SESAM-Riegel gegen Krankheiten
Ein Projekt gewaltigen Ausmaßes ist am 1. Oktober 2005 am Institut für Psychologie der Universität Basel angelaufen. Die Langzeitstudie SESAM (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) soll mittels der Erforschung von 3000 "individuellen Entwicklungsverläufen" von der zwölften Schwangerschaftswoche bis zum 20. Lebensjahr Aufschluss über die Ursache psychischer Störungen liefern.(1)
Insgesamt werden die Daten von 15.000 bis 17.000 Menschen ausgewertet, da das soziale Umfeld (Eltern und Großeltern) mit in die Erhebung einfließt.(2) Ziel des Projektes ist laut Projektleiter Jürgen Margraf, nichts weniger als "die Klärung der Frage: Was macht die Seele krank?"(3) "Nur starke und gesunde Kinder"(4) können die Anforderungen, die an sie durch die zunehmend alternde Gesellschaft gestellt sind, erfüllen.(5) SESAM soll "die wissenschaftlichen Erkenntnisse" liefern, die die "Gesundheitsförderung von Kindern" verbessern sollen.(6)
Gesundheit als Kostenfaktor
Der Ausgangspunkt ist folgender: "Nach Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation werden bereits im Jahr 2020 Depressionen weltweit die zweithäufigste Ursache für Erwerbsunfähigkeit und vorzeitige Sterblichkeit sein"(7) und auch für die reiche Schweiz "sind die davon verursachten steigenden Sozialausgaben kaum noch leistbar. Die enormen Folgeprobleme erfordern daher ebenso wie das massive Leiden der Betroffenen dringlich ein klares Verständnis der Wege zu psychischer Gesundheit oder Fehlanpassung."(8) Ziel ist daher offensichtlich, die Kosten im Gesundheitswesen senken zu können.(9) Soweit zum ökonomischen Anspruch, der den Forschern am Herzen liegt, da die Schweiz "mit ihren weltweit zweithöchsten Gesundheitskosten"(10) als besonderes Sorgenkind gilt. Der Schweizerische Nationalfonds hat SESAM zum nationalen Forschungsschwerpunkt deklariert und fördert das Projekt mit 10,2 Millionen(11) Franken für die nächsten vier Jahre. Drittmittel werden von der Pharmaindustrie und anderen Industriezweigen erwartet, stehen zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht fest. Die Industrie würde dann, versichert der stellvertretende Projektleiter Alexander Grob, weder die Forschung beeinflussen können, noch einen freien Zugang zu den Daten erhalten.(12) Auf den Internet-Seiten der Universität Basel ist hingegen Folgendes zu lesen: "The concepts behind the NCCR [National Centre of Competence in Research (13)] are fully in line with the long-term strategies of Swiss pharmaceutical companies such as Novartis and Roche ... that aim to identify new therapeutic approaches to helping people suffering from mental disorders and maladjustment."(14) Grundlage für die Erhebung und Auswertung der Daten bieten psychosoziale und genetisch-biologische Ansätze, die nicht in Konkurrenz, sondern in einer Symbiose zueinander stehen sollen, um einem differenzierten Wissenschaftsanspruch gerecht zu werden.(15) Dahinter steht die soziobiologische Erkenntnis, dass "Biologie und Verhalten, Gene und Umwelt sich gegenseitig beeinflussen".(16)
Risiko für Depression?
