Osteuropäische Ölfelder
Eine Million Proben und Datensätze hatte man beim Start des estnischen Biobankprojektes 2001 sammeln wollen, 10.000 sind es bis heute geblieben. Nachdem der Vertrag mit den privaten Geldgebern Ende 2004 aufgelöst worden war, hatte die estnische Regierung zunächst für ein Jahr die Finanzierung des laufenden Betriebes übernommen. Nun sieht es ganz so aus, als würde die Sammlung von Daten und DNA-Proben dauerhaft staatlich finanziert.
"Die Situation ist jetzt sehr viel besser", sagt Andres Metspalu, Leiter der Estonian Genome Project Foundation (EGPF), der Stiftung, die das estnische Biobankprojekt verwaltet. "Es gibt einen politischen Willen, das Projekt fortzusetzen." Der Initiator des Biobankprojektes ist hörbar erleichtert, seit die estnische Regierung Anfang Dezember vergangenen Jahres beschloss, den Betrieb der Biobank ab 2006 mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Ohne diese Entscheidung hätte das Projekt in diesem Jahr eingestellt werden müssen: Schon Ende 2004 war der Vertrag der estnischen Stiftung mit dem Konsortium aus US-amerikanischen Risikokapitalfonds und privaten Investoren, das das Projekt finanzierte, aufgelöst worden. Nachdem 10.000 Proben und Daten gesammelt worden waren, hätten die Kapitalgeber keine weiteren Mittel in die Vergrößerung des Proben- und Datenbestandes investieren wollen, so die Darstellung der EGPF. Sie hätten lediglich Interesse an der Nutzung der vorhandenen Datensätze für klinische Studien gehabt. Die Betreiber des Biobankprojektes hingegen wollten einen möglichst großen Pool aufbauen. Daten aus zwanzigseitigen Fragebögen zu Gesundheit und Lebensstil und dazugehörigen DNA-Proben von einer Million Esten, das heißt drei Vierteln der Bevölkerung, werde man zusammentragen, so die vollmundige Ankündigung zum Start des Projektes im Jahre 2001.(1) Damals hieß es: Je umfangreicher eine Biobank, desto brauchbarer für die statistischen Operationen, mit denen man genetische Grundlagen von häufigen Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Diabetes zu erhellen versprach. Auch die Entwicklung genetischer Tests zur individuellen Wirkstoff- und Therapieverträglichkeit oder neuartiger, "maßgeschneiderter" Medikamente schien nur noch eine Frage der Logistik. Zukunftsvisionen dieser Art überdeckten die Widersprüche des Ansatzes – wie so oft in den Biowissenschaften.(2) Heute steht nicht weniger als die wissenschaftliche Brauchbarkeit bevölkerungsweiter Biobanken selbst in Frage (vgl. Kasten Bevölkerungsweite Biobanken). Zu Beginn des Jahrtausends aber erreichten solche Fragen die öffentliche Wahrnehmung noch nicht, und so war die Konkurrenz groß. In einigen Ländern wurden Biobankprojekte im Umfang von mehreren 100.000 Datensätzen geplant und gestartet: In Island beispielsweise hatte bereits Anfang 2000 eine private Firma mit dem Aufbau einer Biobank mit Proben und Daten der gesamten Bevölkerung begonnen und in Großbritannien befasste man sich mit ersten Konzeptionen für die UK Biobank.(3)
Unerfüllte Erwartungen
Heute werden allerorten deutlich kleinere Brötchen gebacken. So spricht in Island niemand mehr davon, mit einem Datenpool der gesamten Bevölkerung die genetischen Ursachen von weit verbreiteten Erkrankungen systematisch zu erfassen. Heute wird versucht, der Industrie die bisher gesammelten Proben für klinische Studien anzudienen.(4) In Großbritannien wird der Start der Probensammlung immer wieder verschoben, weil nicht nur Genetiker, Epidemiologen und Biostatistiker, sondern auch Datenschützer den Nutzen des Projektes skeptisch beurteilen (vgl. Kasten).(5) Und auch in Estland ist Ernüchterung eingekehrt. Von der ursprünglichen Zielmarke von einer Million Datensätzen etwa haben die Betreiber der Biobank sich längst verabschiedet. Im Verhältnis zum Nutzen ist die Datenerhebung wohl zu mühselig und zu teuer.