Mit dem Brustkrebs-Gen bis ins Labor
Weitwinkel und Nahaufnahme
Gerade selbstverständliche Dinge stellen sich bei näherer Betrachtung oft als schwer fassbar heraus. Anders formuliert: Je näher man diesen Dingen kommt, desto unschärfer werden ihre Konturen; sie zerstreuen sich. So stellt sich auch immer wieder die Frage: Was eigentlich ist ein Gen? Eine Untersuchungsskizze aus Anlass seines 100. Geburtstages.
Vor zwei Jahren saßen an der University of California in Berkeley 25 Genetiker zusammen, um die scheinbar simple Frage zu klären: Was ist ein Gen?“, schreibt Ulrich Bahnsen 2008 in der ZEIT. „Der Versuch, den Grundbegriff ihres Fachgebiets präzise zu definieren, erwies sich jedoch als überaus diffizil. Das Expertentreffen wäre fast im Desaster geendet, erinnert sich Karen Eilbeck, Professorin für Humangenetik in Berkeley und Gastgeberin der Runde: ‚Wir hatten stundenlang Sitzungen. Jeder schrie jeden an‘“.1 Ob sich dies so zutrug, mag dahingestellt bleiben. Aber es handelt sich um eine schöne Geschichte, die uns vor Augen führt, dass Genforschung ein offenes Projekt ist und Gene wandelbare Dinge sind. Mit Hans-Jörg Rheinberger gehe ich davon aus, dass Gene nicht gleich Gene, sondern vielmehr „unscharfe Objekte“ sind, welche „unscharfe Begriffe“ erzeugen und genau in dieser Unschärfe ihre Produktivkraft für die Forschung entfalten.2 Gene erfreuen sich enormer Popularität. Wir begegnen ihnen bereits in der Schule - wer kennt nicht die Taufliege Drosophila melanogaster, das „Haustier der klassischen Genetik“?3 Sie verfolgen uns in den Medien („Erstes Baby ohne Brustkrebs-Gen in London erwartet“; siehe Kasten) und je nach Lage rücken sie in unsere Lebenswelt mittels Gen-Diagnostik vor. Schließlich - und das macht sie so attraktiv - besetzen sie den menschlichen Körper bis in die letzte Zelle und versprechen Mehr-WisseZu dem großen Ausschnitt vgl. Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag, 1996, S. 107. Die „Nahaufnahme” findet sich ausführlich in meiner 2009 im Bielefelder transcript-Verlag erschienenen Studie. (Eine Rezension folgt in der nächsten GID-Ausgabe.)n (über Krankheiten etc.), Mehr-Leben (durch Gen-Diagnostik und Gen-Therapie) und Mehr-Geld (für entsprechende Leistungen). In diesem Beitrag möchte ich das Brustkrebs-Gen (BRCA1, BRCA2) in drei Schnappschüssen einfangen. Dabei werde ich den Fokus zunehmend verengen: Vom großen Ausschnitt der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ von BRCA über das institutionalisierte Brustkrebs-Gen der Medizin bis hin zur Nahaufnahme eines Berliner Labors der Gen-Diagnostik und Gen-Forschung zwischen 2005-2007.4
BRCA: „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“
Anfang der 1990er Jahre gelang es, BRCA1 auf einer bestimmten Chromosomenregion zu lokalisieren. Kurze Zeit später folgte BRCA2. Das Material für diese „Forschungserfolge“ lieferten Familien, in denen gehäuft über mehrere Generationen Brustkrebs (und/oder Eierstockkrebs) vorkam. Der Familiäre Brustkrebs wurde so zu einem Modell für die Forschung. Vererbungswissen, Gentechnologie, Versprechen, Familien, Material (Blutproben, DNA) und Forschung gruppierten sich um die ‚Entdeckung’. Zuerst war das Brustkrebs-Gen als Gewusstes existent, weil man im Stammbaum der Vererbung sah, dass es vorhanden sein musste. „Sie sehen das im Stammbaum“, so etwa Siegfried Scherneck von der Arbeitsgruppe Tumorgenetik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. „Da muss irgendwas sein“.5 Dann strebte alles zur Sichtbarmachung - ein Produzieren im Zum-Vorschein-Bringen.6 Man rückte dem Gen - einem Abschnitt DNA, einer Aneinanderreihung von Basenpaaren - durch den Einsatz molekularer Methoden und Werkzeuge auf seinen nicht vorhandenen Leib. Blutproben bildeten die materielle Basis dafür, ein Körperinneres umzustülpen und nach Außen zu transportieren, es sichtbar und erforschbar zu machen. Mitte der 1990er Jahre wurden BRCA1und BRCA2 dann mittels positioneller Klonierungsstrategie isoliert. Ende der 1990er Jahre schien sicher: Bei BRCA1 und BRCA2 handelt es sich um Tumorsuppressorgene. Die Mutation platzierte sich als bedeutende Gen-Figur im Zentrum des wachsenden Wissens über die