Pharmakogenetik

Der Nutzen pharmakogenetischer Tests in der klinischen Praxis ist bis heute ungeklärt. Offen ist auch die Frage, unter welchen Bedingungen Patientinnen und Patienten von diesen Entwicklungen profitieren und welche Konsequenzen sich aus der Implementierung der Pharmakogenetik in die klinische Praxis mittel- und langfristig ergeben werden. Im Rahmen eines BMBF-geförderten Forschungsprojektes wurden der Stand der Pharmakogenetik und die sozialen Implikationen pharmakogenetischer Tests untersucht.

Die Pharmakogenetik befasst sich mit genetisch bedingten Unterschieden in der Reaktion auf Arzneimittel. Dabei wird davon ausgegangen, dass einige Medikamente aufgrund genetischer Unterschiede bei bestimmten Personen stärkere (Neben-) Wirkungen auslösen, bei anderen Personen hingegen möglicherweise gar nicht wirken. Angetrieben durch die Fortschritte in der Genomforschung – und nicht zuletzt wohl auch von dem Bedarf an praktischen Anwendungen für das Humangenomprojekt – weckt die Pharmakogenetik hochgesteckte Erwartungen. Es gibt kaum eine Fachpublikation zur Pharmakogenetik, die nicht auf die Vision einer individualisierten oder personalisierten Medizin abhebt. Ihre Botschaft: Die Arzneimitteltherapie soll rationaler und maßgeschneidert, das veraltete Konzept „ein Medikament für alle“ überwunden und „das richtige Medikament in der richtigen Dosierung für den richtigen Patienten“ gefunden werden – auf der Basis eines genetischen Tests. Die Wirkmächtigkeit dieser Vision speist sich nicht nur aus dem Wunsch von Patientinnen und Patienten nach wirksamen und nebenwirkungsarmen Arzneimitteltherapien, sondern auch daraus, dass sie der forschenden Arzneimittelindustrie ein Leitbild – das der „individualisierten Therapie“ – zur Verfügung stellt, das ihr hilft, umfangreiche Ressourcen für die Entwicklung einer neuen, genetisch basierten Generation von Arzneimitteln zu akquirieren.

Möglichkeiten und Grenzen der Pharmakogenetik

Im Gegensatz zu den besonderen Erwartungen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit der Pharmakogenetik geweckt werden, steckt die klinische Anwendung pharmakogenetischer Tests immer noch in den Anfängen – und es ist nicht sicher, ob sich diese Situation auf absehbare Zeit ändern wird. Für viele der Polymorphismen, die in der öffentlichen und fachöffentlichen Diskussion eine zentrale Rolle spielen, haben sich pharmakogenetische Tests bislang kaum in der Praxis durchgesetzt. Punktuelle Ausnahmen haben sich dort entwickelt, wo einerseits eine kleine, spezialisierte Gruppe von Fachärztinnen und -ärzten tätig ist und andererseits eine mittlerweile doch umfangreiche klinische Evidenz für einen Zusammenhang zwischen genetischem Status und (Neben-) Wirkung des Medikamentes vorliegt. Dies gilt vor allem für den Test auf das Enzym Thiopurin Methyltransferase (TPMT), das im Abbau der Thiopurine – einer Gruppe von Medikamenten, die zum Beispiel in der Leukämietherapie oder nach Organtransplantationen eingesetzt werden – eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Test wird in Deutschland jährlich bereits mehrere tausend Male durchgeführt, er ist jedoch bislang kaum in Behandlungsleitlinien formalisiert oder durch Regulierungsbehörden vorgeschrieben. Verpflichtend ist in Deutschland bislang lediglich ein Test vor der Verabreichung des Brustkrebsmedikamentes Herceptin®, der jedoch im engeren Sinne nicht als pharmakogenetischer Test gelten kann, weil hier keine Keimbahnpolymorphismen zugrunde liegen. Noch ist die Pharmakogenetik – mit sehr wenigen Ausnahmen – eher ein theoretisches Konzept als etablierte Praxis. Der Nachweis der klinischen Relevanz dieses Modells ist in der Regel bis heute nicht erbracht. Im Rahmen unseres Forschungsprojektes wurden auf der Grundlage wissenschaftlich begründeter Qualitätsanforderungen neun Kriterien entwickelt, anhand derer der medizinische Nutzen eines pharmakogenetischen Tests im konkreten Einzelfall geprüft werden kann. Von den vielen hypothetischen Anwendungsszenarien der Pharmakogenetik, die in fachöffentlichen Beiträgen diskutiert werden, erfüllt bislang kaum eines diese Kriterien. Selbst für das Beispiel der Pharmakogenetik, den TPMT-Test, ist nicht sicher zu sagen, ob der pharmakogenetische Test gegenüber den herkömmlichen klinischen Monitoringverfahren tatsächlich einen relevanten Erkenntnisgewinn für die klinische Praxis bringt. Pharmakogenetische Untersuchungen erfüllen aktuell nicht die Voraussetzungen, um als medizinischer Standard bezeichnet werden zu können. Mit einer breiten Einführung pharmakogenetischer Tests für viele oder gar die Mehrzahl aller Medikamente ist auch längerfristig nicht zu rechnen. Für einige bereits zugelassene Medikamente könnte es eine schleichende Einführung pharmakogenetischer Tests geben. Innerhalb der kommenden fünf Jahre könnte es durchaus zur Zulassung eines ehemals gescheiterten Medikamentes aufgrund eines pharmakogenetischen Tests kommen, denn verschiedene Firmen verfolgen diese Geschäftsidee und könnten damit auch Erfolg haben. Ob und wann es darüber hinaus zu einer Zulassung eines gänzlich neuen Wirkstoffes mit obligatorischem pharmakogenetischen Test kommen wird, ist spekulativ. Dies wird nicht zuletzt auch davon abhängen, ob es den forschenden Arzneimittelherstellern gelingen wird, Wirkstoffe zu entwickeln, die nicht vom genetischen Status des/der Patient(in) abhängig sind.