(6) "100.000 Proben reichen völlig aus, sie sind bei einer Bevölkerung von 1,4 Millionen repräsentativ", so Metspalu von der estnischen EGPF. "Die Zahl von einer Million haben die Medien in die Welt gesetzt." Auch von den ökonomischen Erwartungen ist heute, fünf Jahre nach Beginn des Projektes, nicht viel übrig. Als das estnische Parlament im Dezember 2000 beschloss, den Aufbau der Biobank zu unterstützen, stand dahinter wie in anderen Ländern auch die Hoffnung auf das Interesse der Pharmaindustrie – und auf Investitionen, Wachstum und Arbeitsplätze. Nichts davon ist eingetreten. Ebensowenig haben sich die viel gepriesenen Potenziale der "individualisierten Medizin" auch nur im Ansatz realisiert. Die estnische Regierung glaubte beim Start des Projektes 2001, die chronisch knappen Ressourcen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung Estlands sehr bald effektiver einsetzen zu können – durch pharmakogenetische Tests vor der Behandlung hoffte man, Medikamente bald nur noch denjenigen Patienten zu verabreichen, die sie vertragen und bei denen sie wirken.(7) Verlässliche pharmakogenetische Tests sind bisher aber nicht in Sicht. Und die wenigen bisher entwickelten neuen Medikamente sind zu teuer. Der Fall einer an Leukämie erkrankten Frau in Estland macht drastisch deutlich, was das in Ländern mit knappen Ressourcen für die öffentliche Gesundheitsversorgung bedeutet. Der Zustand der Frau hatte sich nach Einnahme des pharmakogenomischen Medikamentes Glivec deutlich gebessert. Daraufhin übernahm die gesetzliche Krankenversicherung des Landes zunächst die Kosten von etwa 2.800 Euro monatlich für das Präparat. Nach wenigen Monaten wurde die Finanzierung der Therapie aber eingestellt. Für eine weitere Finanzierung der Behandlung müssten die Budgets für andere Erkrankungen gekürzt werden, so die Begründung, und das sei nicht vertretbar. Dieses Vorgehen löste in Estland eine anhaltende Diskussion über Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung und im Solidarsystem aus. Ein Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung fasste die Situation mit den Worten zusammen, es sei einfach Pech, in Estland geboren zu sein.
Eine staatseigene Biobank...
Von solchen Problemen zeigen sich die Betreiber des estnischen Biobankprojektes wenig beeindruckt. Sie glauben an die Zukunft der individualisierten Medizin und halten trotz Ernüchterung prinzipiell am Nutzen des Projektes für die estnische Wirtschaft fest. "Den meisten Leuten fällt es schwer, über den eigenen Tellerrand hinaus, das heißt perspektivisch zu denken", so etwa Andres Metspalu. "Eine solche Biobank ist wie ein Ölfeld. Eine Genentdeckung kann viel Geld bringen, aber nicht jede Bohrung bringt Öl – das ist Wissenschaft." Auch im zuständigen Sozialministerium hat man die Skepsis bezüglich einer Fortsetzung des Projektes abgelegt. "Mit der Biobank haben wir die Chance, unsere Genomforschung weiterzuentwickeln", sagt Mare Toompuu, Referentin für Genomforschung in der Abteilung Gesundheit des estnischen Sozialministeriums. "Und es ist ein innovatives Projekt." Eine Flucht nach vorn, nachdem das Ministerium mit dem Ausstieg der Investoren aus dem Projekt Ende 2004 förmlich auf den 10.000 sensiblen Datensätzen sitzen geblieben war. Denn eine Besonderheit des estnischen Genforschungsgesetzes, das den Betrieb der Biobank regelt, besteht in dem Eigentumsrecht an Proben und Daten: Sie gehören dem Staat, genauer dem estnischen Sozialministerium. Alle Teilnehmer am Projekt haben eine Abtretungserklärung unterschrieben. "Insofern haben wir eine ganz besondere Verantwortung gegenüber den Probanden", beschreibt Ivi Normet, stellvertretende Generalsekretärin für Gesundheit, die Situation. Wie die Fortsetzung des Projektes konkret aussehen wird, darauf will sich bisher aber niemand festlegen. Die Regierung hatte zwar Anfang Dezember letzten Jahres auf einer eigens anberaumten Pressekonferenz angekündigt, dass der Betrieb der Biobank künftig mit öffentlichen Mitteln finanziert werden wird. Dann wurde aber erst einmal eine Arbeitsgruppe eingesetzt, bestehend aus Mitgliedern der EGPF und mehrerer Ministerien. Sie entwirft derzeit ein Modell für die Finanzierung und Reorganisation des Projektes; unter anderem wird sie vorschlagen, die Biobank der Universität Tartu anzugliedern. Eine endgültige und konkrete Entscheidung der Regierung ist nicht vor Ende April zu erwarten.