beiden Gene: „Mutationen in Tumorsupressorgenen bilden die Grundlage der erblichen Disposition für verschiedene Tumoren beim Menschen“, heißt es beispielsweise bei Scherneck und Jandrig 1997 im Handbuch Onkologie.7 Auch gegenwärtig wird die Vorstellung gemeinhin anerkannt, dass Tumorsuppressorgene in zwei Schritten deaktiviert werden. Demnach wird eine Mutation zunächst von einem der Elternteile an den Nachkommen über die Keimbahn vererbt (wenn es sich nicht um eine spontane somatische Mutation handelt). Das zweite Allel ist somit noch nicht betroffen. Die Schutzwirkung des Gens beziehungsweise Proteins geht erst verloren, wenn eine zweite, spontane Mutation auftritt. Damit sind dann beide Allele betroffen und die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöht sich deutlich, da spezifische Proteine nicht mehr gebildet und somit wichtige Funktionen nicht mehr erfüllt werden können. Kurze Zeit nach der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ der beiden Gene Mitte der 1990er Jahre musste man jedoch feststellen, dass bei weitem nicht in allen Fällen, in denen man aufgrund des Stammbaums eine Mutation vermutete, auch tatsächlich eine solche gefunden werden konnte.8 Was man im Stammbaum sah, fand sich auf molekularer Eben nicht wieder. Das, was eintreffen sollte, geschah nicht. Die Substanzwerdung der beiden Gene schloss nicht etwa den Spalt zwischen Erwartung und Erfüllung, sondern sperrte ihn im Gegenteil weiter auf.
Das institutionalisierte Gen
Auf die Entdeckung der beiden Gene Mitte der 1990er Jahre folgte aber nicht nur Ernüchterung bezüglich ihrer biologischen Wirkungsmacht. Relativiert wurden in den sich an die Entdeckung anschließenden Forschungen auch viele der Hoffnungen auf die Übertragung der Erkenntnisse auf den sporadischen Krebs und auf schnelle Fortschritte im therapeutischen Sektor. Es ist vor allem der diagnostische Bereich der Medizin, in welchem sich der Einsatz genetischer Testungen in den letzten Jahren enorm verbreiten konnte: Gen-Diagnostik. Im Fall von BRCA ist das nicht zuletzt institutionellen Unternehmungen geschuldet: 1997 startete die Deutsche Krebshilfe das Schwerpunktprogramm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ mit Beratung und Diagnostik bei hereditärem Brustkrebs an zwölf Kliniken im gesamten Bundesgebiet.9 Das Verbundprojekt erhielt zwischen 1997 und 2004 insgesamt 14 Millionen Euro von der Deutschen Krebshilfe.10 Hier stand nicht mehr zur Diskussion, ob Gentestung angeboten werden soll, sondern nur noch wie. Im Verbundprojekt war man sich einig, dass die Diagnostik nur durchgeführt werden sollte, wenn eine entsprechende Versorgung für die Betroffenen bereitgestellt würde. Von der Finanzierung durch die Deutsche Krebshilfe wanderte das Programm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ im Rahmen des Verbundes in die Regelversorgung und damit in die Finanzierung durch die Krankenkassen. 2005 wurde ein Mustervertrag gemäß §116 b Abs. 2 SGB V über „die Risikofeststellung und interdisziplinäre Beratung, Gendiagnostik und Früherkennungsmaßnahmen von Ratsuchenden mit familiärer Belastung für Brust- und/oder Eierstockkrebs“ von den Krankenkassen unter Führung des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen e.V. und der Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. in Abstimmung mit den Zentren des Verbundprojektes und dem bisherigen Geldgeber Deutsche Krebshilfe aufgesetzt und auf Länderebene umgesetzt. Es ist bemerkenswert, wie kurz die Zeitspanne zwischen der Sequenzierung von BRCA1 und der Etablierung einer genetischen Diagnostik war. Kaum hatte man das Gen, schon sollte es medizinisch eingesetzt werden. Von einer Einbahnstrasse darf jedoch mitnichten gesprochen werden. Genauso, wie das Gen Einzug in eine medizinische Praxis hielt, war die medizinische Praxis Herstellungsort von Labormaterial. Das Verbundprojekt diente nicht nur als Experimentierfeld für prädiktive Medizin, sondern auch für die Genforschung. Heute ist das Brustkrebs-Gen in der Regelversorgung angekommen. Dazu gehört auch, dass es eine ganze Batterie an Standards gibt, nach denen im Gefüge der Brustkrebs-Gene agiert wird - agiert werden soll.
