(K)ein Grund zur Sorge
Während die Bundesregierung die Regelung von Gentests weiter vor sich herschiebt, hat die Europäische Kommission bereits den zweiten Bericht zur Gendiagnostik in Europa vorgelegt. Der Text gaukelt eine Tiefendiskussion gesellschaftlicher Interessengruppen vor. Doch eigentlich hat er das Ziel, kritische Argumente aus dem Weg zu räumen.
Einem aufsteigenden Unternehmen muss es gelingen, das Vertrauen seiner Kunden zu gewinnen. Dieses Geschäftsprinzip hat auch die Europäische Kommission verstanden. Mit dem jüngst vorgelegten Bericht „Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte von Gentests: Forschung, Entwicklung und klinische Anwendungen“ möchte sie Ängste zerstreuen und Vertrauen schaffen. „Wenn die Gendiagnostik bald eine alltägliche Gesundheitsleistung werden soll, dann müssen Patienten und Ärzte lernen, Entscheidungen über die Notwendigkeit eines Tests zu treffen und die Folgen zu verstehen“, liest man in der Einleitung des 120-Seiten Werks. Schließlich hänge der klinische Nutzen genetischer Tests auch davon ab, dass die Patienten sie bereitwillig in Anspruch nehmen. Man muss nur einen Blick in das Impressum werfen, um sich von der Ernsthaftigkeit dieses Anliegens zu überzeugen. In dem 14-köpfigen Expertengremium, das nach einjähriger Diskussion den Bericht herausgegeben hat, sind neben Patientenorganisationen und Wissenschaftlern auch die Konzerne vertreten, die ein Interesse an der Herstellung und dem Verkauf von Gentests haben: Glaxo Smith Kline, Roche und Novartis ebenso wie EuropaBio, die europäische Vereinigung der Bioindustrie. Für die so genannten PatientInneninteressen hat unter anderem Alistair Kent von der britischen Genetic Interest Group (GIG) gesprochen, einer Dachorganisation von Menschen mit erblichen Erkrankungen. GIG ist als eine Lobby-Organisation bekannt, die unter dem Deckmantel von Patienteninteressen eine regelrechte Propaganda-Arbeit für die Förderung der Gentechnik betreibt. „Was müssen Entscheidungsträger verstehen und jetzt tun, um den neuen Technologien zu einem erfolgreichen Start als leistungsfähige diagnostische Hilfstmittel und Forschungsinstrumente zu verhelfen?“ Diese Leitfrage haben sich die von der Kommission berufenen ExpertInnen gestellt. Ihre Antworten sind in 25 Empfehlungen geflossen. Zusammen genommen ergeben sie einen Aktionsplan zur breiten Einführung von Gentests, kaum eingeschränkt durch Regulierungen. Ethische Aspekte sind Teil des Marketing-Konzepts – sie liefern quasi das Gütesiegel für den Fair-Trade Gentest.
„Genetischer Exzeptionalismus“
Allein drei Empfehlungen der Expertengruppe betreffen die „Information und Bildung“ der Bevölkerung. Die Botschaft: Mit dem Glauben an den „genetischen Exzeptionalismus“ muss endlich aufgeräumt werden! Das neue Schlagwort soll die „gefühlsmäßige Einschätzung vieler Menschen“ bezeichnen, „dass Gendaten sich von anderen medizinischen Daten unterscheiden.“ Dieser Volksglauben, so betonen die Autoren, ist schlichtweg quatsch. Er sei darauf zurück zu führen, dass Gentests bisher vorwiegend für seltene Erbkrankheiten angeboten werden, bei deren Ausbruch und Verlauf die Gene sehr stark ausschlaggebend sind. In diesen Fällen handele es sich tatsächlich um heikle Untersuchungen mit weitreichenden Folgen für die private Lebensplanung eines Menschen. Die weitaus größere Zahl der Tests könne als Ergebnis aber lediglich Angaben zu Erkrankungs-Wahrscheinlichkeiten liefern, da die betreffenden Krankheiten nur zu einem Teil genetisch mit verursacht sind. Hier liefere ein Gentest lediglich harmlose Informationen, wie sie beispielsweise auch bei jeder Untersuchung der Blutgruppe gewonnen werden können.
