„Arbeitsscheu“ und „asozial“

Geschichte und Kontinuität eines Stigmas

Die Verfolgung von sogenannten Asozialen im Nationalsozialismus ist zwar seit langem bekannt, Forschung und Aufarbeitung dazu haben aber erst in jüngster Vergangenheit begonnen. Ungleichwertigkeitsdenken und Ausgrenzung, die der Konstruktion „asozial“ zugrunde lagen, haben eine komplexe Geschichte, und die ist nicht vorbei. Heute noch wird das Stigma benutzt, um soziale Missstände den Betroffenen anzulasten und Anpassungs- und Unterordnungsdruck zu erhöhen.

Gesellschaftsfremd“, „arbeitsscheu“, „minderwertig“, „unangepasst“ oder „moralisch schwachsinnig“ - das sind nur einige der Adjektive, die mit dem Stigma „asozial“ bereits verbunden werden, als es zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals in der Literatur auftaucht. Von Anfang an werden unter dem Sammelbegriff pauschale, negative Zuschreibungen als „abweichendes Verhalten“ zusammengefasst, erweitert und zum Teil als vererbbar präsentiert.1 In der Weimarer Republik finden diese Konstruktionen ihren Niederschlag in Diskussionen, Verordnungen und Gesetzesvorschlägen. Bereits in den 1920er Jahren werden Menschen wegen ihres sozialen Status, ihrer Lebens- und Verhaltensweisen, ihres vermeintlichen körperlichen oder geistigen Zustandes oder ihrer ethnischen Herkunft als „Ballastexistenzen“ und „Schädlinge“ für einen imaginären „gesunden Volkskörper“ gebrandmarkt. Dabei machte gerade das Fehlen einer eindeutigen Definition von „Asozialität“ den Begriff so tauglich für Ausgrenzung und Verfolgung: Das Stigma konnte beliebig auf Personen und Personengruppen ausgedehnt werden und so nahezu jedem Ausschluss und jeder repressiven Maßnahme Legitimation verleihen.

Stigmatisierung, Verfolgung und Vernichtung ab 1933

Erst das NS-Regime konstruiert eine - wenn auch beliebige - Definition. Demnach sollte als „asozial“ gelten, „wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“. Dazu gezählt wurden „Bettler, Landstreicher, … [Anmerkung der Redaktion: an dieser Stelle wurde eine diskriminierende Fremdbezeichnung für Sinti*zze und Rom*nja entfernt], Dirnen, Trunksüchtige“ und „mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten, behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen“. Außerdem wurden Personen als „asozial“ definiert, „die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen, zum Beispiel Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunk­süchtige“.2 Diese Definitionen bewahrten keinesfalls vor Willkür: Ausreichend für Verfolgung und Vernichtung war, Menschen als „Fremdkörper“ zu definieren.3 „Asozial“ konnte denn auch jeder und jede werden, sofern er oder sie Behörden, Institutionen oder auch einzelnen Nazis in Machtpositionen im Weg war oder negativ auffiel. Mehr als 10.000 Menschen wurden im NS auf dieser Grundlage verfolgt, in Anstalten, Arbeitshäuser oder Konzentrationslager deportiert, zu Zwangsarbeit gezwungen, zwangssterilisiert und ermordet, darunter Wohnungslose, Bettler_innen, Empfänger_innen von Sozialleistungen, Sinti und Roma, Jüdinnen und Juden, politisch Verfolgte, Schwule und Lesben, Prostituierte, Suchtkranke, Unterhaltssäumige sowie zum Teil auch ihre Familienangehörigen. Dabei arbeiteten kommunale und Landesbehörden, private Wohlfahrtsverbände, Mediziner_innen und Wissenschaftler_innen und ihre Institutionen sowie die Reichsbehörden und die Polizei zusammen. Die Verfolgung begann bereits Mitte 1933, als im Rahmen der so genannten „Bettlerwoche“ hunderttausende Woh­nungslose unter Beteiligung von SA und SS vorübergehend in Haft genommen, zum Teil aber auch dauerhaft in Arbeitshäuser eingeliefert wurden, um sie der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig zu entziehen. Eine erste gesetzliche Grundlage für die Verfolgung schufen die Nazis kurz darauf, im November 1933, mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, das eine Internierung wegen „Arbeitsscheu“, „Liederlichkeit“ oder „gewerbsmäßiger Bettelei“ zeitlich unbestimmt und gegebenenfalls lebenslänglich erlaubte. Mit dem Grundlegenden Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei vom 14. Dezember 1937 wurde dieses Gesetz ausgedehnt: Polizeiliche Vorbeugungshaft durfte nun ausdrücklich gegen als „asozial“ Stigmatisierte verhängt werden.4 1938 lieferten Gestapo und Kriminalpolizei dann im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ mehr als 20.000 Menschen in Konzentrationslager ein. In einigen Lagern stellten die mit einem schwarzen Winkel gebrandmarkten „Asozialen“ in der Folgezeit die weitaus größte Häftlingsgruppe.