Sensible Informationen durch genetische Tests

Pharmakogenetische Tests waren in der Vergangenheit meist keine genetischen Tests, sondern sie ermittelten mit biochemischen Methoden die Aktivität beziehungsweise das Vorhandensein des jeweiligen Enzyms (‚phänotypische‘ Pharmakogenetik-Tests). Zunehmend werden auch direkte genetische Tests möglich, bei denen nach Mutationen in dem jeweiligen Gen gesucht wird. Phänotypische und genotypische Tests haben jeweils ihre eigenen Vor- und Nachteile. Während genetische Tests, die mit einem einfachen Schleimhautabstrich durchführbar sind, perspektivisch möglicherweise preiswerter, schneller und für den Patienten oder die Patientin weniger belastend ausfallen werden, sind sie aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht jedoch als sensibler einzustufen. Es ist durchaus sinnvoll, zwischen pharmakogenetischen Tests und krankheitsbezogenen prädiktiven Gentests zu unterscheiden, da letztere mit einer Reihe von ethischen, rechtlichen oder sozialen Problemen behaftet sind, die bei einem genetischen Test auf eine Medikamentenwirkung nicht zwangsläufig zum Tragen kommen. Allerdings können pharmakogenetische Tests in Einzelfällen auch Informationen über Erkrankungsrisiken enthalten. Wir sprechen hier vom dual-information Problem. Dies ist für einige pharmakogenetisch relevanten Polymorphismen bereits gezeigt worden. In allen Fällen war die Korrelation zu einem Erkrankungsrisiko jedoch eher schwach ausgebildet. Künftig wird sich dieses Problem jedoch verstärken, wenn zunehmend auch Polymorphismen in Medikamenten-targets identifiziert werden, die sowohl für die Krankheitsentstehung als auch für die Medikamentenwirkung relevant sein können. Es ist zu empfehlen, vor der Einführung eines pharmakogenetischen Tests zu erforschen, ob der Test einen möglichen krankheitsbezogenen Aussagewert hat, beispielsweise durch eine Untersuchung der natürlichen Funktion des jeweiligen Enzyms. Pharmakogenetische Tests können sensible genetische Informationen liefern, für die besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden müssen. Dem möglichen Missbrauch pharmakogenetischer Daten (zum Beispiel durch Versicherungen oder Arbeitgeber) muss durch entsprechende gesetzliche Regelungen vorgebeugt werden. Die in Deutschland zurzeit diskutierten Vorschläge zur Regelung genetischer Tests sollten um entsprechende Regelungen für pharmakogenetische Tests erweitert werden. Dabei ist einerseits eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen krankheitsbezogenen prädiktiven Tests und pharmakogenetischen Tests durchaus sinnvoll, andererseits sollten jedoch alle spezifischen Aspekte pharmakogenetischer Tests berücksichtigt werden. Der Entwurf zum Schweizer Gentestgesetz weist diesbezüglich Lücken auf. Um im Rahmen der Pharmakogenetik möglichst wenig genetische Informationen zu erheben, sollte ein pharmakogenetischer Test nur bei einer konkreten Indikation durchgeführt werden und ausschließlich die konkret indizierten Parameter ermitteln. Zudem sollte das Primat des Phänotyps gelten, demzufolge pharmakogenetische Informationen bevorzugt phänotypisch erhoben werden. Es muss vermieden werden, dass genotypische Tests aus Kosten- oder anderen Gründen einseitig bevorzugt (entwickelt) werden. Eine Übertragung der Testsysteme aus der Arzneimittelentwicklung – zum Beispiel allgemeine Pharmakogenetik-Chips, die viele Datenpunkte auf einmal erheben – in den klinischen Alltag dürfte dazu führen, dass viele genetische Daten erhoben werden, die für die konkrete Behandlungssituation gar nicht benötigt werden.

