Vorsorgeprinzip unter Beschuss

Einführung

Das Vorsorgeprinzip ist die Basis europäischer Umweltpolitik. Seine Anwendung auf die Regulierung der Agro-Gentechnik gerät zunehmend unter Beschuss.
Das „Konzept der Vorsorge“, so schreibt es die Europäische Union in dem Glossar auf ihrer Internetseite unter dem Schlagwort Vorsorgeprinzip, „ist mit einer im Februar 2000 angenommenen Mitteilung der Kommission entstanden“. Diese Mitteilung ergänzt das Weißbuch über Lebensmittelsicherheit (vom Januar 2000) sowie das im Februar 2000 in Montreal geschlossene Übereinkommen zum Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit. Das Vorsorgeprinzip soll zur Anwendung kommen „bei Vorliegen unzureichender, nicht eindeutiger oder unsicherer wissenschaftlicher Daten“ und „wenn eine vorläufige wissenschaftliche Risikobewertung gezeigt hat, dass mit potenziell gefährlichen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen zu rechnen ist“.

Drei Regeln

Drei Regeln sollten im Hinblick auf die Einhaltung des Vorsorgeprinzips beachtet werden: • „eine vollständige wissenschaftliche Risikobewertung durch eine unabhängige Stelle, um den Grad der wissenschaftlichen Unsicherheit zu bestimmen; • eine Bewertung der Risiken und Folgen, falls keine Maßnahmen auf europäischer Ebene getroffen werden; • die Einbeziehung aller Betroffenen in die Entscheidung über mögliche Maßnahmen bei größtmöglicher Transparenz.“
Aufmerksame GID-LeserInnen wissen, dass die EU nicht ganz richtig liegt: Das Vorsorgeprinzip ist nicht erst im Februar 2000 und vor allem auch nicht mit „einer Mitteilung der Kommission“ entstanden. Aber davon unbenommen, wird die Bedeutung des Prinzips deutlich. Anita Idel, unter anderem Mitautorin des Weltagrarberichts und langjähriges Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Gen-ethischen Netzwerkes, hatte 2013 die mindestens bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichende Geschichte dargestellt. Idel hatte in ihrem Artikel im GID auf die besondere Gefährdung des Vorsorgeprinzips hingewiesen, die von den Verhandlungen der Europäischen Union und den USA um das Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP ausgehen.1 Aber nicht nur das geplante TTIP bedroht das Vorsorgeprinzip. Es scheint eine regelrechte Kampagne gestartet worden zu sein. Christoph Then von der Nichtregierungsorganisation Testbiotech knüpft in seinem Beitrag an verschiedene Stellen im EU-Recht an, in denen das Vorsorgeprinzip wesentlich ist. Er konfrontiert diese Stellen mit entgegenstehenden Vorstellungen vom Umgang mit Risiken. Im Vordergrund steht dabei der Bericht „Planting the future“ des Wissenschaftlichen Beirats der Europäischen Akademien der Wissenschaft (EASAC). Dessen AutorInnen engagieren sich für ein Evidenz-basiertes Risikomanagement. Then entdeckt in dem von der EU geförderten Projekt GRACE eine Art Begleitkonzert zu der Kampagne gegen das Vorsorgeprinzip. Auch hier wird Evidenz-basiertes Rikomanagement promotet. Etwas zugespitzt formuliert läuft es in diesem Konzept darauf hinaus, dass erst ein Schaden entstehen muss, damit die Evidenz besteht, dass es vorher ein Risiko gab. In dem Projekt ist zum Beispiel Joachim Schiemann beteiligt, GID-LeserInnen als notorischer Gentechnikfreund bekannt (und zufälligerweise auch Co-Autor des oben genannten EASAC-Berichts). Then kommt auch auf Anne Glover, die Chef-Beraterin für Wissenschaft des Präsidenten der Europäischen Kommission, zu sprechen. Diese streitet jegliche „negativen Auswirkungen [gentechnisch veränderter Organismen] auf die menschliche Gesundheit, die Tiergesundheit oder die Umwelt“ ab und Then geht davon aus, dass sie mit ihren „extrem einseitigen Ansichten auch die Haltung großer Teile der EU-Kommission spiegelt“. Nur wenige Wochen vor Erscheinen dieser GID-Ausgabe wurden die Fäden aus Thens Beitrag passenderweise zusammengeführt: Auf dem Workshop „Promoting agricultural biotechnology for sustainable development in Africa“ (etwa: Voranbringen landwirtschaftlicher Biotechnologie für eine nachhaltige Entwicklung in Afrika) der EASAC hielt auch Glover einen Vortrag.2 Die Kampagne gegen das Vorsorgeprinzip wird auch von der Industrie orchestriert. Dies zeigt zum Beispiel der Beitrag „Expert opinion vs. empirical evidence: The precautionary principle applied to GM crops“, der in diesem Jahr in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift GM Crops and Food erschienen ist. Rod A. Herman von Dow AgroScience und Alan Raybould von Syngenta brechen darin eine Lanze für eine Evidenz-basierte Regulierung.

