PND: Unausweichliche Entscheidungen

Durch den verstärkten Einsatz nicht-invasiver Untersuchungsmethoden wurde das Untersuchungsregime der pränatalen Diagnostik (PND) verändert. Diese Veränderungen stellen das Prinzip der Entscheidungsautonomie betroffener Paare radikal in Frage.

Seit mehr als 30 Jahren ist die pränatale Diagnostik Teil der vorgeburtlichen Medizin. Mittlerweile wurde sie zu einem stabil integrierten Bestandteil der Schwangerenbetreuung. Doch so lange es diese Möglichkeit gibt, wird sie von ethischen Fragen begleitet, die sich sowohl für die betroffenen Individuen als auch für die Gesellschaft immer wieder neu stellen. Sofern pränataldiagnostische Untersuchungen nicht grundsätzlich abgelehnt werden, wird weitgehend die Position vertreten, dass die Entscheidung über die Durchführung einer solchen Untersuchung die Sache der betroffenen Frau beziehungsweise des betroffenen Paares ist. Ebenso soll es allein den Betroffenen vorbehalten bleiben, über einen allfälligen Abbruch zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund wurde die "informierte Zustimmung" (informed consent) zum zentralen ethischen Prinzip pränataldiagnostischer Untersuchungen, das die Entscheidungsautonomie der schwangeren Frauen gewähr-leisten soll. Zwar wird informed consent als der "goldene Standard" (Wertz/Fletcher 2004:38) in der humangenetischen Beratung bezeichnet, doch kann gezeigt werden, dass die Art und Weise, wie informiert wird und wie Zustimmung eingeholt wird, durchaus problematische Aspekte beinhaltet. Viele beratende Ärzte wissen selbst um diese Problematik und machen diese Einschätzung in einschlägigen Interviews auch transparent (Wieser/Karner 2006). Sie sprechen über die Schwierigkeiten, Beratung in gänzlich nicht-direktiver Form durchzuführen und über den Einfluss kleinster Nuancen in der Wortwahl. In diesem Beitrag steht jedoch nicht die Fähigkeit der beratenden ÄrztInnen tatsächlich nicht-direktiv zu beraten im Zentrum der Auseinandersetzung, sondern die technologischen Entwicklungen der eingesetzten Untersuchungsmethoden. Es wird argumentiert, dass insbesondere durch den Einsatz der Nackenfaltentransparenzmessung per Ultraschall (NT-Ultraschall) das Durchführungsregime pränataldiagnostischer Untersuchungen tiefgreifend verändert wurde. Diese Veränderungen stellen letztlich auch das Prinzip der Entscheidungsautonomie radikal in Frage. Bei der Analyse der aktuellen Entwicklungen in der Pränataldiagnostik ist sehr genau zwischen den angewandten Untersuchungsmethoden zu unterscheiden. Durch die Entwicklung und den Einsatz von nichtivasiven Methoden wie NT-Ultraschall und daran anschließende biochemische Analysen (Combined Test) in der Pränataldiagnostik ist die Zahl jener schwangeren Frauen, die mit invasiven Methoden (Amniozentese und Chorionzottenbiopsie) untersucht werden, deutlich zurückgegangen. Hinter dieser Entwicklung steht ein Umbau des Untersuchungsregimes. Bis noch vor wenigen Jahren stand das mütterliche Alter im Zentrum der Indikationsstellung. Diese so genannte Altersindikation gilt nun als weitgehend überholt. An ihre Stelle tritt immer öfter die wesentlich präzisere Einschätzung des Risikos für das Vorliegen von Chromosomenanomalien mittels NT-Ultraschall und Combined Test. Die damit einhergehenden Veränderungen in der Pränataldiagnostik können wie folgt zusammengefasst werden (vgl. Wieser 2006):

  • In zunehmendem Maße geht invasiver Pränataldiagnostik eine Risikoabschätzung mittels NT-Ultraschall beziehungsweise Combined Test voraus.
  • Dadurch verändert sich die Indikationsstellung, die sich immer weniger allein auf das mütterliche Alter gründet, sondern sich immer mehr an Ergebnissen vorangehender nicht-invasiver Untersuchungen orientiert.
  • Durch den Einsatz nicht-invasiver Methoden werden Frauen zu einem deutlich früheren Zeitpunkt in der Schwangerschaft untersucht.
  • Der Einsatz von NT-Ultraschall beziehungsweise Combined Test geht mit einer Ausweitung der untersuchten Population einher. Vor allem immer mehr junge Frauen werden auf das Vorliegen von Chromosomenanomalien gescreent.
  • Mit der Nackenfaltentransparenzmessung ist Pränataldiagnostik nicht mehr spezialisierten Kliniken vorbehalten, sondern wird auch von immer mehr niedergelassenen Gynäkologen durchgeführt, was wesentlich zur angesprochenen Ausweitung beiträgt.
  • Durch die genaue Bestimmung der individuellen Risikolage werden schwangere Frauen auf eine gänzlich andere Weise mit Entscheidungen über die Durchführung von invasiver Pränataldiagnostik konfrontiert, als dies allein auf Basis eines Beratungsgespräches der Fall ist. Ist ein erhöhtes Risiko erst einmal festgestellt, wird es immer schwieriger, sich weiteren Untersuchungen zu entziehen.
  • Durch die nicht-invasive Pränataldiagnostik kommt es zu einer Aufgliederung der Entscheidungsprozesse in eine Sequenz von Teilentscheidungen. Eine Untersuchung führt zur nächsten, ein Ergebnis macht die nächste Entscheidung notwendig. Entscheidungen werden nicht voraussetzungslos getroffen und sind in diesem Sinn nicht autonom, sondern werden zunehmend auf Basis von technisch hervorgebrachten Daten und medizinischen Fakten getroffen.