...für die internationale Forschung...
"Es wäre seltsam, wenn die Regierung jetzt noch abspringen würde", so Andres Metspalu von der EGPF. "Deshalb bin ich hoffnungsvoll, dass die Regierung sich für die Biobank entscheidet. Sie ist das einzige estnische Projekt von internationaler Bedeutung." Tatsächlich ist die EGPF federführend an der weltweiten Initiative "Public Population Project in Genomics" zur Vernetzung bestehender bevölkerungsweiter Probensammlungen beteiligt, die in diesem Jahr ein EU-finanziertes Projekt startet (vgl. Kasten). Außerdem arbeitet die Stiftung im Rahmen eines unter dem 6. Forschungsrahmenprogramm geförderten Projektes mit dem Europäischen Institut für Bioinformatik und anderen europäischen Forschungsinstitutionen zusammen, bei dem unter anderem eine Studie der EU-Aktivitäten auf dem Gebiet der pharmakogenetischen Forschung erstellt wird.(8) "Wir zielen darauf ab, Partner in einer Vielzahl von Studien zu werden", so Andres Metspalu von der EGPF. "Und wenn wir erst 100.000 Datensätze haben, kommen sicher EU-Forschungsgelder in großem Umfang nach Estland." Diese Perspektive ist nicht ganz unberechtigt. Schon jetzt werden die vorhandenen Datensätze von europäischen und insbesondere auch deutschen Forschungsprojekten munter genutzt. Daten aus der Biobank stellt die EGPF beispielsweise für ein bilaterales Forschungsprojekt mit der Universität München zur Verfügung. Zurzeit nutzen außerdem zwei aus dem EU-Forschungsetat finanzierte Verbundprojekte die estnische Biobank: In dem am Institut für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität des Saarlandes koordinierten EU-Projekt "Molekulare Ätiologie der Schizophrenie" mit elf europäischen Kooperationspartnern werden nicht nur Daten, sondern auch Proben aus Estland verwendet. Auch das EU-geförderte Projekt mit dem Titel "Populationsspezifische DNA-Marker für die Identifikation von moderaten Risiken für Mamma- und Kolonkarzinome und ihre Markteinführung" von zehn europäischen Forschungsinstiutionen greift sowohl auf Daten wie auf Proben aus Estland zurück.
...und die nationale Gesundheitspolitik
"Die Biobank ist eine Ressource mit großem Potenzial, auch für die öffentliche Gesundheit", sagt Mare Toompuu vom estnischen Sozialministerium. Was genau sie damit meint, lässt sie offen. Andres Metspalu wird da konkreter: "Wir brauchen das Wissen aus der Biobank, nicht nur über die Genetik, auch über das Verhalten der Menschen, ihren Lebensstil und die Umweltbedingungen, um Erkrankungshäufigkeiten vorhersagen zu können", so der Direktor der EGPF. "Wir müssen Kontrolle über unsere Gesundheitsausgaben bekommen." Zukunftsweisend ist in diesem Zusammenhang sicherlich eine weitere Besonderheit des estnischen Genforschungsgesetzes: Proben und Datensätze können jederzeit den Spendern zugeordnet werden.(9) Eine vollständige Anonymisierung erfolgt nicht, weil laut estnischem Gesetz Probanden das Recht haben, individuelle genetische Besonderheiten auf Wunsch zu erfahren. Ob es jemals möglich sein wird, Angaben über individuelle genetisch bedingte Anfälligkeiten für häufige Erkrankungen zu machen, ist zwar vollkommen unklar; das ändert aber weder die Gesetzeslage noch hinderte es die EGPF daran, mit einem "persönlichen Genpass" für die Teilnahme am Projekt zu werben – mit Erfolg. Bei einer Befragung der Universität Tartu gaben 83 Prozent der zu einer Teilnahme am Biobankprojekt entschlossenen Personen als Grund für ihre Entscheidung den in Aussicht gestellten Genpass an.