Für Selbstbestimmung

In Bezug auf die mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in Verbindung stehenden Risiken stellt das Verbot des Anbaus eine sehr effektive Möglichkeit dar, diese Risiken zu vermeiden. Für eine solche auch als Opt out-Regulierung bezeichnete Möglichkeit setzt sich Corinne Lepage ein. Sie ist Mitglied im Europäischen Parlament und dort Berichterstatterin in dem Verfahren für die Regulierung, mit der die Kompetenzen der EU-Mitgliedsländer in der Entscheidung über den Anbau einer gentechnisch veränderten Pflanze gestärkt werden könnten. Lepage sieht - wie übrigens auch Then - in den Verhandlungen der EU mit den USA über das Freihandels- und Investitionsschutzabkommen TTIP eine große Gefahr für die Umwelt und die Gesundheit beziehungsweise das Vorsorgeprinzip. „Schon jetzt“, so Lepage, lege „die Kommission wegen der Verhandlungen mit den USA neue Maßstäbe bei ihren Einschätzungen an. Zum Beispiel, als sie ihre Vorschläge für den Umgang mit Klontieren vorlegte“. Gleichzeitig ist sie der Überzeugung, dass die „Macht der europäischen Öffentlichkeit (...) auch in der Zukunft sehr wirksam sein“ kann. Stefan Böschen vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe nähert sich dem Thema streng sozialwissenschaftlich. By the way merkt er an, dass „Entscheiden unter Unsicherheit (...) sich schon immer auf eine Zukunft [bezogen hat], die im Moment des Entscheidens unerkannt war und das Potenzial unerwünschter Effekte in sich barg“. Die GVO-Debatte hält er für einen sehr aufschlussreichen Fall bei der Betrachtung von Implikationen und Paradoxien, die im Gefolge einer am Vorsorgeprinzip ausgerichteten Risikopolitik auftauchen. Zum Schluss seiner Betrachtungen schreibt er, dass manchmal das Prozessieren von Lösungsmöglichkeiten schon die Lösung selbst sein kann, „weil darin politische Optionen gebildet werden“. GID-Redakteur Christof Potthof hat in den Bericht „Late lessons from early warnings“ geschaut, der Anfang des letzten Jahres von der Europäischen Umweltagentur EEA herausgegeben worden ist. Er findet dort den Verdacht der AutorInnen eines Beitrags zur Agro-Gentechnik, dass die Nutzung dieser Technologie „zweifellos ein Kandidat für eine in nicht allzu ferner Zukunft zu erwartende ‚Späte Erkenntnis‘ - ein late lesson case in the making“ ist. David Quist und KollegInnen sehen zudem, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, die in der Vergangenheit zu späten Erkenntnissen geführt haben, noch immer bestehen. Interessant in dem Bericht der EEA ist übrigens auch die Zusammenfassung zu der Frage falsch positiver Ereignisse - also den Fällen, in denen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen wurden, diese sich letztendlich aber als nicht notwendig herausstellen. Die AutorInnen vertreten die Auffassung, dass die „Angst“ vor derartigen Fällen unangebracht sei und nicht als Begründung herangezogen werden sollte, um Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Vorsorgeprinzip im Einsatz

Last but not least erinnert Potthof noch an drei Fälle, in denen das Vorsorgeprinzip im Kontext der Regulierung gentechnisch veränderter Organismen ganz konkret und praktisch zum Einsatz kam. Die Entscheidung des EU-Ministerrates für ein Zulassungsmoratorium für gentechnisch veränderte Pflanzen im Juni 1999, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über den Normenkontrollantrag des Landes Sachsen-Anhalt und das Vermarktungs- und Anbauverbot für den gv-Mais MON810 der deutschen Bundesregierung im April 2009. Für die Gentechnik-kritische Bewegung liegt es nahe, besonders zwei Aspekte der aktuellen Gemengelage für sich zu nutzen: Da ist einerseits die dritte der Regeln, die - laut EU-Kommission - bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips eingehalten werden sollten: Dass alle Betroffenen in die Entscheidung über mögliche Maßnahmen einbezogen werden sollen, und zwar bei größtmöglicher Transparenz, sollte die Bewegung für sich in Anspruch nehmen. Gleichzeitig gibt es keinen Grund für defensives Auftreten. Corinne Lapages Ansicht, die europäische Öffentlichkeit könne in der Zukunft sehr wirksam sein, sollte die Öffentlichkeit als Ermunterung verstehen, sich weiter aktiv in die Debatten um die Nutzung der Agro-Gentechnik einzubringen.

  • 1Anita Idel (2013): Es geht ums Prinzip. Gen-ethischer Informationsdienst (GID) 219. Im Netz unter www.gen-ethisches-netzwerk.de.
  • 2Siehe dazu auch „Akademien auf Lobbytour“ unter Kurz notiert auf Seite 26 in diesem GID.
Erschienen in
GID-Ausgabe
223
vom Mai 2014
Seite 6 - 7

GID-Redaktion

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