Ein Stigma für den Kapitalismus

Die Nazi-Verbrechen an den so genannten Asozialen sind nach 1945 kaum aufgearbeitet worden. Eine Anerkennung als NS-Unrecht fehlt bis heute. Nur die wenigsten Opfer haben eine Rehabilitierung erfahren und/oder eine Entschädigung erhalten.5 Bei kaum einem anderen Verbrechen der Nazis findet sich so wenig Bereitschaft aufzuarbeiten und aufzuklären oder sich gar mit den bis heute vorhandenen, zahlreichen Kontinuitäten zu beschäftigen. So antwortete beispielsweise die Bundesregierung 2008 auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, sie habe keinerlei Kenntnisse darüber, wie viele Menschen als sogenannte Asoziale zwangssterilisiert, gesundheitlich geschädigt, zum Tode verurteilt oder hingerichtet wurden. Auch die Frage, welche Anstrengungen die Regierung unternehmen will, um sich diese Kenntnisse zu beschaffen, wurde denkbar schlicht beantwortet: „Keine.“6 Diese Ignoranz ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass eine Aufarbeitung der Verfolgung auf der Basis des Konstruktes „Asozialität“ nur über eine umfassende Gesellschaftskritik zu leisten wäre. Denn der Verfolgung und Vernichtung so genannter Asozialer im NS war eine Entwicklung vorangegangen, die eng mit der Entstehung des Kapitalismus verknüpft ist. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise setzte sich das von der Kirche und insbesondere von den Calvinist_innen propagierte Arbeitsethos durch, nach dem nicht essen sollte, wer nicht arbeitet. War „Arbeit“ in der Antike zum Teil regelrecht verpönt, wurde sie mit der Reformation zu „Berufung“ und Pflicht.7 „Von Arbeit stirbt kein Mensch“, schreibt beispielsweise Luther, „aber von Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen". Erst dieses Arbeitsethos ermöglichte es, die gesamte Bevölkerung, ihre Lebensweise und ihren Arbeitsrhythmus den Anforderungen der kapitalistischen Produktion zu unterwerfen, und es bildet bis heute die Grundlage der kapitalistischen Ökonomie. Mit dem protestantischen Arbeitsethos verbunden ist auch eine Umbewertung des so genannten „Müßiggangs“: War Bettelei noch im Mittelalter als Beruf anerkannt, werden BettlerInnen nun zu Menschen, die sich der Arbeit als der menschlichen Existenz Sinn gebende Tätigkeit auf illegitime Art zu entziehen suchen und so für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht werden können. Hier hat das Stigma des „Arbeitsscheuen“ seinen Ursprung, das von der Unterscheidung lebt zwischen einem „Wir“, das arbeitet und die Gemeinschaft ausmacht, und den „Anderen“, die sich der Arbeit entziehen und die Gemeinschaft ausnutzen.

