Polen: Zwischen Kirche und globalem Markt
Obwohl die Reproduktionstechnologien in Polen seit über 20 Jahren angewendet werden, findet eine breite Debatte über die ethischen Probleme nicht statt. Die öffentliche Auseinandersetzung konzentriert sich auf den Schwangerschaftsabbruch. Doch auch in anderen Bereichen der Reproduktionsmedizin besteht eine widersprüchliche Situation, die dringend nach Entscheidungen verlangt.
In Polen geht der Kinderwunsch bei jedem vierten bis fünften Paar nicht auf natürliche Weise in Erfüllung. Diese Zahl nennt die Selbsthilfeorganisation Nasz Bocian („Unser Storch“). Nasz Bocian ist ein Verein, der die Interessen kinderloser Paare vertritt und unter anderem Informationen über die künstliche Befruchtung zur Verfügung stellt.(1) Für diese 20 bis 30 Prozent der polnischen Paare, die Schwierigkeiten haben, auf natürlichem Wege ein Kind zu bekommen, gilt die WHO-Definition, nach der Unfruchtbarkeit als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt wird. Verfolgt man die Fachliteratur, dann stößt man aber auf eine polnische Besonderheit: Viele Ärzte, Juristen und Theologen setzen Unfruchtbarkeit mit „ehelicher Unfruchtbarkeit“ gleich. Eine öffentliche Diskussion, ob lesbische Frauen oder Alleinstehende Zugang zu reproduktionstechnischen Maßnahmen bekommen, muss somit gar nicht erst geführt werden. Denn dieser Logik zufolge können Unverheiratete nicht unfruchtbar sein.(2)
Reprozentren: Ein unreguliertes Geschäft
Eigentlich dürfte die künstliche Befruchtung in Polen ja ohnehin kein Thema sein: Schließlich sind über 90 Prozent aller Polen katholisch getauft. Bekanntlich verwirft der Papst die Reproduktionstechniken mit der Begründung, menschliches Leben solle nicht durch Menschenhand, sondern auf natürliche Weise entstehen. Doch hier stoßen wir auf ein polnisches Paradox. In Umfragen beurteilt über die Hälfte der befragten Personen die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien als „positiv“ und befürwortet ihre Verwendung. Nach jüngsten Berechnungen entscheiden sich circa 2000 Paare jährlich für eine künstliche Befruchtung. Das heißt, es ist eine Tatsache, dass der große Teil der polnischen Katholiken im Bereich von Sexualität und Fortpflanzung Gebote und Verbote der Kirche in dieser Hinsicht nicht befolgt. Frauen können sich in Bialystok, Bydgosz, Bytom, Posen, Warschau, Stettin oder Lodz behandeln lassen. Insgesamt gibt es in Polen 24 Zentren, die Reproduktionsmedizin anbieten: Sechs davon sind staatliche Kliniken beziehungsweise Hochschulzentren und 18 private Zentren. Ein Beispiel ist die Klinik „Novum“ in Warschau. Das Ehepaar Lewandowski praktiziert hier seit 1994. Piotr Lewandowski erzählt, dass er sich berufsmäßig regelmäßig in den USA aufhält und auch amerikanische Kundinnen nach Warschau kommen.(3) Grund dafür könnten niedrige Preise sein: In Polen bezahlen Frauen circa 5000 – 10 000 Zloty, das sind 1100 - 2200 Euro für die Behandlung. Damit sind die Kosten wesentlich geringer als in den USA. Eine Erstattung durch die Krankenkassen gibt es in Polen allerdings nicht. Das Geschäft in der Klinik Novum boomt: An den Wänden hängt neben Bildern der mit Reproduktionstechniken produzierten Babies auch der Plan der derzeit neu entstehenden Klinik. Jeder Gynäkologe in Polen kann reproduktionsmedizinische Eingriffe durchführen. Es muss keine besondere Qualifikation nachgewiesen werden, es ist keine Registrierung erforderlich, und die Ärzte sind nicht verpflichtet, dem Landesregister ihre Eingriffe zu melden. Zwar gibt es Fachzeitschriften, in denen die Reproduktionsmediziner ihre IVF- und ICSI- Anwendungen (Intracytoplasmatische Spermainjektion), die Übertragung von Eizellen, die Erfolgsrate und das Einfrieren von Embryonen offen legen. Ein realistisches Bild vermitteln diese Zahlen aber nicht, und die existierenden Datenbanken haben wenig mit gängiger Praxis und Realität zu tun. Denn es gibt Zentren, die nicht bereit sind, ihre Daten zu veröffentlichen und anonym bleiben wollen. Anzunehmen ist, dass eine große Dunkelziffer und eine Grauzone existieren. In manchen Kliniken unterschreiben junge Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, dass sie damit einverstanden sind, wenn ihnen zehn oder mehr Eizellen entnommen werden, und dass sie bereit sind, diese als Spende zur Verfügung zuzustellen. Es werden zwei Embryonen bei Frauen unter 35 Jahren und drei bei Frauen höheren Alters übertragen. Alle gewonnenen Eizellen werden in Polen befruchtet. Wo verbleiben diese Embryonen? Welche Techniken die Reproduktionsmediziner anwenden, mit welchen sozialen Situationen sie dabei konfrontiert werden und unter welchen Bedingungen - Fragen wie diese erstaunen. Niemanden scheinen sie zu interessieren, keiner will es wissen, niemand kontrolliert.
