Ethik oder Marketing?
Bei der Stammzellforschung geht es inzwischen kaum noch um gute Begründungen der Forschungsziele, sondern vor allem um schnellstmögliche Schaffung gesellschaftlicher Akzeptanz. Dazu muss die ethische Vertretbarkeit dieses Verfahrens gewährleistet werden. Am Fall um die Studie Robert Lanzas zeigte sich erneut deutlich ein funktionaler Mangel im System wissenschaftlicher Publikationen.
Am 23. August publizierte die Zeitschrift "Nature" einen online-Artikel des US-amerikanischen Genforschers Robert Lanza und kündigte ihn als Sensation im Bereich der Stammzellforschung an. Lanzas Team sei es - in ähnlicher Weise wie bei der in der Präimplantationsdiagnostik angewandten Methode - gelungen, embryonale Stammzellen zu gewinnen, ohne menschliche Embryonen zu zerstören, hieß es dort unter der werbekräftigen Überschrift "Early embryos can yield stem cells ... and survive" - auf deutsch: frühe Embryonen können Stammzellen liefern ... und überleben". Es wurde nahe gelegt, die Stammzellforscher hätten, bevor sie zwei Stammzelllinien kultivierten, jeweils lediglich eine einzelne Zelle aus dem embryonalen Zellverband gelöst und dieser sei dabei intakt geblieben. Damit, so warb Nature, spreche die Studie "die ethischen Bedenken vieler an". Mit dieser Botschaft ging die Studie von Lanza umgehend durch die Medien. Doch wenige Tage später stellte sich heraus, dass es sich bei der vermeintlichen Sensationsnachricht, dem angeblichen Durchbruch zu "ethisch unbedenkliche(n) Stammzellen" (Focus), schlichtweg um eine falsche Beurteilung der Studie durch die Fachzeitschrift gehandelt hatte. "Nature" veröffentlichte einen Widerruf: Man halte es für nötig, klar zu stellen, dass die Studie zeige, dass menschliche embryonale Stammzellen aus einzelnen Zellen gezüchtet werden können, heißt es darin. Im Experiment Lanzas und seiner Forschergruppe seien die Embryonen jedoch nicht "intakt" geblieben.
Wer trägt die Verantwortung?
Den Wissenschaftlern selbst ist nicht etwa Täuschung, wie vor rund zehn Monaten dem Forschungsteam des südkoreanischen Wissenschafters Hwang Woo-suk vorzuwerfen (siehe GID 174). Technisch sei die Arbeit einwandfrei, bestätigt beispielsweise der Kölner Stammzellforscher Jürgen Hescheler, nur wissenschaftlich bringe sie keinerlei neue Erkenntnis. Dieser Beurteilung schließen sich im Großen und Ganzen auch andere Experten an: Zwar hätten sich die Autoren in ihrem Text an einigen Stellen präziser ausdrücken sollen, um Missverständnisse zu vermeiden. Sie hätten klarstellen sollen, dass das beigefügte Abbild eines intakten Embryos nicht der Versuchsreihe entnommen war. Aber es ist nicht daran zu rütteln, dass die Autoren in ihrem Text sachlich korrekte Informationen lieferten. Den Fehler beging das Magazin bei seiner Bewertung und Präsentation der Studie.
Viele Fragen
Dieser Fall wirft daher weniger wissenschaftliche als vielmehr gesellschaftliche und mediale Fragen auf: Weshalb wird eine Studie zur Stammzellforschung, die eigentlich wenig Neuigkeitswert zu bieten hat auf Kosten ihrer wissenschaftlichen Korrektheit so marktschreierisch angekündigt? Welche Interessen stecken hinter einem solchen Umgang mit einem derartig heiklen Thema? Offenbar geht es nicht in erster Linie um die Begründung eines ethisch umstrittenen Forschungsfeldes: denn die Überzeugung, dass pluripotente Stammzellen für den medizinischen Fortschritt unverzichtbar seien, wird - obwohl die Forschung hier noch in den Kinderschuhen steckt - immer wieder als offiziell etablierter Konsens dargestellt und in jeder Regionalzeitung und vom Spiegel bis zum Wissenschaftsteil der FAZ unhinterfragt proklamiert. Diskutiert wird fast ausschließlich ein und dieselbe aus der Forschung resultierende ethische Problematik: Nach wie vor können embryonale Stammzellen nur durch Zerstörung menschlicher Embryonen gewonnen werden. So beginnt für die Wissenschaftler ein Wettlauf um schnellstmögliche ethische Vertretbarkeit, der ihre eigentliche Aufgabe, die wissenschaftliche Plausibilität von Forschungsansätzen zu testen und in diesem Rahmen Forschungsprogramme zu diskutieren, zunehmend aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. "Jeder