Diskursive Verdrehungen
Die diskursive Verdrehung, die hier geleistet wird, ist nicht zu unterschätzen: Sie versteht es nicht nur, die Kritik am genetischen Determinismus in ein Aufklärungsproblem der Bevölkerung umzumünzen, sondern besitzt gleichzeitig die Unverfrorenheit, die Unschärfe von Gentests als Argument für deren Harmlosigkeit zu nutzen. Wer seine Kritik der genetischen Diagnostik darauf gestützt hat, die überhöhte Bedeutung der Gene in dieser Art von Medizin zu kritisieren, sitzt damit im Trockenen. Wer darauf hinweist, dass Gentests keine zuverlässigen und medizinisch sinnvollen Informationen liefern, ebenso. Die gleiche Argumentationsfigur ist unglücklicherweise auch in der Stellungnahme des Nationalen Ethikrats „Biobanken für die Forschung“ vom 17. März 2004 zu finden. Unter Punkt 22 des Forderungskatalogs ist hier zu lesen: „Wegen der teilweise überhöhten Bedeutung, die dem genetischen Anteil an der Ausprägung körperlicher und insbesondere seelischer Merkmale in der allgemeinen und wissenschaftlichen Diskussion bisweilen zugeschrieben wird, ist nicht auszuschließen, dass Forschungsergebnisse, die Krankheiten mit genetischer Ausstattung assoziieren, von den Betroffenen und ihrer sozialen Umwelt als stigmatisierend wahrgenommen werden. (…) Eine Korrektur dieser Bewertung muss durch Aufklärung erfolgen, nicht durch eine Regulierung der Forschung.“ Beide Behauptungen sitzen dem gleichen Fehler auf: Sie behandeln genetische Tests wie herkömmliche Industrieprodukte, deren „Nebenwirkungen“ durch die bloße Bestimmung von Grenzwerten und adäquate Gebrauchsinformationen einzuschränken sind. So führt die Europäische Expertengruppe beispielsweise an, bei Gentests mit einem „niedrigen Informationsgehalt“ (und darunter sind fast alle Tests zu fassen), sollten die Anforderungen an ein Beratungsangebot nur eingeschränkt gelten. Außerdem könne in solchen Fällen eine mündliche Einwilligungserklärung (informed consent) genügen, wenn DNA-Proben anschließend zu Forschungszwecken verwendet werden sollen. Die Proben von Verstorbenen sollen sogar dann verwendet werden können, wenn eine Einwilligung gänzlich fehlt. Eine solche Haltung blendet nicht nur aus, dass eine Analyse an „Körpersubstanzen“ in den so genannten Biobanken auch noch nach vielen Jahren möglich ist und dann völlig unerwartete Aspekte über deren Spender enthüllen kann. Es wird auch unterschlagen, dass Gentests nicht nur Daten liefern, sondern Ausdruck und Vehikel einer neuen Art des Denkens über Krankheit und Gesundheit sind. Sie halten den Einzelnen dazu an, sich über seine genetischen Risiken zu informieren und die Verantwortung für Vorsorge, Diagnose und therapeutische Maßnahmen zu übernehmen. Allein wer diesem Anspruch nicht gerecht wird oder werden möchte, wird auf Unverständnis stoßen und möglicherweise beim Abschluss einer privaten Versicherung, am Arbeitsplatz oder in der eigenen Familie diskriminiert.
Ängste sollen „korrigiert“ werden
Kein Grund zur Sorge, kontert hier der europäische Bericht: Die Ängste der Bevölkerung seien vor dem Hintergrund der Exzesse des nationalsozialistischen Regimes zwar nachvollziehbar. Inzwischen herrsche aber erstens ein vollkommen anderes wissenschaftliches Verständnis vor und zweitens gäbe es weitreichende politische Schutzvorkehrungen. Die pragmatische Schlussfolgerung der Expertengruppe: „Unterschwellige Ängste vor Eugenik müssen korrigiert werden.“ Ein paar Abschnitte später schließt sie dann folgende Forderung an: „Eltern, die die Geburt eines Kindes mit einem schweren genetischen Defekt vermeiden möchten, sollten wegen dieser Entscheidung nicht mit Schuldgefühlen belastet werden. Genauso wenig sollte von ihnen erwartet werden, dass sie sich die Verantwortung für ein größeres gesellschaftliches Gut aufbürden, dass von der Notwendigkeit, die „menschliche Vielfalt“ zu erhalten, abgeleitet wird.“ Die Stoßrichtung der Europäischen Kommission ist Besorgnis erregend, wenn auch nicht völlig überraschend: Bereits Ende der 80er Jahre hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ein Programm mit dem Titel „Prädiktive Medizin“ vorgelegt, dass zum Ziel hatte, „Personen vor Krankheiten zu schützen für die sie von der genetischen Struktur her äußerst anfällig sind und gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu verhindern.“ Argumentiert wurde unter anderem mit Kostensenkung. Damals schlugen die Wellen hoch in Bundestags und Bundesrats, das Europäische Parlament kritisierte die „eugenische Begründung.“ Bisher lassen öffentliche Reaktionen auf die neue Studie auf sich warten.