In ihrer Tragweite sind die genannten Veränderungen in der Pränataldiagnostik erst seit kurzem so deutlich erkennbar geworden. Zwar geht die Entwicklung der Nackenfaltentransparenzmessung (Nicolaides et al. 1992) und des Combined Test (Brizot et al. 1994) in die frühen 1990er Jahre zurück, doch dauerte es etwa weitere zehn Jahre bis diese Methoden in die medizinische Praxis voll integriert waren. Seitens der untersuchenden Ärzte (vor allem von Gynäkologen) wird gerne betont, dass NT-Ultraschall und Combined Test sinnvolle Alternativen zu Amniozentese und Chorionzottenbiopsie sind, da letztere mit dem Risiko verbunden sind, Fehlgeburten zu verursachen. Das zweite Argument, das von ärztlicher Seite gerne vorgebracht wird, lautet, dass pränataldiagnostische Untersuchungen mittels NT-Ultraschall und Combined Test zu einer Beruhigung der Schwangeren beitragen können. Die Ergebnisse empirischer Studien relativieren dieses Versprechen der sorgenfreien Schwangerschaft jedoch (Wieser et al. 2006). Die "beruhigenden" Ergebnisse von pränataldiagnostischen Untersuchungen können schon allein deshalb keine Sicherheit liefern, weil der größte Teil aller möglichen Behinderungen und Krankheiten mit solchen Untersuchungen gar nicht erkannt werden kann. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die oben dargestellten Veränderungen des Untersuchungsregimes in der Pränataldiagnostik signifikante Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse der untersuchten Frauen haben.

Allheilmittel Informed Consent?

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Art und Weise, wie die Zustimmung schwangerer Frauen zu pränataldiagnostischen Untersuchungen eingeholt wird, sehr stark variiert. Das klassische Beratungsmodell der Humangenetik sieht vor, dass untersuchte Personen vor einer Untersuchung in einem ausführlichen Gespräch über die Art der Untersuchung, deren Tragweite und mögliche Alternativen aufgeklärt werden (vgl. Wolff/Hartog 1997). Dieses Beratungsmodell wird hauptsächlich im Zuge invasiver Untersuchungen angewandt. Bei NT-Ultraschall und Combined Test erfolgt die Aufklärung jedoch vielfach in Form von schriftlichen Informationsblättern und in manchen Fällen unterbleibt auch das. In der erwähnten Studie (Wieser et al. 2006) wurden 32 Frauen interviewt, von denen acht angaben, erst von der Durchführung einer Nackenfaltentransparenzmessung erfahren zu haben, als diese bereits vorgenommen worden war. Darunter waren auch Frauen, die nicht die Absicht hatten, sich einer solchen Untersuchung überhaupt zu unterziehen. Neben der problematischen Consent-Praxis – über die von den interviewten Frauen insbesondere im Bereich der niedergelassenen Gynäkologen berichtet wurde – ist auf einen weiteren Umstand hinzuweisen. Viele Frauen, bei denen ein NT-Ultraschall oder ein Combined Test durchgeführt wurde, waren sich zum Zeitpunkt der Untersuchung keineswegs darüber im Klaren, was sie im Fall eines auffälligen Befundes tun würden, vielmehr hofften sie, sich erst gar nicht mit dieser Frage auseinandersetzen zu müssen. Vor diesem Hintergrund kann gefolgert werden, dass die Entscheidung über einen allfälligen Abbruch vielfach nicht vor pränataldiagnostischen Untersuchungen getroffen wird, sondern in einen bereits laufenden Prozess von Untersuchungen hineinverlagert wird. Diese kognitive und emotionale Ambivalenz ist kennzeichnend für die Situation vieler Frauen, an denen pränataldiagnostische Untersuchungen vorgenommen wurden. In dieser Situation tragen Tests, die eine genauere Risikoabschätzung ermöglichen, eher zu einer stärkeren emotionalen Belastung bei, als sie zur Beruhigung führen. Darüber hinaus zeigten die Interviews die zentrale Bedeutung der Einstellung gegenüber der Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Je klarer diese Einstellung ist, desto klarer sind die Entscheidungen über pränataldiagnostische Untersuchungen. Viele Frauen haben jedoch keine eindeutige Haltung, sondern nehmen ihre offenen Fragen in die Untersuchung mit. Besonders ambivalent ist auch die Situation jener Frauen, die sich pränataldiagnostischen Untersuchungen unterziehen, jedoch angeben, dass für sie ein Schwangerschaftsabbruch nicht in Frage käme. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ergebnisse nicht-invasiver Untersuchungen von den untersuchten Frauen in einer Verfassung gedeutet werden müssen, wo für viele offen ist, welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollen. Bei allen Entscheidungen über weitere Untersuchungen kann das medizinisch festgestellte, individuelle Risiko allerdings nicht mehr ignoriert werden. Damit sind die Entscheidungen über eine allfällige Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie nicht mehr voraussetzungslos, sondern in gewisser Hinsicht schon vorentschieden.