Gen-Praktiken im Laboralltag
Ich gehe mit Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star davon aus, dass ein Standard erstens ein Set von gemeinsamen Regeln für die Herstellung von Gegenständen ist und Standards sich zweitens durch eine bestimmte Reichweite auszeichnen, somit Produktionsprozesse an verschiedenen Orten miteinander in Beziehung treten können, Dinge sogar austauschbar werden.11 Hören wir, was uns dazu aus dem Laboralltag im Verbundprojekt Familiärer Brustkrebs heraus gesagt wird: „Ein Standard hat sich definitiv nicht etabliert. Einen arbeitstechnischen Standard haben wir nicht. Also ich spreche jetzt nur hier von meiner Arbeit. Vom Konsortium generell kann ich es nicht sagen, wobei ich ein Teil dessen bin. Und ich denke, dass wir da im letzten Jahr viel gemacht haben. Ich denke, da haben wir viel standardisiert und insofern vieles in eine Form gepresst. Und wir sind immer noch dabei“.12 Auf der einen Seite unterscheiden sich die Laborpraktiken der Arbeitsgruppen des Verbundprojektes, auf der anderen Seite sollen einheitliche Analysestandards für die Methoden der Diagnostik etabliert werden. Insofern lässt sich sagen, dass der Standard immer etwas von einer idealisierten Form hat, die zumindest im Alltag des Labors nicht glatt funktioniert. Es ist ein aktiver Prozess, der zwischen Standards und Standardisierungen mäandert und über die lokale Praxis eines einzelnen Labors hinausweist. Im jeweiligen Labor muss die Spannung zwischen den lokalen Ist-Zuständen und den innerhalb des Verbundprojektes angesetzten Soll-Zuständen produktiv umgesetzt werden. In diesen Alltagspraktiken, so mein Eindruck, werden die Insignien der Diagnostik - Routine, Stabilität, etablierte Verfahren - in ihrer Fragilität vorgeführt. Überall im Labor trifft man auf Störungen. Es braucht eine gewisse Erfahrung, um mit diesen Unwägbarkeiten umzugehen. Das Brustkrebs-Gen ist alles andere als ein einfach zu bearbeitendes Ding! Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es im Labor vor allem eines zeigt: Mutationen sind rar. Die sorgfältige Recherche nach gefundenen Mutationen ist nicht nur Teil der Diagnostik, sondern immer auch Teil der Forschung. Diese ‚Hybridität’ des Laboralltags beschreibt eine Interviewpartnerin so: „In den Anfängen habe ich mich gefreut, wenn ich eine Mutation gefunden habe. Weil wir als Wissenschaftler und in dem Labor, wo wir arbeiten, immer auch an Forschungsergebnissen interessiert waren. Und eine neue Mutation bedeutet immer eine Bereicherung unseres Forschungsfeldes. […] Da boten sich neue Möglichkeiten zu forschen und man hat sich gefreut. Aber die Konsequenz für die Familie ist eine ganz andere. Und in meiner Tätigkeit habe ich gelernt, damit anders umzugehen.“ Insofern gehört die Mutation also zu zwei verschiedenen Ballungsräumen. Sie wandert zwischen Forschung und Diagnostik hin und her. Sie ist ein key player für das Mäandern der Testpraxis zwischen Klinik und Forschung.13 Diese Verschaltung von Forschung und Medizin im Auge zu behalten ist nicht unwichtig, insbesondere wenn man über die Bedeutung des genetischen Tests nachzudenken beginnt.