(10) "In Estland gibt es wenig Berührung mit dem Thema genetische Forschung", erklärt Margit Sutrop vom Ethikzentrum der Universität Tartu, die die Befragung konzipiert hat. "Außerdem besteht historisch bedingt ein generelles Vertrauen: Die Aufrichtigen, die Kritiker und Dissidenten der Sowjetzeit waren in der Regel Wissenschaftler und Intellektuelle." Dies sei ein Grund, warum es in der Öffentlichkeit keine kritische Diskussion des Biobankprojektes gegeben habe. Vor allem aber bestehe weder in der Bevölkerung noch auf Regierungsseite ein Bewusstsein der Risiken einer so umfangreichen Datensammlung für die Privatsphäre. Einen unbedarften, um nicht zu sagen fahrlässigen Umgang mit den Gefahren des Informationszeitalters pflegt das estnische Sozialministerium auch mit dem so genannten eHealth-Projekt: Geplant ist eine Datenbank, die neben den persönlichen Angaben aller estnischen Patienten Informationen über Diagnosen, Therapien und andere medizinische Details enthält und über das Internet öffentlich zugänglich ist. Sie soll Ärzten helfen, Doppeluntersuchungen und –tests zu vermeiden und damit Kosten im Gesundheitswesen sparen, so das Argument des Ministeriums. Auch über Gefahren dieses Vorhabens ist eine Diskussion in der estnischen Öffentlichkeit ausgeblieben. In der EGPF denkt man bereits über die Nutzung der neuen Infrastruktur für die Biobank nach. "Mit dem eHealth-Projekt tut die Regierung genau das Richtige", so Andres Metspalu. "Und auch für uns ist das sehr gut. Wir könnten gesundheitsbezogene Informationen statt aus umfangreichen Fragebögen direkt aus der Datenbank beziehen und überdies ohne viel Aufwand beständig aktualisieren."
Fußnoten
- Vgl. GID Nr. 150, Februar/März 2002, S.13.
- Für eine vertiefte Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen zu Ansatz und Methodik der genetischen Epidemiologie sei die zwischen dem 10. September und 22.Oktober 2005 in wöchentlichem Abstand in der britischen Zeitschrift The Lancet erschienene Serie "Genetic Epidemiology" empfohlen (www.thelancet.com).
- Zu diesem Zeitpunkt begann man außerdem an der schwedischen Umeå Universität, Kohorten von drei verschiedenen Personengruppen zur "Northern Sweden Health and Disease Study Cohort" zusammenzuführen. Sie umfasst heute Blutproben und Daten von insgesamt rund 85.000 Personen. Im selben Jahr schloss die Regierung des pazifischen Inselreiches Tonga einen Vertrag mit der australischen Firma Autogen ab, in dem sie dem Unternehmen nicht nur erlaubte, DNA-Proben sämtlicher 110.000 Einwohner zu sammeln und Gesundheitsdaten zu speichern, sondern ihm auch die Rechte an möglichen kommerziellen Nutzungen mit verkaufte. Das Geschäft scheiterte allerdings am Protest der Bevölkerung, der Vertrag wurde aufgelöst.
- Auf der Insel war geplant, genetische Daten mit den vorhandenen Patientendaten aller lebenden und toten Isländer und einer Datenbank aus Familienstammbäumen zu verknüpfen. Das Vorhaben scheiterte nicht nur an Datenschutzproblemen; das Verfassungsgericht beurteilte zudem Ende 2003 die Speicherung von Daten Verstorbener als verfassungswidrig. Auch verhinderten Streitigkeiten mit dem größten Krankenhaus Islands die Einstellung von Patientendaten in das System. Nach Angaben der Betreiberin des Biobankprojektes, dem börsennotierten Unternehmen deCode Genetics, sind mittlerweile etwa 110.000 Blutproben vorhanden.
- Seit Herbst letzten Jahres sind zwei Pilotprojekte angelaufen, um die Funktionsfähigkeit der Infrastruktur zur Erhebung und Speicherung der Daten zu testen.
