DNA-Sammelwut in Gütersloh

Die Grauzone Massengentest wird immer mehr ausgeweitet

Massengentests dienen keinesfalls nur dazu, Personen ausfindig zu machen, deren DNA an einem Tatort gefunden wurde. Mit den Tests wird auch ein Klima erzeugt, in dem verdächtig ist, wer sich verweigert. In einem Mordfall im Landkreis Gütersloh haben Ermittlungsbehörden die Unschuldsvermutung jetzt mit Hilfe eines Massengentests auch ganz praktisch ausgehebelt: Die Verweigerer wurden von Polizei und Staatsanwaltschaft als Tatverdächtige behandelt.

Der größte polizeiliche Massengentest in Nordrhein-Westfalen und der zweitgrößte überhaupt in der Bundesrepublik - durchgeführt im ostwestfälischen Gütersloh zwischen 2009 und 2011 - fand zwar in überregionalen Medien keine Beachtung, muss aber in mehrfacher Hinsicht als ein Novum gelten. So operierten die Ermittler von Anfang an mit einer fragwürdigen Tatorthypothese: Das Mordopfer, eine 67-jährige Frau, war im Mai 2009 in einem Kornfeld im Gütersloher Stadtteil Blankenhagen erwürgt aufgefunden worden. Obwohl einige Indizien darauf hindeuteten, dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort war, beantragte die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwaltschaft Bielefeld beim Amtsgericht die Erlaubnis für einen Massengentest in der gesamten Stadt - obwohl solche lokal begrenzten Tests nur dann Sinn in einer Ermittlung machen, wenn ausreichend Anhaltspunkte dafür sprechen, dass Täter beziehungsweise Täterin aus der ausgewählten Region stammen. Zur rechtlichen Begründung beziehungsweise Legitimation des Massengentests diente einzig das DNA-Identifizierungsmuster, das Rechtsmediziner in Münster aus den an der Ermordeten gefundenen „biologischen Täterspuren“ hergestellt hatten und das die Ermittler als forensische „Täter-DNA“ präsentierten. Auch wenn die kriminalistische Sinnhaftigkeit einer DNA-Reihenuntersuchung angesichts dieser Ausgangssituation kaum zu erkennen ist, erging sofort der beantragte richterliche Beschluss. Er lautete auf „Ermittlungen gegen Unbekannt“, und das im Beschluss beschriebene „Täterprofil“, das den Kreis derjenigen, die zur freiwilligen Abgabe einer Speichelprobe aufgefordert werden, begrenzen soll, beschränkte sich im Wesentlichen auf die Erwähnung des Geschlechtes und auf den Ort.

Massive Mobilisierung

Damit kam der Richterbeschluss einer weit interpretier- und anwendbaren Blankovollmacht gleich. Der Beschluss erlaubte einen flächendeckenden Massengentest in ganz Gütersloh; konkret ermächtigte das Gericht die Polizei dazu, maximal 50.000 Männer im Alter zwischen 14 und 80 Jahren zur sogenannten freiwilligen Abgabe einer Speichelprobe aufzufordern. Die zuständigen Ermittlungsbehörden - die eingerichtete Mordkommission „Korn“ und das Landeskriminalamt Düsseldorf (LKA) - konnten das fragile Ermittlungsinstrument Massengentest also nach eigenem Ermessen im gesamten Stadtgebiet von Gütersloh zum Einsatz bringen, das heißt die Größe des Untersuchungsraumes und den Umfang der DNA-Untersuchungspopulation selbst bestimmen. Dass die Polizei den Beschluss letztendlich „nur“ in einem Radius von 1,5 Kilometern rund um den Fundort der Ermordeten umsetzte, das heißt hauptsächlich in zwei Gütersloher Stadtteilen Aufforderungen zur Speichelprobenabgabe verschickte, war sicherlich vor allem dem Aufwand geschuldet, den es erfordert hätte, den Massengentest auf weitere Stadtteile auszudehnen. Der organisatorische, personelle und materielle Ressourceneinsatz der Polizei bei dessen Vorbereitung und Durchführung war auch so schon massiv. Das biokriminalistische Pilotprojekt, das die Polizei unter Federführung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums und des Landeskriminalamtes in Gütersloh praktizierte, hatte Züge einer schönen neuen DNA-Ermittlungswelt: „Kein Mann“, so wird Ralf Gelhot, Leiter der Mordkommission „Korn“, im Westfalenblatt zitiert, „durfte dem Gentestraster entgehen“. Genau das gelang auch: Die polizeiliche Ermittlungsmaschinerie erreichte bis April 2010 ein Sammelergebnis von 11.487 abgegebenen Speichelproben, das entspricht 99,8 Prozent der männlichen Bevölkerung in den beiden betroffenen Stadtteilen. Trotz dieser hohen Teilnahmequote blieb der Test erfolglos: Alle gesammelten Speichelproben (je eine A- und eine B-Probe) 1 wurden im - neu angeschafften - kriminaltechnischen Speziallabor des LKA in Düsseldorf, teilweise auch im Institut für Rechtsmedizin in Münster molekulargenetisch untersucht und mit der „Täter-DNA“ verglichen. Eine Übereinstimmung wurde aber nicht gefunden.

