Testen im "Königreich des Ungewissen"

Ein Medikamententest in Großbritannien hatte für sechs Männer drastische gesundheitliche Folgen. Der Vorfall wirft Fragen hinsichtlich der Sicherheit bestimmter gentechnisch hergestellter Medikamente auf. In erster Linie aber wirft er ein Licht auf die zunehmende Kosten-Nutzen-Orientierung bei klinischen Studien.

Einer der Probanden lag 16 Tage nachdem ihm eine minimale Dosis des monoklonalen Antikörpers TGN1412 gespritzt wurde, noch immer auf der Intensivstation. Drei Versuchspersonen befinden sich weiterhin "unter besonderer ärztlicher Behandlung", zwei weitere konnten die Londoner Klinik inzwischen verlassen.(1) Insgesamt acht völlig gesunde Männer zwischen 18 und 40 Jahren waren am 13. März dem Aufruf der deutschen Pharmafirma TeGenero gefolgt, die für die Teilnahme an einem Medikamententest pro Person 2.000 Pfund (rund 3.000 Euro) in Aussicht gestellt hatte ­ im Vergleich zu den sonst üblichen Entschädigungssummen bei klinischen Studien ist dies eher ein hoher Betrag. Dies wirft die Frage auf, wie "freiwillig" die Teilnahme der Probanden gewesen ist. Der 28-jährige Mohammed Abdalla beispielsweise wollte mit dem Geld Schulden begleichen und seine Familie in Ägypten unterstützen.(2) In der Webanzeige für den klinischen Versuch war kaum ein Wort über mögliche Risiken verloren worden; stattdessen wurden eine gute Bezahlung, gutes Essen und "viel Zeit zum Lesen, Lernen oder einfach Entspannen (...) mit kostenlosem Internetanschluss" angekündigt. Doch unmittelbar nachdem die Mediziner Mohammed Abdalla und fünf weiteren Versuchspersonen im Northwick-Park-Krankenhaus geringe Mengen des neu entwickelten Antikörpers verabreicht hatten, erlitten die Probanden einen lebensbedrohlichen Schock: Ihre Köpfe schwollen an, sie wanden sich vor Schmerzen, lebenswichtige Organe fielen aus. Zwei der Männer blieben beschwerdefrei, weil sie als Kontrollpersonen Placebos bekommen hatten.

Alle Vorschriften erfüllt?

Über die Ursache des Schocks, den Mediziner auf eine Überreaktion des Immunsystems zurückführen, wird seither nur spekuliert. Der Hersteller TeGenero zeigt sich "schockiert" und beteuert, "intensive präklinische Tests" hätten "keinerlei Anzeichen für ein Risiko" gezeigt.(3) Das neu entwickelte Medikament habe sich in Tierversuchen als sicher erwiesen, versichert auch der wissenschaftliche Leiter der Firma, Thomas Hanke. Herstellungsverfahren und Tests hätten "den Vorschriften entsprochen". Tatsächlich hatten weder die britische Arzneimittelbehörde MHRA noch die ehemalige Ethikkommission der Ärztekammer Berlin und die für biologische Arzneimittel zuständige Bundesbehörde in Deutschland, das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), am Versuchsdesign etwas auszusetzen. In Deutschland und in Großbritannien wurde die Genehmigung für die Testung des Medikaments in einer klinischen Studie der Phase I erteilt ­ die erste Erprobung des zuvor nur an Tieren getesteten Arzneimittels an Menschen. Weil die britische Behörde etwas früher als die deutsche grünes Licht signalisierte, ließ TeGenero die Studie schließlich in London und nicht in Berlin durchführen. Die deutschen Behörden werden nun froh darüber sein. Möglicherweise seien Verunreinigungen bei der Herstellung des Produkts oder Dosierungsfehler verantwortlich gewesen, sagte PEI-Präsident Johannes Löwer der Tageszeitung FAZ. In den tierexperimentellen Daten habe es jedenfalls "keinerlei Hinweise" für die Gefahr einer solchen Überreaktion gegeben: Selbst wenn Makakenaffen, die als geeignetes Modelltier für den Menschen gelten, eine 500mal größere Dosis als den Versuchspersonen verabreicht worden war, seien höchstens geringe Schwellungen der Lymphknoten aufgetreten.(4)

Der "SuperMAB"