Gen-Spannungen
BRCA-Forschungen bewegen sich allerdings auch schon längst in neue Felder, in denen Mutationen von Polymorphismen/SNPs und anderen Entitäten abgelöst werden. Solche Forschungsbewegungen führen im Alltag der Diagnostik immer wieder zu Verunsicherungen: „Wir hatten neulich erst die Situation, dass wir einen Befund von einem Privatlabor hatten und die haben einen SNP, also einen Polymorphismus der Patientin dahingehend beschrieben, dass er mit einem erhöhten Krankheitsrisiko korreliert. Wir haben das bislang völlig außer acht gelassen - für uns war das ein SNP und das ist auch nach wie vor so. […] Das macht mich ein bisschen unsicher: Wie gehen wir in der Befunddarstellung, die ja doch eine wichtige Information für den Patienten ist, damit um“. Im Labor muss der Mensch diese Gen-Spannungen aushalten lernen und/oder blind werden. Das produzierte Wissen lässt nämlich - auf Papier gebracht - keine Unmöglichkeiten zu. Die Verläufe sind durch vertragliche Vorgaben festgezurrt: Entweder man findet eine Mutation oder nicht. Entweder eine Person wird in das Programm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ eingeschlossen oder nicht. Im Alltag dagegen wimmelt es von Grautönen. Mit diesen versucht man sich zu arrangieren. Wirklichkeit erweist sich als sehr viel brüchiger und komplizierter, als es Formalia (festgehalten in Dokumenten wie den Anlagen zum Vertrag mit den Krankenversicherungen) vorgeben oder vortäuschen. Diese Kompliziertheit reibt sich an den festen Formen, in die sie eingefangen wird und springt darüber hinaus. Inwieweit die Form also den Inhalt bestimmt oder ob der Inhalt es vermag, die Form zu verändern, ist eine Frage, die im Alltag der Gene virulent auftritt. Die aus der sperrigen Wirklichkeit resultierenden Probleme werden so gut es geht instrumentell eingefangen. Die Herstellung technischer Bilder mildert Anflüge von Verunsicherungen ab. Wenn ein Gel oder eine Sequenz nicht gut aussieht, wird das Herstellungsverfahren wiederholt; dies gilt ebenso für Sonographien oder Mammographien. Es wird alles getan, damit die Produktion von Wissen zu einer stabilen Größe wird.
Standardisierung als Antwort?
In welchem Verhältnis stehen also Standard und Stabilität zu den Grautönen des Alltags? Im Labor ist es ein Ziel, die Widerstände zu beseitigen oder zu integrieren, um einen reibungslosen Ablauf zu bewerkstelligen. Das ganze passiert in einer Bewegung wachsender Technisierung. Der Mensch als Fehlerquelle scheint zunehmend hinter den Maschinen zu verschwinden. Automatisierung, so die Logik, bedeutet Reduktion - von Fehlern und von Kosten. Aber Automatisierung bedeutet noch ganz anderes. Erstens: Maschinen lohnen sich nicht für kleine Stückmengen. Ergo wird man, um die Technik lohnend einzusetzen, den mitgebrachten Materialhunger stillen müssen. Dies wiederum läuft in der Tendenz auf Zentralisierungen in Großlaboren hinaus. Zweitens: Menschen sollen ebenfalls standardisiert, also ersetzbar, beliebig austauschbar gemacht werden. Dagegen steht die Bedeutung des Einzelnen mit seiner Erfahrung und Kreativität in der Mensch-Technik-Interaktion. Dies betrifft nicht nur Prozesse der Etablierung von Maschinen, sondern auch den Umgang mit und die Produktion von Ergebnissen. Nur ein wissender und erfahrener Mensch kann zu kreativen Umwegen lenken und über Probleme nachdenken. Dazu wiederum braucht es Zeit und eine institutionelle Umgebung, die diesen Frei-Raum des nichtstandardisierten Handelns ermöglicht. Nun