Rasche Lösungen, magische Pillen
In den USA hinken die gesetzlichen Regelungen der rasanten Entwicklung bei Reproduktionstechnologien und genetischen Diagnoseverfahren hinterher. Auch in absehbarer Zukunft scheint sich an dieser Situation nichts zu ändern. Im Juni diesen Jahres sprach Franz Seifert in Chicago mit der Bioethikerin Lori Andrews.
Welche Tendenzen zeichnen sich derzeit in den USA bei der Anwendung von Reproduktionstechnologien ab? Und welche Folgen hat das?
Technologien, die Paaren helfen sollen, Kinder zu bekommen, werden immer häufiger genutzt. 2001 resultierten etwa 30.000 Schwangerschaften und 40.000 Geburten in den USA aus dem Einsatz solcher Technologien. Das ist mit einem stark erhöhten Risiko zu Zwillings- und Drillingsschwangerschaften verbunden. Einen deutlichen Anstieg zeigt gegenwärtig die Nutzung eingefrorener Embryonen bei künstlichen Befruchtungen. Und auch das hat ungewollte Folgen. Mittlerweile haben sich aus diversen Behandlungen etwa 400.000 eingefrorene Embryos in den USA angehäuft, also genug, um damit eine Stadt zu bevölkern. Rechtlich ist der Status dieser Embryos ungeklärt. Wer bestimmt über deren weiteres Schicksal? Was ist möglich? In den USA sind so gut wie alle Reproduktionstechnologien, die je entwickelt wurden, verfügbar. Der Zugang erfolgt fast immer über den freien Markt. Oft sind das Technologien, bei denen andere Länder schon die Grenze gezogen und Nein gesagt haben. Beispielsweise sind in den USA vorgeburtliche Geschlechtsselektion oder Leihmutterschaft möglich. Der Trend geht klar dahin, den Menschen immer mehr Optionen einzuräumen, auch Optionen, die sie niemals zuvor hatten. Zum Beispiel, ein Kind zu zeugen, wenn man schon gestorben ist. Etwas das, wenn es sich durchsetzt, in Zukunft zu mehr Kindern mit nur einem lebenden Elternteil führen könnte. Für die meisten sich aus der Reproduktionstechnologie ergebenden Fragen haben wir in diesem Land weder die Diskussionen über deren Folgen noch eine umfassende Rechtssetzung.
Wie sieht das bei genetischen Tests aus?
Nicht anders. Genetische Tests sind frei verfügbar. Man kann sie im Internet beziehen. Es werden sogar Tests auf Websites angeboten, von denen die Ärzteorganisationen sagen, dass deren Anwendung verfrüht ist, da sie keine klaren Vorhersagen gestatten. Sich testen zu lassen ist ganz einfach. Man sendet einen Speichelabstrich ein und erhält die Resultate per Post oder auf einer sicheren Website. Das muß nicht mal ein Mediziner machen. Das ist einfach irgendjemand, irgendwo in einem Labor. Ärzte sind hier gar nicht mehr involviert. Oft werden Vaterschaftstests angeboten oder auch Tests, die einem sagen, ob und zu welchem Grad man indianischer Abstammung ist. Im Rahmen von Unterstützungsprogrammen für Minderheiten hat man in diesem Fall bessere Chancen auf höhere Studienbeihilfe. Die wichtigen Bedenken, die wir bezüglich dieser Websites haben sind, ob diejenigen, die so getestet werden, überhaupt davon wissen. Ein typisches Szenario wäre, dass ein geschiedener Vater DNA-Proben von seinem Kind nimmt und sie einschickt, um feststellen zu lassen, ob es sich tatsächlich um sein Kind handelt. Das hat natürlich alle möglichen Implikationen für die Familienmitglieder. Gleiches gilt für die Tests, die beweisen sollen, dass man indigener Amerikaner ist. Man könnte ja auch eine x-beliebige Blutprobe einschicken. Das könnte dann erhebliche finanzielle Auswirkungen auf die betroffene Person haben, ohne dass diese je Bescheid wußte.
Ist man vor genetischer Diskriminierung rechtlich geschützt?