„Arbeitsverweigerer“ in der Bundesrepublik

Die Chance, mit diesem Arbeitsethos aufzuräumen, wurde nach 1945 in beiden deutschen Staaten nicht nur gründlich verpasst, auch die auf ihm fußende Repression war mit dem NS-Regime keinesfalls vorbei: So wurden die der Sozialdisziplinierung dienenden Paragrafen aus dem preußischen Strafgesetzbuch erst 1968 (in der DDR) beziehungsweise 1974 (in der Bundesrepublik) geändert.8 Hier traten zudem noch 1962 mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Bewahrungsregeln in Kraft, mit denen als „gefährdet“ angesehene Personen unter Androhung einer Anstaltsunterbringung diszipliniert werden konnten.9 Wer zu dem betroffenen Personenkreis zu zählen sei, war vollkommen unbestimmt: Zwangsweise untergebracht werden konnten alle, „die aus Mangel an innerer Festigkeit ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft nicht führen können“ und zusätzlich eine besondere Willensschwäche, ein besonders hemmungsloses „Triebleben“ oder eine „Verwahrlosung“ zeigten.10 Zudem konnte jeder, „der sich trotz wiederholter Aufforderung beharrlich (weigert), zumutbare Arbeit zu leisten“, in ein Arbeitshaus eingewiesen werden.11 Zwar hob das Bundesverfassungsgericht diese Regelungen 1967 wieder auf.12 Aber das Urteil führte keinesfalls zu einem anderen Umgang mit den NS-Verbrechen an den als „Asoziale“ stigmatisierten Menschen oder gar zu deren Entschädigung und Rehabilitierung. Verfolgt man die aktuellen Entwicklungen sozialer und rassistischer Ausgrenzung, erscheint es wichtiger denn je, an die Schicksale der so genannten Asozialen zu erinnern. Die Anerkennung ihrer Verfolgung als NS-Unrecht käme zwar spät, wäre aber ein wichtiges Zeichen, nicht zuletzt auch, weil damit endlich der unhaltbar unkritische gesellschaftliche Umgang mit dem Stigma „Asozialität“ in Frage gestellt würde. Ein solches Zeichen wäre auch ein erster Schritt weg von einer Logik, nach der Menschen ausschließlich über ihre „Nützlichkeit“ - das heißt heute, über ihre Vollzeit-Erwerbstätigkeit - als Teil der Gesellschaft definiert werden. Bis heute ist Nicht-Erwerbstätigkeit das Ausgrenzungskriterium, Arbeitslosigkeit wird im Alltagsleben bewusst oder unbewusst - in öffentlichen Debatten aber durchaus auch explizit - mit „Schmarotzertum“ und „Faulheit“ verbunden. Immer noch dienen das Stigma „Asozialität“ und die heute damit verbundenen Begrifflichkeiten dazu, dem Einzelnen die Schuld für seine soziale Lage in die Schuhe zu schieben und zugleich ganze Bevölkerungsgruppen auszugrenzen. Nach wie vor werden von Armut Betroffene bekämpft und nicht die Ursachen von Armut, und dafür sind Stigmata wie das des „Sozialschmarotzers“, der „Asozialen“ oder des „Arbeitsscheuen“ - nach wie vor - machtvolle Instrumente.