- Die Datenerhebung erfolgte bisher ausschließlich über die Hausärzte. Sie müssen ein dreißigstündiges Ausbildungsprogramm durchlaufen und haben dann die Aufgabe, Patienten anzusprechen, über das Projekt aufzuklären, bei Einverständnis die Blutproben zu entnehmen und gemeinsam mit den Probanden den Fragebogen zu Familie, Gesundheit und Lebensweise auszufüllen. 600 der insgesamt etwa 800 Hausärzte hat die estnische Genomstiftung bisher unter Vertrag genommen. Pro Proband erhält ein Hausarzt 33 Euro; um den Fragebogen vollständig auszufüllen, benötigen die Ärzte nach Angaben von Andres Metspalu zwischen 60 und 90 Minuten. Zum Vergleich: 2001 betrug der durchschnittliche Stundenlohn eines Hausarztes etwa 2 Euro, der eines Facharztes lag bei etwa 2,60 Euro. Von der Teilnahme an der Datensammlung geht also ein erheblicher finanzieller Anreiz für die Hausärzte aus.
- Vgl. GID Nr. 150, Februar/März 2002, S.12 f. oder Breithaupt, H.: The future of medicine, in: EMBO reports, Vol.2, Nr.6, 2001, S.466.
- DNA-Daten von 1090 Probanden aus der estnischen Biobank wurden außerdem für das Hap-Map-Projekt bereitgestellt.
- Die Probe und der dazugehörige Fragebogen werden mit einem identischen Barcode versehen. Der Name des Probanden und der Barcode werden in eine Datei eingegeben und physisch getrennt von der eigentlichen Datenbank verwaltet. Der Zugang zu dieser "Entcodierungs"-Datei ist nur bestimmten Mitarbeitern erlaubt.
- Vgl. Sutrop/Simm: The Estonian Healthcare System and the Genetic Database Project: From Limited Resources to Big Hopes, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics, Vol. 13, 2004, S.260.
Uta Wagenmann war Mitarbeiterin des GeN und GeN-Vorstandsmitglied.
Bevölkerungsweite Biobanken
Bevölkerungsweite Biobanken sind als Daten- und Proben-Pool konzipiert. Allgemeine, unspezifische Angaben zu Gesundheit und Lebensstil der Spender werden – sozusagen auf Vorrat – gesammelt und gespeichert. Grundsätzlich kritisiert wurde der Ansatz vor allem in der Diskussion um die UK Biobank. So stellen einige Genetiker und Biostatistiker die Seriösität und Wissenschaftlichkeit von Ergebnissen aus Forschungsprojekten, die mit solchen Biobanken arbeiten, aus systematisch-methodischen Gründen in Frage: Bei herkömmlichen genetischen Assoziationsstudien richtet sich das Studiendesign nach der Ausgangshypothese, die Fragestellung bestimmt also beispielsweise, wer rekrutiert werden soll und was gemessen wird. Das ist bei einer Sammlung unspezifischer Daten auf Vorrat nicht der Fall. Auch sind signifikante Ergebnisse, die aus der Verbindung solcher Daten resultieren, künstlich, denn eine Beziehung zwischen den einzelnen Faktoren wird auf der Grundlage vorgefundener Effekte hergestellt, anstatt umgekehrt eine Vorannahme anhand von zu diesem Zweck erhobenen Daten zu überprüfen. Ganz allgemein ist fraglich, ob mithilfe von Biobanken mehr über die Entstehung weit verbreiteter Erkrankungen in Erfahrung zu bringen ist. Solche so genannten Volkskrankheiten wie etwa Diabetes oder Herzinfarkt gelten nach derzeitigem Verständnis als "multifaktoriell" bedingt; man geht zudem von Wechselwirkungen zwischen genetischen Dispositionen und anderen Einflüssen aus, die zur Erkrankung führen. Ob diese äußerst komplexen Interaktionen jemals mit statistischen Methoden erfasst werden können, ist umstritten. Für die Befürworter des bevölkerungsweiten Ansatzes stehen methodische Fragen nicht im Vordergrund. Sie argumentieren vielmehr damit, dass die Vielfalt genetischer Varianten in der Bevölkerung, die mit der Entstehung weit verbreiteter Erkrankungen in Zusammenhang stehen, nur mit umfangreichen Sammlungen von Datensätzen aus der Allgemeinbevölkerung erfasst werden kann. Zudem seien solche Sammlungen nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Gesundheitspolitik unerlässlich: Umfangreiche, bevölkerungsweite Biobanken würden es in der Zukunft ermöglichen, einen Überblick über die Verteilung genetischer Krankheitsrisiken in der Bevölkerung zu erlangen. (uw)