Zur Untersuchung "genetisch-biologischer Faktoren" dient beispielsweise die Analyse genetischer Polymorphismen (Genvariationen).(17) Die Polymorphismusdiagnostik gilt bereits heute als "die Vorsorgemedizin der Zukunft".(18) Der Mensch wird stetig weiter in seine kleinsten Teilchen zerlegt, um dann über sein Risiko zu erkranken, Aussagen treffen zu können. Welche Konsequenzen aus den Schlüssen der Forscher resultieren, ist kaum mehr abschätzbar. Wie Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik bezeugen, stellen häufig durchgeführte Testmethoden in der Schwangerenvorsorge keinen Garant für aussagekräftige Erkenntnisse dar. Auf der Basis solcher Risikoberechnungen können keine individuellen Voraussagen getroffen werden. Ein Beispiel ist der häufig angewandte Triple-Test, mit dem aufgrund einer Untersuchung des mütterlichen Blutes die Wahrscheinlichkeit für die Ausprägung einer Trisomie 21 beim Kind berechnet wird. Ein Informationsblatt, erhältlich in humangenetischen Beratungsstellen, erklärt zusammenfassend die Leistbarkeit des Testes: "Wird bei 1000 Frauen ein sogenannter `Triple-Test` durchgeführt, sind folgende Ergebnisse zu erwarten: 40 Frauen haben ein erhöhtes Risiko für ein Kind mit Neuralrohrdefekt (zum Beispiel "offener Rücken"), jedoch sind nur zwei Kinder davon tatsächlich betroffen. 80 bis 100 Schwangerschaften zeigen ein erhöhtes Risiko für Down-Syndrom, tatsächlich betroffen davon sind nur 1 bis 2 Kinder. Von den verbleibenden ca. 870 Schwangerschaften ohne erkennbare Risikoerhöhung wird ein Kind dennoch eine der genannten Erkrankungen haben."(19) Das Beispiel zeigt, dass mit den meisten Testverfahren innerhalb der Schwangerschaftsvorsorge statistisch ermittelte Risikowahrscheinlichkeiten berechnet werden, die keine präzisen Diagnosen zulassen.
Offene Fragen
Die erste Phase von SESAM dient der Untersuchung des Einflusses der sozialen Belastung während der Schwangerschaft auf das Geburtsgewicht, Schlaf- und Schreiverhalten des Säuglings.(20) Unklar ist, wie die Daten verarbeitet werden und inwieweit sich aus den sozialen Umständen kausale Antworten für das Verhalten oder die physische Beschaffenheit des Probanden erschließen können. Welche Rückschlüsse können aber zum Beispiel aus dem Geburtsgewicht und den sozialen Einflüssen während der Schwangerschaft gezogen werden? Ist das eine SESAM-Kind im Durchschnitt 200g leichter als seine SESAM-Kollegen, weil die Schwiegermutter während der Schwangerschaft stets anrief, die andere Mutter jedoch von ihrer Schwiegermutter in Ruhe gelassen wurde? Oder ist das Geburtsgewicht doch abhängig von den zweierlei Kariesbakterien im Speichel der Mutter, wie jüngst amerikanische Forscher bekannt gaben?(21) Die Teilnahme von Paaren soll freiwillig erfolgen, wobei die Eltern die Zustimmung für ihre ungeborenen Kinder erteilen. Alle Daten, so heißt es, würden selbstverständlich anonymisiert. Da davon auszugehen sei, dass die Eltern "zum Wohle des Kindes" entscheiden, gäbe es keine rechtlichen und ethischen Bedenken, meint die Projektleitung. Laut Plan sollen die Probanden im Alter von circa 16 Jahren selbst befragt werden und können dann mit dem Projekt entweder kooperieren oder aussteigen, was dann zu einer Löschung der gesammelten Daten führen würde, so Alexander Grob.(22) Bis die involvierten Kinder diese Möglichkeit erhalten, sind jedoch bereits 16 Jahre und circa 24 dokumentierte Schwangerschaftswochen vergangen und unzählige Proben und Daten sind gesammelt oder gar bereits verwertet worden. Ob dies im Sinne der Untersuchten geschieht, ist zweifelhaft; zu ihrem eigenen Wohle ist es nicht, denn es geht ausdrücklich um Nutzen für Dritte: "Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, politisch Verantwortliche[n] und künftige[n] Generationen".(23)
Kaum öffentliche Kritik