kann man zurecht einwenden, dass lange Grübeleien in der Produktion diagnostischer Ergebnisse nichts zu suchen haben. Was passiert mit dem Nichtwissen, wenn alles darauf hinstrebt, gewusst zu werden? Die Erfahrung des Nichtwissens verlagert sich auf die Ebene von Problemlösungen. Standardisierung und Technisierung tragen zur Bewerkstelligung eines Ablaufs bei, ohne dass es notwendig wäre, die Dinge im Einzelnen genauer in Augenschein zu nehmen. In meinen Beobachtungen des Laboralltags lernte ich, dass die einzelnen Akteure in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern viel tun, um gewissenhaft mit den Sperrigkeiten und Problemen umzugehen. Sie werden kaum leichfertig übergangen. Über die Sinnhaftigkeit der Praktiken wird aber eher selten nachgedacht. Die molekulargenetische Testung beispielsweise wird abgearbeitet, wobei Störungen integriert und/oder behoben werden. Die Tatsache, dass nur bei etwa einem Drittel der Proben auch eine Mutation gefunden wird, ist allen präsent. Sie wird in den Alltag integriert, der Alltag wird nicht hinterfragt. Die Schrumpfung wird nicht nur unsichtbar; sie wird auch strategisch abgesichert. So wird beispielsweise gesagt, dass es immer noch sehr viele Diagnosen seien, die wiederum den Betroffenen helfen würden. In seiner Verschränkung mit dem Begehren nach gesundem Leben ist das ein wirkmächtiges Argument. Aber was bedeutet Hilfe/Heilung? Und wer ist der im Labor imaginierte Patient? Ein weiteres Argument ist, dass die Krankenversicherungen die Testungen nicht bezahlen würden, wenn sie nichts einbrächten. Aber was genau bedeutet dieses ‚Einbringen’? Was ist unter Erfolg zu verstehen, wenn Gendiagnostik in die Regelversorgung übernommen wird? All diese Fragen verschwinden. Sie werden von einem Alltag verschluckt, in welchem es vorrangig darum geht, den Ablauf nicht zu gefährden, Ergebnisse zu produzieren und Probleme zu lösen. Gen-Diagnostik im Laboralltag geschieht in einem Zeitfenster, welches optimiert, sprich eingeschrumpft werden soll. Zeit ist Geld! Auch dies spricht für die Technisierung, setzt aber voraus, dass alles glatt läuft. Daraus lediglich die Konsequenz abzuleiten, dass alle mehr Zeit haben müssten, wäre zwar verkürzt. Mehr Zeit wäre aber immerhin eine Bedingung für die Möglichkeit, sich an einem anderen Zugriff auf die Präsenz von Wissen und Nichtwissen (!) üben zu können. Derzeit erweckt die Praxis der Gendiagnostik und -forschung - zumindest bei BRCA - jedenfalls den Eindruck, dass ein Agieren nur noch und ausschließlich in einem Spiel stattfinden kann, dessen Spielregeln den Akteuren unsichtbar bleiben.
- 1Vgl. Bahnsen, Ulrich (2008): Erbgut in Auflösung, Die Zeit Nr. 25, www.zeit.de/2008/25/M-Genetik, zuletzt gesehen am 14.11.2009.
- 2Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg (2006): Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 222.
- 3Ebda, S. 322.
- 4Zu dem großen Ausschnitt vgl. Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag, 1996, S. 107. Die „Nahaufnahme” findet sich ausführlich in meiner 2009 im Bielefelder transcript-Verlag erschienenen Studie. (Eine Rezension folgt in der nächsten GID-Ausgabe.)
- 5Interview mit Siegfried Scherneck am 30.03.2006 und am 05.04.2006 im Rahmen meiner Studie (siehe Fußnote 4).
- 6Kamper 1995 weist darauf hin, dass diese Art der Produktion „Vorstellen, Darstellen, Ausstellen“ zugleich ist. Kamper, Dietmar (1995): Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München: Fink Verlag: S. 39.