  • 1Dem war im 19. Jahrhundert eine Verwissenschaftlichung von Zuschreibungen vorangegangen, bei der beispielsweise „Schmarotzertum“ oder „Faulheit“ medizinisch und psychiatrisch definiert worden waren. Den Höhepunkt solcher wissenschaftlicher Erklärungsmuster bildeten Rassenhygiene und Eugenik, die die medizinisch-psychiatrischen Zuschreibungen um rassistische und biologistische Perspektiven erweiterten.
  • 2Sie alle wurden im Gesetz als Personen bezeichnet, „die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen“. Vgl. Reichskriminalpolizeiamt: „Richtlinien zum Grundlegenden Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei des Reichsinnenministeriums”, 04.04.38, in: Wolfgang Ayaß, „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen” 1933-1945, Koblenz 1998, Nr. 62.
  • 3Sinti und Roma beispielsweise wurden als „fremdrassige Asoziale“ sowohl aus rassistisch-biologistischen als auch aus ordnungspolitischen Motiven heraus verfolgt und ermordet.
  • 4Auch das am 1. Januar 1934 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, die zwei Jahre später folgenden Gesetze zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes sowie die Nürnberger Rassegesetze dienten der systematischen Verfolgung so genannter „Asozialer“ als Grundlage.
  • 5Zum Ausbleiben von Rehabilitation und Entschädigung vgl. auch Seite 19 in diesem Heft. Nach Angaben der Bundesregierung erhielten insgesamt 205 Menschen, die als „Asoziale“, Arbeitsscheue“, „Arbeitsverweigerer“ oder „Landstreicher“ verfolgt worden waren, eine einmalige Beihilfe von jeweils 2.556,46 Euro. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katja Kipping, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, 01.07.08, Bundestags-Drucksache 16/9887, S. 3, im Netz unter http://dipbt.bundestag.de oder unter www.kurzlink.de/gid220_n.
  • 6Ebda.
  • 7Sokrates beschrieb die Muße als „Schwester der Freiheit", und Aristoteles urteilte: „Arbeit und Tugend schließen einander aus". Dass das Betteln im Mittelalter als legitime Tätigkeit galt, mit der Menschen ihren Unterhalt versuchten zu sichern, hatte auch damit zu tun, dass Adel und Stadtbürger durch Gaben an Bettler die eigene Wohltätigkeit demonstrieren und sich von Sünden freikaufen konnten.
  • 8„Asozialität“ blieb nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR ein Stigma. Staatlicherseits wurden Menschen damit diffamiert, wenn sie sich der „umfassenden Beteiligung aller Menschen an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ entziehen wollten.
  • 9Dem Bewahrungsgesetz als rechtliche Grundlage für die zwangsweise Unterbringung von Erwachsenen in geschlossenen Heimen ging eine mehrjährige Diskussion voraus, die an eine bereits ab 1918 in der Weimarer Republik geführte Debatte anknüpfte.
  • 10Vgl. BSHG vom 30. Juni 1961, § 72 Abs. 1 und § 73 Abs. 1.
  • 11Ebda., § 26.
  • 12„Die zwangsweise Anstalts- und Heimunterbringung eines Erwachsenen, die weder dem Schutz der Allgemeinheit noch dem Schutz des Betroffenen selbst, sondern ausschließlich seiner ,Besserung’ dient, ist verfassungswidrig.“ Vgl. Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes, 18. Juli 1967, im Netz unter www.servat.unibe.ch oder www.kurzlink.de/gid220_o.
Erschienen in
GID-Ausgabe
220
vom Oktober 2013
Seite 16 - 18

Dirk Stegemann arbeitet im Arbeitskreis „Marginalisierte - gestern und heute“ mit und engagiert sich in der Berliner Gruppe des Vereins Verfolgte des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA e.V.)

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Ausgesondert bis zum Schluss