Eine mindestens ebenso wahrscheinliche These lautet aber, das Immunsystem der Probanden habe auf den Wirkstoff schlichtweg völlig anders als das Immunsystem der Affen reagiert. TGN1412 könnte zu einer Überstimulation von so genannten T-Zellen geführt haben ­ weißen Blutkörperchen, die bei gesunden Menschen die Immunabwehr auslösen. Eine "unspezifische Aktivierung" dieser Abwehrzellen, so mutmaßt Ken Campbell vom Leukaemia Research Fund in London, habe vermutlich "zu einer Zerstörung von Zellen jeglicher Art geführt".(5) Im Klartext heißt das: Es ist wahrscheinlich, dass das Immunsystem der Probanden im eigenen Körper Amok lief. Dies könnte erklären, warum bei ihnen gleich mehrere Organe versagt haben. Dass TGN1412 grundsätzlich zu einer Überproduktion solcher Abwehrzellen führen kann, war den Herstellern bei der Firma TeGenero durchaus bekannt. Genau genommen sollte auf dieser Wirkung sogar das Therapieprinzip beruhen: Bei dem Medikament handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper - ein künstlich hergestelltes Eiweißmolekül, das durch Andocken an die Oberfläche von T-Zellen die Immunabwehr des Körpers stimuliert [siehe Kasten 1: Stichwort: monoklonale Antikörper]. Der neue Wirkstoff unterscheidet sich aber von allen bisher zugelassenen Antikörpern dadurch, dass er eine weitaus stärkere Immunabwehr auslöst, wobei ein zentraler Kontrollmechanismus des Immunsystems umgangen wird. Normalerweise sind zwei verschiedene Signale nötig, um die Produktion von Abwehrzellen auszulösen: Eines, das die Zellen quasi "warnt" und eines, das signalisiert, welche Abwehrzellen zu dem jeweiligen Erreger passen. TGN1412 schließt dieses System sozusagen kurz - er stimuliert direkt alle Abwehrzellen, ohne das zweite, erregerspezifische Signal abzuwarten. Außerdem, so schreiben die Erfinder des Wirkstoffs um den Würzburger Wissenschaftler Thomas Hünig in ihrer Patentschrift, werden weitaus mehr T-Zellen als normalerweise produziert. Dies könne sich positiv bei Leukämiepatienten auswirken, bei denen die Zahl der Abwehrzellen als Folge des Tumors und der invasiven Behandlung stark gesunken ist. Zur Umsetzung dieses Therapieprinzips gründeten die Wissenschaftler die Firma TeGenero. Der Wirkstoff lief fortan auch unter dem Namen "SuperMAB". [siehe Kasten 2: Zukunft mABs?]

Eine neue Strategie

Aufhorchen lässt, dass TeGenero die Angabe der Indikation für die therapeutische Verwendung von TGN1412 noch nach der Zulassung der klinischen Studien und der Bewilligung öffentlicher Fördermittel geändert hat: Laut FAZ wurde dem Medikament im Frühjahr 2005 von der europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde, EMEA, ein vereinfachter Zulassungsstatus zuerkannt ­ als Mittel gegen chronisch lympathische Leukämie, die häufigste Leukämieform im Erwachsenenalter. TGN1412 sollte mit Geldern des Bundesforschungsministeriums an unheilbar kranken Leukämiepatienten getestet werden. Doch völlig unerwartet änderte TeGenero seine Strategie: In Tierversuchen hatte der Wirkstoff offenbar bestimmte regulatorische Abwehrzellen stärker als andere Abwehrzellen stimuliert. Die Forscher schlossen daraus, TGN1412 könne bei Autoimmunerkrankungen ein überaktives Immunsystem ausbalancieren.(6) Das Medikament sollte daraufhin ­ wie es bei dieser Art nicht lebensbedrohlicher Krankheiten des Immunsystems empfohlen wird ­ zunächst an gesunden Menschen getestet werden.

Testen mit Profit?