Bis heute ist jedoch kaum Kritik gegen dieses Vorhaben vorhanden. Unter den wenigen lauten Stimmen ist der Basler Appell gegen Gentechnologie der Vorreiter.(24) "Der Basler Appell gegen Gentechnologie wurde auf das Projekt SESAM aufmerksam, als bekannt wurde, dass Erbgutanalysen bei der Untersuchung der Kinder einen zentralen Bestandteil darstellen sollen", sagt die Geschäftsführerin des Vereins, Pascale Steck. "Allerdings stehen nicht nur die DNA-Analysen im Zentrum unserer Kritik, welche sogar auf Stufe der Verfassung ohne die persönliche Zustimmung des Betroffenen verboten sind. Generell ist die fremdnützige klinische Forschung an Kindern bisher hier in der Schweiz tabu. Denn Kinder können ihre Zustimmung zu solchen Projekten nicht geben. Und die Eltern sind laut Eidgenössischem Zivilrecht mit ihrer Zustimmung an das gesundheitliche Wohlergehen ihres Kindes gebunden. Das heißt sie dürfen eine Forschung, die der Gesundheit des Kindes unter Umständen schaden könnte, nicht zulassen." Es stellt sich die Frage, ob ein Mensch, der sich ohne seine Zustimmung am Anfang eigenen Denkens in einer Langzeitstudie wiederfindet, tatsächlich wohl dabei fühlt, einen großen Beitrag für "Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [und] politisch Verantwortlichen und künftigen Generationen"(25) zu leisten. Nicht klar erscheint, wie diese Einwilligung noch innerhalb der Kategorie "zum Wohle des Kindes" fassbar ist, wenn es sich um eine unfreiwillige 20-jährige Bewachung im schlimmsten Falle und Begleitung im besten Falle handelt. Langzeitstudien zur Thematik der möglichen Komplikationen im Leben eines unfreiwilligen Langzeitstudienprobanden existieren wohl kaum, könnten jedoch an diese Studie als aufbauendes Projekt angeschlossen werden.
Präzise Auskünfte fehlen
Präzise Auskünfte zum Projektdesign sind auf den Seiten der Universität in Basel jedenfalls (vorerst?) nicht zu finden.(26) Die Angaben sind allgemein gehalten, obwohl sich das Projekt bereits seit Oktober in der Startphase befindet. Die kontinuierlichen Untersuchungen beginnen laut Plan am 1. Oktober 2006.(27) Barbara Glättli, Pressesprecherin von SESAM, teilt zum weiteren Vorgehen des Projektes mit, es seien noch keine verbindlichen Aussagen möglich, da die derzeitige Phase der Erschließung relevanter Variablen für die Studie diene.(28) Dabei stünde das Forschungsteam im ständigen Dialog mit Ethikkommissionen (sowie diversen ethischen Begleitorganisationen), die "in jedem Teil des Projektes eingebunden sind". Ab Januar 2006 soll dann eine umfassende Internet-Seite über den Projektplan informieren und eventuell Einblick in Detailstudien bieten. Genaue Angaben darüber, was erforscht und wie geforscht werden soll, seien aber erst zum Sommer nächsten Jahres möglich. Zu diesem Zeitpunkt würden dann auch erst die TeilnehmerInnen des Projektes rekrutiert. Laut Glättli soll es keine öffentliche Ausschreibung geben. Stattdessen sollen Schwangere bei ihrem Aufenthalt in kooperierenden Kliniken befragt werden. Das heißt auch, dass ausgewählte Ärzte und Hebammen involviert sind. Hinsichtlich der Pränataldiagnostik sind keine weiteren, als die in der Schweiz routinemäßigen Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen vorgesehen, auch wenn "die üblichen Testmethoden teilweise unter anderen Forschungsblickwinkeln betrachtet werden". Die öffentliche Kritik an dem Projekt kann Glättli nicht verstehen: Schließlich ginge es bei SESAM nicht um die Züchtung perfekter Menschen, sondern um Grundlagenforschung. Wer eine deutlichere Botschaft erwartet, der muss sich wohl gedulden. So lange keine weiteren als die momentan verfügbaren Informationen einsehbar sind, ist es allerdings kaum nachvollziehbar, um welchen Charakter es sich bei dieser Studie handelt. Und umso fragwürdiger ist das Konstrukt der informierten Einwilligung. Ob aus den Erkenntnissen von SESAM ein "Schatz von nationalem Wert für Wissenschaft und Gesellschaft"(29) entsteht, wie die Leiter des Projektes meinen, wird sich dann spätestens 2026 zeigen.