Internationale Vernetzung: Das Public Project in Population Genomics (P3G)
An einer Zusammenführung verschiedener, zum Teil sehr großer Proben- und Datensammlungen arbeitet das im Juli 2003 im kanadischen Montreal von Vertretern mehrerer Biobankprojekte gegründete "Public Project in Population Genomics" (P3G). Ziel der Initiative ist laut Website (www.p3gconsortium.org) "die notwendige Koordination und Harmonisierung der Sammlung, Generierung und Speicherung von Daten". Dabei geht es um mehr als eine Million Datensätze. Neben den anvisierten 100.000 der estnischen und 500.000 Datensätzen der UK Biobank sollen die folgenden Proben- und Datensamm- lungen in das Harmonisierungsprojekt einfließen: - GenomEUtwin: In dem von der EU geförderten Projekt werden die Zwillingsregister aus acht europäischen Ländern zusammengeführt; die Biobank wird Datensätze von etwa 800.000 Zwillingen enthalten (www.genomeutwin.org). - Biobank der Donauregion: Das unter dem 6. Forschungsrahmenprogramm der EU geförderte Kooperationsprojekt zwischen Universitäten in der Bundesrepublik, Ungarn, der Slowakei und Österreich will Proben und Datensätze aus Kliniken und Institutionen der Donauregion vereinheitlichen und zusammenfassen. Um wie viele Proben es sich dabei handelt, ist noch nicht abzusehen (www.danubianbiobank.de). - CARTaGENE/Kanada: Hier arbeitet man an der Errichtung einer Biobank, die Informationen zu Lebensstil, Erkrankungen und Ernährung von über 60.000 Menschen im Alter zwischen 25 und 74 Jahren umfassen soll (www.cartagene.qc.ca). Auch kleinere Biobanken wie beispielsweise die Proben und Daten aus der epidemiologischen Studie KORA in Augsburg (insgesamt etwa 18.000) oder am Centre for Integrated Genomic Medical Research (CIGMR) in Großbritannien (insgesamt 20.000) sind an der P3G-Initiative beteiligt. Mit der Megastruktur will man erklärtermaßen nicht nur die internationale Zusammenarbeit erleichtern und so zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen, sondern auch, "den Nutzen für die öffentliche Gesundheitsversorgung weltweit optimieren". Die durch die "Harmonisierung der von den Teilnehmern gesammelten und gespeicherten biologischen, medizinischen, demografischen und sozialen Daten" generierten Informationen sollen dann "synergetisch bei der Entwicklung effektiver Lösungen für die Gesundheitsversorgung" eingesetzt werden können. Bisher steckt das P3G-Projekt noch in den Kinderschuhen, denn die Harmonisierung vorhandener Datensätze ist nicht einfach. Erst Ende letzten Jahres hat sich das P3G-Konsortium auf Standards geeinigt. Zudem ist man um die Finanzierung des gewaltigen Vorhabens bemüht. Großzügig unterstützt wird das Projekt bisher vor allem aus Mitteln der EU-Forschungsförderung. Seit Dezember 2005 beispielsweise wird unter dem 6. Forschungsrahmenprogramm ein von dem P3G-Konsortium initiiertes Kooperationsprojekt zwischen 18 europäischen und kanadischen Forschungsinstitutionen gefördert. Das Projekt mit dem Titel "Harmonisierung bevölkerungsweiter Biobanken und Kohortenstudien zur Stärkung der biomedizinischen Forschung in Europa in der post-genomischen Ära" hat unter anderem zum Ziel, bestehende bevölkerungsweite Biobanken und Kohortenstudien in Europa systematisch zu kategorisieren. Daneben sollen "unter besonderer Berücksichtigung genetisch isolierter Bevölkerungen neue Möglichkeiten für den Aufbau von Biobanken in Europa" identifiziert werden. (uw)