- 7Scherneck, Siegfried/Jandrig, Burkhard: Bedeutung molekulargenetischer Veränderungen für eine verbesserte Risikoabschätzung beim Brustkrebs, in: Zeller, W. Jens/zur Hausen, Harald (Hg.): Handbuch Onkologie: Grundlagen, Diagnostik, Therapie, Entwicklungen, Landsberg/Lech: Ecomed, 1997, 1-21, S.1.
- 8Vgl. beispielsweise Narod, Steven A./Foulkes, William D.: BRCA1 and BRCA2: 1994 and beyond, in: Nature Reviews, Vol. 4, 2004, 665-676, S. 673.
- 9Vgl. zu dem Programm auch die wiederholten Berichte im GID, zum Beispiel Nr. 139, April 2000, S. 38-40, Nr. 151, Mai 2002, S.34-37, Nr. 161, Dezember 2003, S.31-35 oder Nr. 188, Juni 2008, S. 41-45.
- 10Vgl. Gerhardus, Ansgar/Christ, Monika/Gadzicki, Dorothea/Haverkamp, Alexander/ Hoffrage, Ulrich/Krauth, Christian/Schleberger, Henriette/Schlegelberger, Brigitte: Erblicher Brust- und Eierstockkrebs - BRCA. Beratung - Testverfahren - Kosten. Ein Health Technology Assessment für den AOK-Bundesverband, Hannover 2004, S. 148.
- 11Bowker, Geoffrey C./Star, Susan Leigh: Sorting Things Out: Classification and Its Consequences, Cambridge, Massachusetts/ London, England: The MIT Press, 2000.
- 12Dieses und die folgenden Zitate sind meiner Studie (siehe Fußnote 4) entnommen; die Interviews wurden im März 2006 durchgeführt.
- 13Vgl. die Studie über BRCA in Frankreich von Pascale Bourret: BRCA Patients and Clinical Collectives. New Configurations of Action in Cancer Genetics Practices, in: Social Studies of Science, Vol. 35, No. 1, 2005, 41-68, S. 54.
Sprachpolitik
„Designer-Baby ohne Brustkrebs-Gen“, so titelte die Tagessschau am 20.12. 08, von einem „Baby ohne verändertes Brustkrebsgen“ wurde am 9.1.09 bei Spiegel Online berichtet*. Diese Meldungen sind bemerkenswert. Sie machen deutlich, wie eng Gen und Krankheit verwoben sind. Sprich: Der Name ist Programm! Brustkrebs-Gen - wer würde bei diesem Namen nicht an die Krankheit Brustkrebs denken und das Gen hierfür verantwortlich machen? Dementsprechend scheint es nur konsequent, wenn das „gefährliche Gen“ beseitigt, sprich ein Kind ohne dieses Gen geboren wird. Genetisch betrachtet haben aber alle Menschen - Männer und Frauen - Brustkrebs-Gene. Erst durch eine Mutation auf einem dieser beiden Gene wird die Wahrscheinlichkeit (!) erhöht, dass die betreffende Person an Brust- beziehungsweise Eierstockkrebs erkrankt. Brustkrebs-Gene, das machen die genannten Meldungen deutlich, schreiben eine pathogene Signatur ins Leben, zu der es keine Alternative gibt. Wo das Gesunde seinen Weg über das Kranke nimmt, bleibt das Kranke unweigerlich haften.
(Sonja Palfner)
(*) Vgl. www.tagesschau.de/ausland/praeimplantationsdiagno… 100.html und www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,600419,…
Die Politikwissenschaftlerin Sonja Palfner ist Postdoktorandin im DFG-Graduiertenkolleg „Topologie der Technik” an der TU Darmstadt und war zwischen 2005 und 2007 Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie” an der Berliner Humboldt-Universität. Aktuell richten sich ihre Forschungsinteressen auf die Geschichte des Deutschen Klimarechenzentrums Hamburg, auf Infrastrukturentwicklung in der Wissenschaft und auf Gen-Forschung und Biomedizin. 2009 veröffentlichte sie eine Studie zu Brustkrebs-genen unter dem Titel „Gen-Passagen. Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen“ im Bielefelder transcript-Verlag.