Fußnoten
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 08.11.2005.
- http://sesam.twoday.net/topics/Grundlagen/; http://www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?cont…, 08.11.2005.
- Neue Züricher Sonntagszeitung (49), 05.12.04, S. 77
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 17.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 17.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 09.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 17.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=sci…, 17.11.2005.
- http://sesam.twoday.net/topics/Grundlagen/ , 08.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=sci…, 09.11.2005.
- www.baz.ch/newsticker/news.cfm?ObjectID=C9EB0CDD-…, 08.11.2005.
- www.baslerappell.ch/de/content/aktuell/documents/…, 08.11.2005.
- www.nccr-finrisk.unizh.ch/, 17.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=soc…, 09.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=sci…, 08.11.2005.
- Neue Züricher Sonntagszeitung (49), 05.12.04, S. 77.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 18.11.2005.
- www.dr-klentze.de/DE/frame_news_gen_Risiko_diag_P…, 18.11.2005.
- Holzegreve, W. et al., Schematische Darstellung der erwarteten Befunde beim sogenannten "Triple-Test", Zentrum für Frauenheilkunde und Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Ein Service der Organon GmbH, o. O., o. J.
- http://sesam.twoday.net/topics/Grundlagen/ , 08.11.2005.
- www.vistaverde.de/news/Wissenschaft/0503/24_frueh…, 03.11.2005.
- www.baslerappell.ch/de/content/aktuell/documents/…, 08.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 08.11.2005.
- www.baslerappell.ch/, 09.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam/index_html?content=hom…, 08.11.2005.
- www.psycho.unibas.ch/sesam, 08.11.2005.
- http://sesam.twoday.net/topics/Grundlagen/, 09.11.2005.
- Die nachfolgenden Angaben beruhen auf einem persönlichen Telefonat mit Barbara Glättli am 21.11.2005.
- www.unibas.ch/doc/doc_download.cfm?uuid=CBE3EA24C…;, 18.11.2005.
Katrin Lange ist Diplom-Pädagogin und hat ihre Diplomarbeit zum Thema "Was ist neu an der "neuen Eugenik"? Eine kritische Analyse am Beispiel der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik" geschrieben. Ab Januar wird sie ein Praktikum im Gen-ethischen Netzwerk e. V. machen.
Wissenschaftler und Staat
"Meiner Ansicht nach kann es zwischen dem Wissenschaftler und dem Staat niemals gut gehen, ihre Gesichtspunkte sind zu verschieden, für einen Wissenschaftler ist die Wissenschaft die Erkenntnis, für den Staat aber ist sie etwas anderes, für den Staat… ist die Wissenschaft die Macht, für den Staat ist der Wissenschaftler nur ein Werkzeug, das er sich leistet, um Macht zu erlangen, und selbstverständlich erwartet er von dem Werkzeug, denn er bezahlt es ja, eine totale Unterwerfung unter die Ziele, die er verfolgt, der Wissenschaftler hält sich für frei, weil er die Wahrheit erforscht, tatsächlich aber ist er ohne sein Wissen eingeordnet, domestiziert, gefangen."
(Quelle: Robert Merle, Ein vernunftbegabtes Tier, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar; Originalausgabe 1967, Edition Gallimard, 1971, S.213.)
Wahrscheinlichkeitslehre...
"Wahrscheinlichkeitslehre ist (...) demjenigen nützlich, der eine Frage beantworten will, die er nicht mit Gewissheit beantworten kann. Er versucht seinen Wissensstand mit Hilfe der Wahrscheinlichkeiten dafür abzuklopfen, welche Antwort er geben sollte."
(Quelle: Gero von Randow, Das Ziegenproblem: Denken in Wahrscheinlichkeiten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2004, S. 18)