Zwei Wochen nach dem Testschock kursiert auch der Vorwurf, es habe Unregelmäßigkeiten bei der Ausführung des Tests gegeben. Es wird kritisiert, dass alle sechs Personen gleichzeitig getestet wurden. Das Mittel sei allen Probanden innerhalb von zwanzig Minuten verabreicht worden, berichtete einer der Versuchsteilnehmer. Im Versuchsprotokoll waren hierfür zwei Stunden vorgesehen. Dies wirft Fragen auf nach der Art und Weise, wie heutzutage unter Bedingungen der Wirtschaftlichkeit Forschung an Menschen betrieben wird. Die klinische Studie am North West London Hospital, bei der die Männer zu Schaden kamen, wurden im Auftrag von TeGenero von der US-amerikanischen Firma Parexel durchgeführt. Diese global agierende Dienstleistungsfirma ist auf das Management von klinischen Studien spezialisiert und verspricht, bei der Medikamentenentwicklung "Zeit, Risiko und Kosten zu sparen". Solche Contract Research Organisations (CROs), die im Auftrag von Pharmamultis oder Biotech-Startups Studien entwerfen, Teilnehmer rekrutieren, mit Ethikkommissionen verhandeln und die Resultate der Studien vermarkten, sind nach einem Bericht der Zeitschrift Bioskop schon seit längerem im Kommen: Sie dehnen Studien in "alternative Länder" wie Osteuropa und die südlichen Kontinente aus. Sie handeln vor allem unter Kosten-Nutzen-Kriterien und bisweilen skrupellos.(7) Erst Anfang März war bekannt geworden, dass sich in Kanada elf Patienten bei einer klinischen Studie, mit Tuberkulose infiziert hatten. Durchgeführt worden war die Studie von einer weiteren Contract Research Organisation, der unter anderem auch ein Verstoß gegen baurechtliche Vorschriften in Testeinrichtungen und Mobbing vorgeworfen wird.(8)

Segensreiche Antikörper?

Dass sich alle Verantwortlichen nun völlig "überrascht" zeigen, löst bestenfalls Verwunderung aus. Denn dass monoklonale Antiköper in seltenen Fällen schwere Nebenwirkungen haben können, ist schon seit längerem bekannt: "Wann immer klinische Versuche mit Antikörpern zu unerfreulichen Überraschungen führten, sind unzureichende Kenntnisse der biologischen Funktion ihres Zielpunktes im Körper" verantwortlich gewesen, heißt es in einem Editorial der Zeitschrift Nature Biotechnoloy. Die Firmen sind dennoch interessiert: Denn angesichts der Zielgenauigkeit der Antikörper gelten diese im Vergleich zu anderen Wirkstoffmolekülen als "König im Königreich der Ungewissen".(9) Erst im Jahr 2004 wurde in den USA ­ noch während klinische Studien liefen ­ der monoklonale Antikörper Tysabri, ein Multiple-Sklerose-Mittel, zugelassen. Dann traten bei Medikamententests an 5.000 Probanden mindestens fünf Fälle einer schweren Viruskrankheit auf ­ bei zwei Probanden mit tödlichem Verlauf. Die betroffenen Firmen (es handelt sich um ein Koprodukt von Biogen Idec und Elan) setzten daraufhin freiwillig die Studien aus. Es blieb unklar, ob Tysabri selbst oder eher seine Kombination mit anderen Medikamenten für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich war. Eine These lautet, dass das Medikament die Migration von Abwehrzellen zum Gehirn und damit die Kontrolle des Immunsystems verhindert hat.(10) Die Berater der US-amerikanischen Zulassungsbehörde haben das Grübeln erstmal auf die lange Bank geschoben: Sie sprachen sich vor einer Woche für eine beschleunigte Zulassung des Mittels aus.(11)

Fußnoten

  1. Aktuelle Informationen des North West London Hospitals, www. nwlh.nhs.uk/news/item.cfm?id=97.
  2. Rebecca English, "Elephant man couldn't resist drug test money", Daily Mail, 20.03.06.
  3. TeGenero, "Statement über TGN1412", 17.03.06.
  4. Volker Stollorz, "Der Schock im Testlabor", FAZ 20.03.06.
  5. "Catastrophic immune response my have cause drug trial horror", New Scientist.com, 17.03.06.
  6. FAZ 20.03.06.
  7. Erika Feyerabend, "Global, effizient, schnell, preiswert", Bioskop 32, Dezember 05.
  8. Arthur Caplan, "Risky Business: Human testing for a profit", MSNBC.com, 24.03.06.
  9. "King in the kingdom of uncertainty", Editorial, Nature Biotechnology Vol.23. No. 9, September 05.
  10. Scott et al., "The Problem with Potency", Nature Biotechnology Vol.23. No. 9, September 05.
  11. Ärzte Zeitung, 23.03.06.
Erschienen in
GID-Ausgabe
175
vom April 2006
Seite 42 - 44

Monika Feuerlein ist freie Journalistin und arbeitete mehrere Jahre lang als Redakteurin für den Gen-ethischen Informationsdienst (GID).