Von der Verweigerung zum Mordverdacht

Bemerkenswert ist, wie unkritisch die aufgerufene männliche Bevölkerung ihre Speichelproben abgab. Ein wesentlicher Grund dafür sind sicherlich die öffentlichen Verlautbarungen und Beteuerungen des Staatsanwaltes und der polizeilichen Ermittler, dass das entnommene Biomaterial ebenso wie die daraus gewonnenen Daten bei Nichtübereinstimmung mit der „Täter-DNA" vernichtet würden. Nur 0,2 Prozent, genau 27 Personen, misstrauten diesen - in der Tat zweifelhaften - Behauptungen und verweigerten die Abgabe ihrer Speichelprobe.2 Diese kleine Gruppe der Verweigerer berief sich auf ihr vom Grundgesetz geschütztes Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht und verwies auf die rechtlich garantierte und durch diverse Verfassungsgerichtsurteile präzisierte Freiwilligkeit des DNA-Tests. Offensichtlich machten sich die 27 Unwilligen in den Augen der Ermittler damit verdächtig: Nachdem der Massengentest kein mit der so genannten „Täter-DNA“ übereinstimmendes DNA-Profil hatte finden können, konzentrierten sich auf sie nun alle weiteren Ermittlungen. Den 27 polizeilich markierten „schwarzen Schafen" wurde zunächst vom Staatsanwalt und der Mordkommission „Korn“ eine Zeugenrolle in dem Mordfall zugeschrieben - ohne dass sie tatsächlich Zeugen der Mordtat waren: Mit der Begründung der Zeugenvernehmung verpflichtete die Staatsanwaltschaft sie zum Erscheinen in der Kreispolizeibehörde Gütersloh. Erschienen die Verweigerer dort allerdings, so mutierten sie vom Zeugen zum „Tatverdächtigen“: Sie wurden aufgefordert, dem Staatsanwalt für die Tatzeit ein Alibi vorzulegen. Aber damit nicht genug: Obwohl gegen keinen der 27 Verweigerer auch nur der Hauch eines Verdachts bezüglich der Mordtat bestand, stellte der Staatsanwalt zehn von ihnen - und zwar gleichzeitig - unter Totschlag- beziehungsweise Mordverdacht. Damit war die rechtliche Grundlage gegeben, die Abgabe ihrer Speichelproben mittels Gerichtsbeschluss zu erzwingen. Die Ermittlungsrichterin erließ zehn so genannte Reihenbeschlüsse, mit denen ein „körperlicher Eingriff zur Gewinnung von Körperzellen beim Tatverdächtigen" angeordnet wurde. Die Gerichtsbeschlüsse setzten also Menschen einer falschen Mordbeschuldigung aus und leiteten ihre polizeiliche Strafverfolgung ein, nur weil sie sich einem „freiwilligen“ Massengentest verweigert hatten.