„Pharmakogenetische Verlierer“

Durch die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten für eine genetisch definierte Teilpopulation wird inhärent der jeweils andere Teil einer Gruppe von Kranken von der Behandlung mit dem betreffenden Medikament ausgeschlossen. Es besteht die Befürchtung, dass hier in Einzelfällen für bestimmte Individuen – die oft als pharmacogenetic loser bezeichnet werden – keine Therapien bereitgestellt werden, da sich die Entwicklung neuer spezifischer Wirkstoffe für sehr kleine Bevölkerungsgruppen ökonomisch nicht lohnen würde. Der Begriff der „pharmakogenetischen Verlierer“ ist jedoch irreführend, weil durch den pharmakogenetischen Test eine Behandlung vermieden wird, die keine Wirkung verspricht, aber mit dem Risiko von Nebenwirkungen behaftet ist. Das Problem, dass eine genetisch definierte Gruppe von einem neuen Medikament ausgeschlossen wird, muss sich nicht zwangsläufig bei der Durchführung eines pharmakogenetischen Tests stellen, wenn die Möglichkeit genutzt wird, die Medikamentendosis aufgrund eines pharmakogenetischen Tests entsprechend anzupassen. Dies ist in vielen – aber nicht allen – Fällen durchaus möglich. Um die Entwicklung von Medikamenten auch für kleine, pharmakogenetisch definierte Teilpopulationen sicherzustellen, ist die konsequente Anwendung der europäischen orphan-drug-Gesetzgebung erforderlich, die bereits heute mit ökonomischen Anreizen dazu beiträgt, dass vermehrt Medikamente für seltene Erkrankungen entwickelt werden.

Arzneimittelsicherheit

Ein zentrales Argument für die Einführung pharmakogenetischer Tests ist die Vermeidung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und damit eine Erhöhung der Arzneimittelsicherheit. Andererseits hat die pharmazeutische Industrie bereits das Interesse bekundet, mit Hilfe von pharmakogenetischen Tests klinische Studien der Phase III zu verkleinern, um schneller und kostengünstiger Wirksamkeitsnachweise neuer Wirkstoffe zu erreichen. Dies wird vermutlich relativ zu den heutigen Test- und Zulassungsbedingungen in der Regel keine signifikante Verschlechterung im Hinblick auf die Arzneimittelsicherheit bedeuten. Dennoch sollte in jedem Einzelfall geprüft werden, ob vorgenommene Verkleinerungen auf Grundlage einer pharmakogenetischen Stratifizierung das Feststellen von Arzneimittelnebenwirkungen aus statistischen Gründen heraus deutlich unwahrscheinlicher werden lassen. Von Seiten der Hersteller wird auch darauf gedrängt, pharmakogenetische Merkmale nicht als Ausschlusskriterium bei Arzneitherapien festzulegen. Vielmehr soll aus Sicht der Industrie den Ärztinnen und Ärzten im Rahmen ihrer Therapiefreiheit ein Ermessensspielraum bleiben. Wenn jedoch ein Wirkstoff, der nur an einer pharmakogenetisch ausgewählten Patientengruppe getestet wurde, bei allen Patientinnen und Patienten eingesetzt wird, könnte dies einen Verlust an Arzneimittelsicherheit bedeuten. Unter dem Blickpunkt der Arzneimittelsicherheit ist auch zu bedenken, dass Arzneitherapien durch die Pharmakogenetik voraussichtlich komplizierter werden. Die Ärztinnen und Ärzte sind derzeit mehrheitlich fachlich nicht auf eine sachgerechte Anwendung pharmakogenetischer Tests und Informationen vorbereitet. Computerprogramme, die derzeit zur Unterstützung bei Therapieentscheidungen diskutiert werden, könnten bei komplexen pharmakogenetischen Fragestellungen eine sinnvolle Hilfestellung sein. Bislang fehlt jedoch eine systematische Validierung derartiger Programme. Auch eine auffällige Kennzeichnung von Medikamenten, die pharmakogenetisch differenziert verabreicht werden müssen, könnte Ärzt(innen) und Apotheker(innen) auf die Notwendigkeit pharmakogenetischer Tests hinweisen.