Unzureichend. Da wir - im Unterschied zu den meisten Industrieländern - über kein nationales Gesundheitssystem verfügen, haben wir hier tatsächlich die Situation, dass Versicherungen Menschen mit bestimmten genetischen Merkmalen diskriminieren können. Es gibt zwar Bundesgesetze, aber diese schützen jene nicht, die auf Privatversicherungen angewiesen sind, denn diese können Gentests verordnen. Nur wenn man bei einem großen Arbeitgeber beschäftigt ist, kann man dem entgehen. Ein weiteres Problem in dem Zusammenhang: Falls ich eine genetische Krankheitsneigung etwa für Brustkrebs habe, dürfen Arbeitgeber zwar keine höheren Versicherungsbeiträge von mir verlangen. Andererseits kann die Versicherung das ganze Unternehmen schon höher belasten, wenn nur einer der Angestellten ein höheres Krankheitsrisiko hat. Das kann natürlich zur Verdrängung aus dem Arbeitsleben führen. Das bestehende Recht bildet also nur einen schwachen Schutz und, wenn ich mich - etwa als Freiberufler - selbst versichern muss, gar keinen Schutz.
Es scheint immer mehr solcher Diagnoseverfahren zu geben.
Das Angebot hat sich tatsächlich erheblich ausgeweitet. Inzwischen gibt es Tests, die einem sagen, was man essen oder welche Vitamine man nehmen sollte. Obwohl man das vermutlich ohnehin gewusst hätte. Sogar Zahnärzte setzen jetzt Gentests ein - für Zahnfleischerkrankungen. Praktisch jedes medizinische Feld adoptiert mittlerweile Gentests. Und gibt es da nicht auch diese DNA-Detektive? Nehmen wir zum Beispiel an, mein Liebhaber bekommt einen Liebesbrief von irgendjemandem. Ich könnte die Briefmarke einschicken, da deren Analyse dabei helfen könnte, den Absender festzustellen. Diese Person könnte dann beschattet werden und so weiter. Der kommerziellen Vorstellungskraft sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt.
Warum diese Zunahme?
Es gibt da sicherlich kommerzielle Interessen. Man denke an die 1.480 Biotechnologieunternehmen in den Vereinigten Staaten. Schließlich hält man hier auch mehr Patente auf DNA-Anwendungen und DNA-Sequenzen als in allen anderen Ländern der Welt. Sobald ein Unternehmen einmal ein Gen besitzt, wie das etwa beim Brustkrebsgen der Fall ist, drängt es darauf, möglichst viele Menschen zu testen, um mehr Gewinn aus diesen Verfahren zu schlagen. Deshalb werden sogar Embryos getestet.
Und da gibt es keinerlei staatliche Regulierung?
Unserem Rechtssystem nach ist die Food and Drug Administration (Zulassungsbehörde für Lebensmittel und Medikamente) zwar zuständig für die Beurteilung der Sicherheit und Aussagekraft von Gentests. Sie kümmert sich jedoch nicht um deren Anwendung in der Praxis, da es sich nicht um ein Arzneimittel handelt. Oft bleibt die Durchführung des Tests überhaupt den Konsumenten selbst überlassen. Es gibt auch eine Regierungsstelle, die alle zwei Jahre Laboratorien besucht, um zu prüfen, ob dort die Vorschriften befolgt werden. Wenn das aber der Fall ist und die Tests richtig durchgeführt werden, können sie nicht bestimmen, dass dieser oder jener Test nicht angewandt werden darf. Die Anwendung dieser Tests ist also gesetzlich nicht wirklich geregelt.
Wird es in Zukunft eine solche Regelung geben?
Ich sehe keine Bewegung in diese Richtung.
Warum?
Für die republikanische Administration haben diese Fragen keine Priorität.
Wie sieht das mit einer umfassenden Regelung der Fortpflanzungsmedizin aus? Auch hier scheint es ja keine ernsthafte Initiative für ein solches übergreifendes Gesetz zu geben.
Das stimmt. Teils ist das eine Konsequenz des in der Verfassung festgelegten individuellen Selbstbestimmungsrechts. Die Regierung hat grundsätzlich keine Handhabe, Frauen vorzuschreiben, ob sie Kinder haben sollen oder nicht. Ferner begegnet die Wissenschaft hierzulande wenig Skepsis. Dazu muß man nur die Zeitung aufschlagen. Anders als in Europa bedeutet Innovation in den USA immer Fortschritt. Neues ist immer besser. Wir haben Skepsis nicht gelernt. Wir haben ja auch eine viel kürzere Geschichte als Europa. So sucht man eben nach raschen Lösungen, magischen Pillen. Dazu kommt, dass Umweltgruppen oder Feministinnen, die in anderen Ländern auf eine gesetzliche Regulierung drängen, in den USA vor der Forderung nach Restriktionen zurückschrecken, weil sie befürchten, damit auch ihr Abtreibungsrecht zu verlieren. Für die liberalen Kräfte war es immer schwierig, in diesem Feld eine gute politische Strategie zu finden. Erst vor zwei Wochen haben sich Feministinnen aus aller Welt in New York getroffen. Bei dem Treffen sagte eine der Frauen: Man kann die Wissenschaft kontrollieren, ohne damit auch die Frauen zu kontrollieren. Und das war für die Amerikaner eine ganz neue Idee. Denn hier denkt man, wenn man nur irgendeine rechtliche Regulierung initiiert, speziell unter Präsident George Bush jr., der ja eine konservative, frauenfeindliche Politik verfolgt, verliert man alles. Ein wesentlicher Teil des nötigen politischen Aktivismus wird aber von Leuten aus der Linken kommen müssen, die verstehen, dass eine umfassende Regulierung nötig ist, um Frauen vor ungetesteten Verfahren und Fortpflanzungstechnologien zu schützen.