Rechtsbeugung und Verfolgung Unschuldiger

Ein schon als polizeistaatlich zu qualifizierendes Vollstreckungs-Exempel vollzogen die Ermittler an dem Verweigerer S., der seinen Standpunkt offensiv gegenüber dem Staatsanwalt und der Polizei vertrat. Ohne dass ihm die beiden Gerichtsbeschlüsse - zur Erzwingung der Speichelprobe und zur Wohnungsdurchsuchung - von den Beamten vor dem Zugriff eröffnet und ausgehändigt worden wären, wurde er unter massiver Gewaltanwendung zur Kreispolizeibehörde mitgenommen, wo er zur Abgabe einer Speichelprobe gezwungen wurde. Sein Anwalt reichte daraufhin unverzüglich Beschwerde beim Landgericht Bielefeld ein, um die Rechtswidrigkeit aller Zwangsmaßnahmen feststellen zu lassen und hatte damit den erwarteten Erfolg. Das Landgericht erkannte die umfängliche Rechtswidrigkeit, sah in dem erfolgten biophysischen Körpereingriff „einen tiefgreifenden Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers“ und attestierte ihm ein rechtliches und materielles Rehabilitationsinteresse. Außerdem konstatiert das Landgericht gravierende Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze: Die Ablehnung der freiwilligen Teilnahme an einer polizeilichen DNA-Untersuchung begründe „keinen Anfangsverdacht" gegen den Verweigerer, weil die „erforderlichen anderen verdachtsbegründenden Kriterien in seiner Person fehlen“. Zudem kritisiert das Landgericht die „Fallanalyse" des Landeskriminalamtes zum Täterprofil, auf die das Bielefelder Amtsgericht seinen Beschluss über die Durchführung des Massengentests stützte: Die Täterbeschreibung der Ermittlungsbehörden sei „derart allgemein", dass damit „im Wesentlichen nur weibliche Personen als Täter ausgeschlossen werden können“. Und nicht zuletzt unterstreichen die RichterInnen der 10. Strafkammer, dass niemand gezwungen sei, den Nachweis seiner Unschuld selbst zu führen. Mit dem Vorgehen im Rahmen des Massengentests in Gütersloh habe eine untragbare Beweislastumkehr stattgefunden; die geltende Unschuldsvermutung wäre auf den Kopf gestellt oder gar suspendiert worden. Verweigerer S. gibt sich aber nicht damit zufrieden, dass das Landgericht die Rechtswidrigkeit der erzwungenen Speichelprobenentnahme anerkannte. Sein Anwalt hat im März dieses Jahres bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamm Strafanzeigen gestellt - gegen die polizeilichen Ermittler wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung, gegen den Staatsanwalt wegen der Verfolgung Unschuldiger und gegen die Amtsrichterin wegen Rechtsbeugung. Die Ermittlungen stehen noch aus.

Der Autor dankt Uta Wagenmann für die redaktionelle Bearbeitung des Textes.

  • 1Das heißt, jedem Teilnehmer wurden zwei Speichelproben aus der Mundhöhle entnommen und als Probe A und Probe B separat in zwei Plastikröhrchen verschlossen.
  • 2Alle Zahlenangaben sind den vorliegenden Gerichts-Beschlüssen entnommen. Dass Proben und Daten eines Massengentests grundsätzlich vernichtet werden, ist insofern anzuzweifeln, als 1.) weder die Löschung noch Fristen dafür in der entsprechenden Passage der Strafprozessordnung, dem Paragraphen 81 h, ausdrücklich geregelt sind und 2.) der Kommentar zum Gesetz keinen Zweifel darüber zulässt, dass es vom Ermittlungserfolg abhängt, wie mit den Proben und Daten verfahren wird. Darin heißt es: „Die (…) vorgeschriebene Löschung der festgestellten DNA-Identifizierungsmuster wird i.d.R. erfolgen, wenn der Reihentest zur Feststellung des Spurenverursachers geführt hat, sonst - bei Erfolglosigkeit - spätestens mit Eintritt der Verjährung des Verbrechens“. Vgl. Lutz Meyer-Goßner, Strafprozessordnung: StPO, Kommentar, München: C.H. Beck, S. 301. Da Massengentests nur bei Kapitalverbrechen wie Mord angewendet werden, entscheidet „in der Regel“ vermutlich der Ermittlungserfolg über die Löschung beziehungsweise Aufbewahrung der Daten - denn Kapitalverbrechen verjähren nicht.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
212
vom Juni 2012
Seite 39 - 41