Menschen, die im Nationalsozialismus als „asozial“, „arbeitsscheu“ oder „gemeinschaftsfremd“ kategorisiert worden waren, wurden - ebenso wie so genannte „Erbkranke“ - nicht selten zwangssterilisiert; insgesamt fielen dem Eingriff mindestens 360.000 Männer und Frauen zum Opfer, Tausende starben dabei. Grundlage war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) von 1933/34. Sogenannte Erbgesundheitsgerichte (EGG) - ein Richter und zwei medizinische Experten - beschlossen die Sterilisation, wobei die Anwendung von Zwang und Gewalt an der Tagesordnung war. Nach 1945 wurden zwar die EGG geschlossen, sodass keine neuen Zwangssterilisationen mehr verfügt werden konnten. Während das GzVeN in der sowjetischen Besatzungszone aber bereits 1946 aufgehoben worden war, behielt es in den westlichen Besatzungszonen Gültigkeit, seine Opfer wurden nicht als „Verfolgte des Nationalsozialismus“ anerkannt und sie wurden auch nicht entschädigt. Im Gegenteil diente das Gesetz bis in die 1980er Jahre zahlreichen bürokratischen und gerichtlichen Entscheidungen - auch und vor allem zur Frage der Entschädigung von Zwangssterilisierten - als Rechtsgrundlage. Die Zwangssterilisation galt insbesondere in der frühen Bundesrepublik weder als Nazi- noch überhaupt als Unrecht: vielmehr hielten Gerichte, Mediziner und auch die Politik diesen Eingriff für eine normale, wissenschaftlich abgesicherte, bevölkerungspolitisch notwendige Maßnahme, die nicht gegen „rechtsstaatliche Grundsätze“ oder das „Naturrecht“ verstieße.(1) Ein Entschädigungsanspruch ließe sich also nicht begründen. Aus dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) waren Zwangssterilisierte dann auch explizit ausgeschlossen (vgl. §171 Abs.3). Die einzige Möglichkeit, Entschädigungsansprüche geltend zu machen, bot bis in die 1980er Jahre das Wiederaufnahmeverfahren, dessen rechtliche Grundlage das GzVeN selber bildete: auf ihm fußten die Möglichkeit der Revision (§12 Abs. 2) wie auch die Maßstäbe zur Beurteilung der Sterilisationsentscheidung. Die Opfer waren gezwungen zu belegen, dass das Gesetz in ihrem Fall gebrochen worden war: dass bestimmte Dokumente nicht zur Anwendung gekommen oder medizinische Gutachten falsch gewesen waren. Oft wurden die Dokumente der NS-Erbgesundheitsgerichte verwendet und oft waren es dieselben Richter und Gutachter, die in den Wiederaufnahmeverfahren „Recht“ sprachen.(2) Nicht selten lehnten bundesdeutsche Gerichte und Behörden Entschädigungsforderungen und Wiederaufnahmeverfahren auch gleich ganz ab, und zwar mit der Begründung, dass die NS-Gerichte sich an Nazi-„Recht“ gehalten hatten.(3) Hin und wieder unterzeichneten bundesdeutsche Gerichte diese Entscheidungen mit „Erbgesundheitsgericht“. Auch auf anderen Verwaltungsebenen konnte die Sterilisation schwerwiegende Folgen haben, etwa die Verweigerung einer Adoption.(4) Der bundesdeutschen Bürokratie galt die Zwangssterilisation durch die Nazis hier als Beleg, dass die betroffenen Personen „minderwertig“ seien und deshalb unfähig oder nicht wert, Kinder zu haben.(5) Erst mit der Kritik an der bundesdeutschen Wiedergutmachungspolitik änderte sich der Umgang mit den Zwangssterilisierten: 1980 wurde ein Härtefond eingerichtet, aus dem die Betroffenen eine Einmalzahlung von 5.000 DM beantragen können und seit 1988 auch monatliche Renten (heute 291 Euro). Ebenfalls 1988 wurden zwar die Urteile der EGG für NS-Unrecht erklärt (und 1998 vom Bundestag aufgehoben), nicht aber das GzVeN selbst. Als sich der Bundestag im Mai 2007 endlich dazu durchrang, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ insgesamt als NS-Unrecht zu ächten und seinen Opfern „Achtung und Mitgefühl auszusprechen“, waren die meisten von ihnen bereits verstorben. Als Verfolgte des NS-Regimes im Sinne des BEG gelten sie bis heute nicht.
Svea Luise Herrmann und Kathrin Braun In dem lesenswerten Aufsatz „Das Gesetz, das nicht aufhebbar ist: Vom Umgang mit den Opfern der NS-Zwangssterilisation in der Bundesrepublik” untersuchen die Autorinnen ausführlich die Geschichte und Praxis des GzVeN nach 1945. Ihre Studie basiert auf dem DFG-geförderten Projekt „Eugenics and Restorative Justice“ und ist erschienen in: Kritische Justiz, Heft 3, 2010, S. 338 - 352.
Fußnoten: (1) Neue Juristische Wochenzeitung 1954, S. 559. (2) Henning Tümmers: Wiederaufnahmeverfahren und der Umgang deutscher Juristen mit der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik nach 1945, in: Justizministerium Nordrhein-Westfalen (Hg.), Justiz und Erbgesundheit, Geldern 2008 , S. 173ff. (3) Vgl. dazu Valentin Hennig: Zur Wiedergutmachung von Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Berlin 1999. (4) Interviews mit Margreth Hamm und Marga Hess vom Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., 27.02.09 und 15.10.09. (5) Vgl. Svea L. Herrmann, Kathrin Braun: Unrecht zweiter Ordnung: Die Weitergeltung des Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses in der Bundesrepublik. In: Claudia Fröhlich et.al. (Hg.): Rechtsstaatliche Demokratie und Erbschaft des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik, Baden-Baden, im Erscheinen.