Gibt es nicht andererseits auch einen Einfluss konservativer Gruppen?
Oh ja, es gibt Gruppen, die sagen: Niemand sollte das Recht auf Abtreibung haben, niemand sollte das Recht auf künstliche Befruchtung haben. Auch diese Gruppen wollen keine Regulierung, da diese ja die Anerkennung dieser Möglichkeiten beinhalten würde.
Man kann heute eine starke konservative Tendenz in den Vereinigten Staaten feststellen, unter anderem in Religionsfragen. Gibt es einen Einfluß religiöser Gruppen auf die Regulierung der Gentechnik?
Es trifft sicher zu, dass religiöse Gruppierungen in den USA gemessen an der Anzahl ihrer Mitglieder überproportional Einfluß auf die Politik ausüben. Das erklärt zum Beispiel die Tatsache, dass es in den Vereinigten Staaten keine öffentliche Unterstützung für Forschung über künstliche Befruchtung gegeben hat und auch bestimmte Forscher nicht unterstützt wurden. Religiöse und Pro Life Gruppen haben die Regierung gedrängt, das nicht zu erlauben.
Sie treten seit Jahren dafür ein, dass genetische Tests und fortpflanzungsmedizinische Verfahren nur dann angewandt werden, wenn das die betroffene Person nach eingehender Beratung so entscheidet.
Ja, und zwar deshalb, weil viele Menschen ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung getestet werden.
Ihre Position nimmt das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur Grundlage. Die Alternativen wären, entweder den praktizierenden Ärzten die Entscheidungsmacht zu übertragen oder eine zwingende staatliche Politik zu erlassen. Jürgen Habermas hat allerdings vor einiger Zeit davor gewarnt, dass der Entwicklungsschub bei Fortpflanzungstechniken und Genetik gepaart mit diesem Grundrechtsansatz zu einer neuen Form “liberaler Eugenik” führen könnte.
Das ist kaum zu leugnen. Eine solche “zweite Welle” der Eugenik, diesmal unter liberalen Vorzeichen, ist durchaus denkbar. Man denke nur an die Klienten von Samenbanken, die immer nur die intelligentesten und schönsten Spender auswählen. Man hat diesen Vorwurf ja auch “planned parenthood”, der Bewegung zur Durchsetzung des Rechts auf Abtreibung, gemacht. Auch wenn das nicht im Sinn dieser Bewegung war, mochte sie im Endresultat durchaus dazu geführt haben, dass Frauen aus sozial schwachen Schichten weniger oder keine Kinder bekommen haben, was ganz im Sinne der Eugeniker lag. Aus liberaler Perspektive muß man aber eben auch solche nicht gewollten Resultate in Kauf nehmen. Das ist das Dilemma einer auf Grundrechten basierenden Regelung. Das wird sich wohl in der weiteren Entwicklung von Fortpflanzungstechnik und Gendiagnostik immer wieder zeigen. Das Interview führte Franz Seifert
Literatur:
- Andrew, Lori; Nelkin, Dorothy (2001): Body Bazaar: The Market for Human Tissue in the Biotechnology Age; Crown Publishers, New York
- Andrew, Lori (2001): Future Perfect: Confronting Decisions about Genetics; Columbia University Press, New York
- Andrew, Lori (2000): The Clone Age: Adventures in the New World of Reproductive Technology; Henry Holt, New York
Lori Andrews ist Professorin für Recht am Chicago-Kent College of Law, Leiterin des Institute for Science, Law and Technology in Chicago und Vorsitzende des Institute on Biotechnology and the Human Future. Sie war ferner Vorsitzende der Arbeitsgruppe zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen der Genetik innerhalb des Human Genom Projekts.