Winfried Wessolleck ist Sozialwissenschaftler und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

zur Artikelübersicht

Kollektive Verweigerung

 

Auch ein Einbruch in eines der Büros der Stadtverwaltung Erfurt zeigt, dass der „freiwillige DNA-Test“ immer mehr zum Routineinstrument bei polizeilichen Ermittlungen aller Art wird - und dass man sich gemeinsam widersetzen kann. Die Polizei nahm ein zerschlagenes Fenster, die Verwüstung von Schränken und den Diebstahl einer Spardose mit etwa fünfzehn Euro zum Anlass, sämtliche Mitarbeiter zur Abgabe einer Speichelprobe aufzufordern - im Modus der Selbstverständlichkeit und ohne richterlichen Beschluss. Ein Bericht:
Erster Tag nach dem Einbruch: Der Tatort wird von der Kriminalpolizei Erfurt untersucht. Spuren werden gesichert und den aktuell vor Ort arbeitenden Kollegen freiwilligeSpeichelproben entnommen. Begründung: Man wolle herausfinden, welche DNA-Spur vom Täter stammt. Dazu muss gesagt werden, dass in dem Gebäude der Stadtverwaltung viele Menschen ein und aus gehen, da es sich um ein ausgelagertes Sachgebiet des Jugendamtes handelt, in dem nicht nur sechs Streetworker häufig anwesend sind, sondern diverse Sozialarbeiter, Verwaltungsangestellte, Reinigungspersonal, Jugendliche… Wie viele Spuren die Polizei da am Tatort gefunden haben muss! Einige Kollegen sind zwiegespalten. Fragen wie „Hätte ich verweigern dürfen?“ „Warum muss ich meinen Namen angeben, wenn es doch nur um einen Ausschluss geht und die Daten nicht für eine langfristige Speicherung vorgesehen sind?“ kommen auf. Eine Woche nach dem Einbruch: Ein Anruf von der Kripo erreicht alle Streetworker, die in diesem Büro ein und aus gehen, also auch mich: „Frau Lange, wann kommen Sie denn mal wegen einer Speichelprobe vorbei?“ „Gerade schlecht“, schneide ich das Gespräch vorerst ab. Wenige Tage später: Einladungen zu freiwilligen Speichelprobenabgaben werden verschickt. Ich bin nicht einverstanden mit dieser polizeilichen Sammelwut, erst recht nicht im Angesicht eines Bagatelldeliktes, also rufe ich zurück: „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich nicht zu dem Termin erscheinen werde, da ich mich aus verschiedenen Gründen dagegen entschieden habe.“ Der Beamte am anderen Ende: „Aber Frau Lange, wir wollen Ihnen doch nichts Böses. Es ist doch so, wenn Sie jetzt nicht Ihre DNA zum Abgleich zur Verfügung stellen, dann werden die der Kripo unbekannten DNA-Spuren auf jeden Fall gespeichert.“ Und - in Ergänzung des pragmatisch wirkenden Argumentes - wird eine stille Drohung platziert: „Außerdem kann es sein, dass der Staatsanwalt sich über die unbekannte Frauen-DNA am Tatort wundert und eine richterliche Verfügung erwirkt.“
Auch mit dieser für den Beamten schlüssigen Argumentation leuchtet mir die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe nicht ein. Ich beginne, mit Kollegen darüber zu sprechen, es kommt immer wieder zu Diskussionen, Argumente dafür und dagegen werden ausgetauscht. Am Ende haben sich meine nächsten Kollegen alle einer Speichelprobe verweigert. Es lohnt sich eben, gemeinsam über solche scheinbaren Selbstverständlichkeiten nachzudenken!
(Bericht: Katrin Lange)

 

Nur durch Spenden ermöglicht!

Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.

Ja, ich spende!  Nein, diesmal nicht