Monika Feuerlein ist freie Journalistin und arbeitete mehrere Jahre lang als Redakteurin für den Gen-ethischen Informationsdienst (GID).
Auszug aus den Forderungen der Kommission:
“Es wird empfohlen, 1.b. eine einvernehmliche Definition des Begriffs „Gentest“ zu erarbeiten. 3.a. “genetischen Exzeptionalismus“ zu vermeiden, sowohl auf internationaler Ebene als auch auf Ebene der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Zugleich ist es notwendig, die öffentliche Wahrnehmung, wonach Gentests „etwas anderes“ seien, anzuerkennen und zu diskutieren; 4.a. Informationsmaterialien und –quellen zu Gentests, genetischen Screenings und Pharmakogenetik zu entwickeln und auf EU-, nationaler und lokaler Ebene zur Verbreitung über verschiedene Medien zugänglich zu machen; 4.b. Informationen über Fortschritte und Möglichkeiten auf dem Gebiet der Medizinischen Genetik in die wissenschaftlichen Lehrpläne aller Schulstufen aufzunehmen (Grundschule bis Universität und berufsbildende Schulen) 6.a. medizinisch relevante Gentests als integralen Bestandteil des Gesundheitswesens zu betrachten. 7.a. dass die Europäische Union einen konsistenten Rechtsrahmen schafft, um die Einführung genauer Qualitätsstandards für alle Gentestdienstleistungen und –anbieter, einschließlich eines Akkreditierungssystems für Gentestlabors, zu gewährleisten; 8.a. (bei Screenings:) Maßnahmen zu treffen, die es gestatten, zu prüfen ob ein Test sinnvoll ist: es muss sich um genetische Veranlagungen handeln, die ein ernsthaftes Krankheitsbild auslösen kann, die Testergebnisse müssen einen hohen Vorhersagewert („hohe Prädiktivität“ besitzen und die Möglichkeit von Therapiemaßnahmen muss gegeben sein (einschließlich reprouktiver Wahlmöglichkeiten); 9.a. Im Rahmen des Gesundheitswesens zu gewährleisten, dass Personen die sich Gentests unterziehen, mit den wichtigsten Informationen versorgt und das Angebot einer persönlichen genetischen Beratung und ärztlichen Rates erhalten, und sofern dies angemessen erscheint (…) sollte das Angebot einer speziellen Beratung obligatorische sein und die Patienten mit Nachdruck dazu ermuntert werden, dieses Angebot auch zu nutzen; 10.a. Gendaten von klinischer und/oder familiärer Bedeutung in gleichem Maße zu schützen wie andere sensible medizinische Daten; 17.a. dass der Rechtsrahmen für Gentests von der EU und anderen internationalen Organisationen weiter ausgestaltet wird, und zwar in einer Weise, die sowohl der Notwendigkeit neuer Tests als auch der Bedeutung der Sicherheit, klinischen Validität und Zuverlässigkeit Rechnung trägt; 19.a. dass nationale Gesundheitsbehörden eine aktivere Rolle übernehmen bei der Förderung von Entwicklungen im Bereich der Pharmakogenetik; 20.a. EU-weit koordinierte Leitlinien zu entwickeln, die sicherstellen, dass die Verwendung von Gewebeproben, einschließlich solcher aus Archivsammlungen, nicht über Gebühr verzögert, erschwert oder verhindert wird, insbesondere nicht, wenn der Anonymisierungsgrad oder Re-Identifikationsgrad der Proben den Anforderungen genügt; 24.b. dass die EU-Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, die erlauben, das anonymisierte Gewebeproben von Verstorbenen für Zwecke der Genforschung, zur Entwicklung neuer Gentests sowie zu Lehrzwecken verwendet werden dürfen. 25.a. dass die Verwendung von Gewebe und zugehörigen Daten von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen zu Forschungszwecken nur zu gestatten, wenn dadurch auch ihren Interessen gedient ist;”