Die Mär von der individualisierten Medizin

Abschließend muss festgehalten werden, dass das Leitbild einer individualisierten Medizin durch Pharmakogenetik irreführend ist. Die Pharmakogenetik wird ohne Zweifel punktuell einen wichtigen Beitrag zur besseren und sichereren Behandlung mit Medikamenten liefern können, sie wird jedoch die medikamentöse Therapie nicht in einem umfassenden Verständnis des Begriffs individualisieren. Pharmakogenetik wird vielmehr zu einer am Genotyp ausgerichteten Stratifizierung der Patientengruppen führen. Psychosoziale Faktoren, die wesentlich zu einem sozialwissenschaftlich definierten Indivdualisierungsverständnis gehören, schlagen sich nicht in dem Leitbild der Pharmakogenetik nieder. Es ist zu befürchten, dass die Implementierung der Pharmakogenetik zum einen zu einer Bedeutungsüberschätzung genetischer Faktoren beiträgt und zum anderen bewirken könnte, individuelle biografische und umweltbezogene Aspekte nicht ausreichend in Diagnose und Therapie zu integrieren. Die Pharmakogenetik könnte vielmehr dazu führen, dass die medikamentöse Therapie aufgrund einer potenziellen Aufmerksamkeitsverschiebung zugunsten so genannter „harter“ Daten noch weniger individualisiert wird. Das pharmakogenetische Leitbild der „Individualisierung der Therapie“ spiegelt nicht die tatsächlichen Möglichkeiten der Pharmakogenetik wider und ist deshalb eher als Marketingbegriff einzustufen.

Zusammenfassung der Ergebnisse eines BMBF-geförderten Forschungsprojektes, ausführlich in: Regine Kollek, Günter Feuerstein, Mechtild Schmedders, Jan van Aken: Pharmakogenetik: Implikationen für Patienten und Gesundheitswesen. Anspruch und Wirklichkeit der ‘individualisierten Medizin’, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2004, ISBN 3-8329-0598-7.

Erschienen in
GID-Ausgabe
162
vom Februar 2004
Seite 30 - 33

Dr. Mechtild Schmedders ist Diplom-Biologin und Diplom-Gesundheitswissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sekretariat der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages.

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Begriffsdefinition

Die Begriffe Pharmakogenetik und Pharmakogenomik werden bislang nur unscharf voneinander getrennt und oft synonym gebraucht. Ende 2002 hat die europäische Arzneimittelbehörde EMEA eine hilfreiche Definition vorgeschlagen. Danach bezieht sich die Pharmakogenetik auf die Untersuchung von Individuen oder Populationen im klinischen Kontext, während die Pharmakogenomik sich auf die Anwendung genomischer Forschungsansätze in der Arzneimittel-Entwicklung bezieht.

Glossar

dual information-Problem: Problem, das sich ergeben könnte, wenn ein pharmakogenetischer Test neben der beabsichtigten pharmakogenetischen Information ungewollt weitere Informationen über die untersuchte Person offen legt, beispielsweise Informationen über eine mögliche erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Genotyp: Die Gesamtheit aller Erbanlagen eines Organismus bzw. die genetische Ursache für eine spezielle Eigenschaft, zum Beispiel eine Blutgruppe oder Medikamentenunverträglichkeit. klinische Studien der Phase III: Studien zur Ermittlung von Wirksamkeit und Sicherheit eines neuen Wirkstoffes, auf deren Basis über ihre Zulassung als Medikament entschieden wird. Mutation: Veränderung der DNA-Sequenz. Phänotyp: In Abgrenzung zum Genotyp bezeichnet der Phänotyp das Erscheinungsbild einer speziellen Eigenschaft eines Individuums, z.B. eine Blutgruppe, eine Stoffwechselleistung, Enzymaktivität, Haarfarbe oder ein Krankheitssymptom. Polymorphismus: Als Polymorphismen werden in der Regel Veränderungen in der DNA-Sequenz bezeichnet, die nicht unmittelbar zu einer Krankheit führen und in einer Population mit einer Häufigkeit von mindestens 1:1000 Individuen auftreten. DNA-Veränderungen, die mit Krankheiten assoziiert sind, werden als Mutationen bezeichnet. target: Körpereigene Strukturen, mit denen pharmazeutische Wirkstoffe interagieren. Durch die Hemmung oder Aktivierung von target-Strukturen wie Rezeptoren oder Enzymen entfalten die Substanzen ihre Wirkung und wirken auf den Krankheitsverlauf ein.