glaubt, dass er einen Nobelpreis kriegt, wenn er als erster menschliche embryonale Stammzellen herstellen kann, ohne Embryonen zu zerstören" kommentiert Ulrike Beisiegel, Ombudsfrau der Deutschen Forschungsgemeinschaft, diese Entwicklung innerhalb der Stammzellforschung gegenüber der Leipziger Volkszeitung. Allzu oft tun die Medien durch sachlich mangelhafte oder undifferenzierte Berichterstattungen ihr Übriges dazu, und selbst wissenschaftliche Veröffentlichungen, die eigentlich durch das Peer Review-Verfahren hinsichtlich ihrer Qualität und Korrektheit gesichert sein sollten, lassen zunehmend an ihrer Seriosität zweifeln. So ist die Zusammenfassung, die die Nature-Redaktion dem Artikel von Lanza et al. voranstellte, nicht nur in ihrer Unklarheit grenzwertig: Sie löste mit der Behauptung, die ethischen Bedenken vieler würden mit der folgenden Studie angesprochen, die irrige Annahme aus, bei der beschriebenen Versuchsreihe sei die Herstellung von Stammzellen ohne die Zerstörung von Embryonen erreicht worden. Diese Bemerkung der Fachredaktion war unwissenschaftlich und kann als rhetorischer Kniff gesehen werden, durch den die problematische Forschung zu gesellschaftlicher Akzeptanz und die eigene Zeitung zu einer hohen Auflage geführt werden soll. Was zunächst wie wissenschaftliches Verantwortungsbewusstsein aussieht, entpuppt sich an dieser Stelle allzu deutlich als Versuch, die Kritik an einem Forschungsfeld zu schwächen, das in seiner Komplexität aufgrund der vielfältigen mit ihm verknüpften Interessen, der Risiken und Gefahren gar nicht sorgfältig genug begutachtet werden kann. Die Medien erweisen sich dabei als allzu willige Helfer.
Anna Leuschner studiert Philosophie und war Praktikantin beim Gen-ethischen Netzwerk
Hätte, würde, dürfte, könnte...
Gerüchte und Prophezeihungen sind die Grundlage von Spekulationsgeschäften an der Börse. Das US-amerikanische Biotech-Unternehmen Advanced Cell Technology (ACT) setzte gezielt uneindeutige Informationen in die Welt, um seinen Börsenwert zu steigern: Unmittelbar nachdem die in Worcester, Massachusetts angesiedelte Firma meldete, in ihren Laboren sei eine Technik zur Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen entwickelt worden, "bei der der Embryo sein Entwicklungspotential beibehält", schoss ihr Aktienwert kurzfristig in die Höhe. "Nicht wenige wüssten nun sicher gerne, ob Lanza oder andere sich just zu diesem Zeitpunkt von nennenswerten ACT-Aktien-Paketen getrennt haben," kommentierte die Würzburger Tagespost. Es scheint zumindest unwahrscheinlich, dass die Unternehmensleitung ernsthaft gehofft hat, ihr Manipulationsversuch würde unentdeckt bleiben. Dafür reicht nämlich ein simples Rechenspiel: Die Forscher schreiben, sie hätten sechzehn Embryonen im Acht- bis Zehn-Zellstadium für ihre Experimente verwendet; 91 embryonale Zellen (sogenannte Blastomeren) wollen sie für die Herstellung von zwei Stammzelllinien verbraucht haben. Es kann also nicht sein, dass sie pro Embryo lediglich ein bis zwei Zellen entnahmen. Genauso wenig hat Lanzas Forschungsteam bewiesen, dass es möglich ist, aus einer einzelnen Blastomere eine Stammzelllinie heranzuziehen: Sie kultivierten nämlich mehrere embryonale Zellen zusammen in derselben Nährlösung. Es ist also nicht auszuschließen, dass diese untereinander Signale ausgetauscht haben, die bei der Bildung der Stammzelllinien eine Rolle gespielt haben. Darauf, dass Stammzellen eine "kritische Masse" von Zellen brauchen, um sich zu entwickeln, weisen auch die Arbeiten anderer Wissenschaftler hin. Für die deutsche Rechtslage wäre es übrigens unerheblich gewesen, ob den Embryos eine oder mehrere Zellen entnommen wurden: denn im frühen Entwicklungsstadium gilt jede einzelne Zelle eines Embryos ihrerseits als totipotent, das heißt, es wird angenommen, dass sie sich unter geeigneten Bedingungen zu einem Embryo entwickeln kann. Das heißt, sie darf weder zerstört, noch für Forschungszwecke verwendet werden. (mf)
Quellen:
Nature online, 23.08.06 PM ACT, 23.08.06 Die Tagespost (Würzburg), 31.08.06 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.06; 30.08.06