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Stichwort: monoklonale Antikörper

Wenn Erreger oder Giftstoffe (so genannte Antigene) in die Blutbahn eindringen, bildet der Körper von Menschen und Tieren bestimmte Eiweißmoleküle, die Antikörper genannt werden. Diese neutralisieren die Antigene und lösen gleichzeitig eine weitere Immunreaktion des Körpers aus. Die Antikörper werden von weißen Blutkörperchen, den B-Zellen, gebildet und sind exakt auf einen bestimmten Erreger ausgerichtet. In einer natürlichen Abwehrreaktion werden immer mehrere B-Zellen zur Produktion von Antikörpern angeregt. Dabei werden von unterschiedlichen B-Zellen jeweils Antikörper gebildet, die in ihrer Struktur etwas voneinander abweichen. Das hat den Vorteil, dass ein Erreger von den Abwehrzellen auch dann erkannt wird, wenn er im Laufe einer Infektion seine Oberfläche leicht verändert. Für den Einsatz in Medizin und Forschung ist diese Vielfalt aber oftmals nicht erwünscht: Die Medikamente sollen sich hier meist gegen einen spezifischen Erreger richten und die Abwehrprozesse gegen diesen aktivieren - oder bestimmte unerwünschte Immunreaktionen unterdrücken. Seit rund zwei Jahrzehnten werden daher so genannte monoklonale Antikörper aus Abwehrzellen von Mäusen künstlich hergestellt: Dabei wird im Reagenzglas eine B-Zelle, die den gewünschten Antikörper produziert, mit einer Krebszelle verschmolzen. So entstehen B-Zellen, die praktisch unbegrenzt lebensfähig sind, sich also immer wieder teilen, und große Mengen eines spezifischen Antikörpers bilden. Diese monoklonalen Antikörper ­ der Begriff "Klon" bezieht sich hier auf die Nachkommen einer einzigen Zelle ­ enthalten aber immer noch "Mausbestandteile" und würden vom menschlichen Körper abgestoßen werden. Hier kommt die Gentechnik zu Einsatz: Bestimmte Teile der Antikörper-DNA werden durch DNA-Abschnitte des Menschen ausgetauscht. Das Endprodukt wird als "humanisierter Antikörper" bezeichnet und verkauft. Ihren Einsatz finden sie in der Therapie und Diagnose von Krebs, zur Unterdrückung der Abstoßungsreaktion nach Organtransplantationen und zunehmend bei Autoimmunkrankheiten. (mf)

Zukunft mABs?

Eigentlich dürften Pharmaunternehmen an monoklonalen Antikörpern (monoclonal antibodys, mABs) überhaupt nicht interessiert sein: Sie sind "groß und klobig, schwierig herzustellen und schwierig zu verwenden", heißt es im Editorial der Fachzeitschrift Nature Biotechnology, die im letzten Jahr einen Schwerpunkt zu diesem Thema veröffentlichte. Und als sei das nicht genug, scheint auch noch jeder kleine Produktionsabschnitt von unterschiedlichen Menschen erfunden und patentiert worden zu sein. Das sind alles Eigenschaften, bei denen Pharmahersteller normalerweise die Beine in die Hand nehmen. Doch dem ist nicht so: Seit vor rund zehn Jahren die gentechnische Herstellung so genannter "humanisierter" Antikörper gelang, die das Risiko einer Infektion mit tierischen Erregern gegen Null rückten, wächst der Markt: 10 Milliarden US-Dollar wurden im Jahr 2004 mit mAbs für therapeutische Zwecke umgesetzt, die jährlichen Zuwachsraten schätzen Marktforschungsinstitute auf 20 Prozent. Auf dem US-amerikanischen Markt sind inzwischen 18 Produkte aus mABs zugelassen, 150 weitere werden derzeit getestet. Die Krebsmittel Herceptin und Rituxan gehören zu den Blockbustern. Bisher werden die meisten dieser Medikamente von kleinen Biotechfirmen entwickelt ­ aber die großen Pharmaunternehmen, die sich bisher eher auf die Herstellung kleinerer Moleküle konzentriert haben, gehen mit diesen Kooperationen zur Entwicklung von mAbs ein und strecken ihre Fühler aus. An der Produktion von TGN1412 war der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim beteiligt. Die Tendenz geht dahin, die Indikationen der ursprünglich bei Krebspatienten oder nach Organtransplantationen eingesetzten mAbs auch auf Autoimmunkrankheiten wie rheumatoide Arthritis oder Multiple Sklerose auszuweiten. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass gerade bei diesen Krankheiten die Gefahr von unerwünschten Nebenwirkungen weitaus größer ist. (mf) Quelle: Nature Biotechnology Vol.23. No. 9, September 05.