikörper nur denjenigen Frauen gegeben, die biomarker-positiv waren. Und erst später wurde festgestellt, dass auch biomarker-negative Patientinnen davon profitierten. Der Bestimmung von Biomarkern folgt eben viel öfter der Ausschluss von Behandlung als ihre Zuweisung. Das ist eine extreme ethische Problematik. Und die Designs der Studien sind oft gar nicht in der Lage, die Effekte abzubilden; Untersuchungen zeigen, dass da systematisch Fehler gemacht werden.2
Ihre Liste kritischer Punkte rund um die so genannte personalisierte Medizin ist ganz schön lang geworden. Haben Sie eine Idee, wie Sie den verschiedenen problematischen Entwicklungen zuvorkommen können?
Grundsätzlich gilt: Bevor wir einzelne Tests und Behandlungen übernehmen, müssen wir sehen, wie sie in die Behandlungsverfahren eingebunden sind und was da noch an Konsequenzen für den Patienten und die Versichertengemeinschaft zu erwarten ist. Wenn Grundprinzipien der GKV wie die Solidarität von solchen Anwendungen tangiert werden, müssen wir das immer auch mit diskutieren. Man muss das Ganze sehen, um das Modul dann richtig und gut einbinden zu können. Wenn wir die Risiken nicht ignorieren, können wir möglicherweise die Chancen realisieren, die das Konzept für eine humanere und bessere Gesundheitsversorgung bietet. Daher empfiehlt es sich, dialektisch vorzugehen: Es gibt rund um den Ansatz der individualisierten Medizin gute Ideen - aber um die umsetzen zu können, müssen wir gerade auch die möglichen Gefährdungen diskutieren.
Herr Müller, der GID dankt für dieses Gespräch!
Das Interview führte Uta Wagenmann.
- 1Vgl. BCG-Report (2011): Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2011 - Biopharmazeutika: Wirtschaftsdaten und Nutzen der Personalisierten Medizin", S.5. Im Netz unter www.kurzlink.de/GID213_p.
- 2Vgl. zum Design von Validierungsstudien für Biomarker auch den Artikel von Schott und Ludwig in diesem Heft.
Hardy Müller arbeitet seit 2009 am Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse für Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) in Hamburg. Seit 2011 ist er außerdem ehrenamtlicher Geschäftsführer des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V. (APS). Hardy Müller gehört zu den Referenten auf der öffentlichen Sitzung des Ethikrates "Personalisierte Medizin - der Patient als Nutznießer oder Opfer?" am 24. Mai diesen Jahres in Berlin.