Autonome Entscheidungen?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie "autonom" Entscheidungen über pränataldiagnostische Untersuchungen sind, wenn ihnen eine Bestimmung der individuellen Risikolagen bereits vorausgegangen ist. Wie informiert kann eine Zustimmung sein, wenn ihr immer weniger Beratung vorausgeht? Es kann durchaus ein Vorteil darin gesehen werden, dass Ultraschalluntersuchungen nicht mit Eingriffsrisiken wie Fruchtwasserpunktionen verbunden sind. Doch wie empirische Studien zeigen, stellt sich die erhoffte Beruhigung oftmals nicht ein. Mit der Ausweitung von Nackenfaltentransparanzmessung und Combined Test wird die Kenntnis des eigenen Risikos immer mehr zum Regelfall für schwangere Frauen. Zu emotionalen Belastungen führt das vor allem dann, wenn die untersuchten Frauen keine klare Haltung gegenüber der Frage des Schwangerschaftsabbruchs haben, oder ein Abbruch nicht in Frage kommt. Zu den wesentlichen Konsequenzen der technologischen Entwicklung in der Pränataldiagnostik zählt, dass nicht-invasive Methoden zu einer deutlichen Ausweitung der Zahl der untersuchten schwangeren Frauen beigetragen hat und eine zentrale Rolle bei der Rekrutierung für weiterführende Untersuchungen hat. Auf diese Weise werden Entscheidungen über Fruchtwasseruntersuchungen beziehungsweise Chorionzottenbiopsie unausweichlich und werden immer schon in Kenntnis des eigenen, technologisch vermittelten Risikos getroffen.

Literatur:

  • Brizot, Maria. L./Rosalinde J. Snijders/Nick A. Bersinger /Peter Kuhn/Kypros H. Nicolaides (1994): Maternal serum pregnancy-associated plasma protein A and fetal nuchal translucency thickness for the prediction of fetal trisomies in early pregnancy. In: Obstetrics & Gynecology, 84(6):918-922.
  • Hartog, Jennifer/Gerhard Wolff (1997): Das genetische Beratungsgespräch. In: Petermann/Wiedebusch/Quante (Hg): Perspektiven der Humangenetik. Paderborn - München – Wien – Zürich, Ferdinand-Schöning-Verlag, S. 153-174.
  • Nicolaides Kypros H./G. Azar/D. Byrne/C. Mansur/K. Marks (1992): Fetal nuchal translucency: ultrasound screening for chromosomal defects in first trimester of pregnancy. In: British Medical Journal 304 (6831), S. 867-869.
  • Wertz, Dorothy C./John C. Fletcher (2004): Genetics and Ethics in Global Perspective. Dordrecht/Netherland, Kluwer Academic Publishers.
  • Wieser, Bernhard (2006): Inescapable Decisions. Implications of New Developments in Prenatal Testing. In: Sience, Technology & Innovation Studies, Vol. 2, S. 41- 56 (www.sti-studies.de/articles/2006-01/wieser.htm).
  • Wieser, Bernhard/Sandra Karner (2006): Pränataldiagnostik aus der Sicht von ExpertInnen. In: Berger, Wilhelm/Sandra Karner/Wilma Mert/Martina Ukowitz/Bernhard Wieser (Hg): Prenatal Testing: Individual Decision or Distributed Action. Projektbericht, Klagenfurt, IFF 2006, S. 247-354.
  • Wieser, Bernhard/Michaela Jahrbacher/Sandra Karner (2006): Pränataldiagnostik aus der Sicht von untersuchten Frauen. In: Berger, Wilhelm/Sandra Karner/Wilma Mert/Martina Ukowitz/Bernhard Wieser (Hg): Prenatal Testing: Individual Decision or Distributed Action. Projektbericht, Klagenfurt, IFF 2006, S. 155-246.
Erschienen in
GID-Ausgabe
176
vom Juni 2006
Seite 40 - 42

Bernhard Wieser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Interdisziplinären Forschungszentrums für Technik, Arbeit und Kultur in Graz. Er beschäftigt sich mit ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekten moderner Biotechnologien.

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