Fehlende Kontrollen
Obwohl in Polen die fundamentalen Probleme der Bioethik einer unverzüglichen Diskussion und Entscheidung bedürfen, gibt es kein Gesetz, das vorschreibt, was erlaubt und was verboten ist. Was es gibt, sind erste Entwürfe: So gab es 1986 erstmals einen Versuch, die heterologe künstliche Befruchtung (also die Befruchtung mit Spendersamen) zu regeln. In dem Dokument vom 13. März 1986, das zusammen mit der Gesetzesvorlage für Medizinberufe erschien, heißt es, eine künstliche Befruchtung dürfe nur an einer verheirateten Frau durchgeführt werden, und nur unter der Bedingung, dass beide Ehepartner schriftlich zustimmen. Eine weitere Gesetzesvorlage wurde 1996 von der Polnischen Gynäkologiegesellschaft erarbeitet. Ihre Aufgabe war es, eine sachliche Grundlage für Rechtsnormen in Bezug auf die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien zu erarbeiten. In dem Dokument sind Vorschriften enthalten, die die künstliche Insemination (Besamung) und die Eizellspende betreffen. Außerdem heißt es, dass einer Frau nicht mehr als drei Embryonen implantiert werden dürfen. Bisher ist der Polnische Ärztekodex das Dokument, das in Bezug auf den Umgang mit Embryonen die wichtigsten Aussagen trifft. Dabei handelt es sich um ein seit 1991 bestehendes Dokument, das von der Standesvertretung der Ärzte (Ärztekammer) beschlossen wurde. In Bezug auf die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien enthält er ganz allgemeine Vorschriften wie Verantwortungsgefühl und Aufklärungspflicht. Seitdem gab es zahlreiche Novellierungsvorschläge. An ihnen kann die Auseinandersetzung zwischen konservativen und liberal denkenden Ärzten nachvollzogen werden. Der neueste Versuch, die Legalität der Gen- und Reproduktionstechnologien zu regeln, wurde im Jahre 2003 gemacht. Den Autoren ging es darum, die Pränataldiagnostik und künstliche Fortpflanzungsmethoden in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der römisch-katholischen Kirche zu regeln. Konkret wurde eine restriktive Handhabung von Pränataldiagnostik, In-vitro-Fertilisation etc. gefordert, bis hin zu der Forderung, dass pränatale Untersuchungen und die künstliche Befruchtung ganz aus dem Katalog der ärztlichen Maßnahmen gestrichen werden sollen. All diese Vorschriften sind niemals rechtsgültig geworden. Der Reproduktionsmediziner Marian Szamatowicz bringt die derzeitige Lage auf den Punkt: „Wenn eine Behandlung nicht verboten ist, dann ist sie erlaubt.“ Das heißt, Ärzte haben einen sehr weiten Spielraum und große Macht. Wen sie befruchten, bis zu welchem Alter sie Frauen Eizellen implantieren, wieviel sie dafür kassieren, alles ist ihre individuelle moralische Entscheidung.(4)
Kirche im Konflikt
Wäre da nicht die Kirche, der Papst. Im Gegensatz zu dem nicht vorhandenen „weltlichen“ Recht gibt es ein „göttliches Recht.“ Und die göttlichen Gesetze sind in Polen eindeutig. Die Enzyklika „Evangelium vitae“ gilt als grundlegendes Dokument des päpstlichen Lehramtes zur Bioethik. Johannes Paul II. verurteilt darin mit Schärfe und in aller Deutlichkeit die reproduktionstechnischen Methoden. Wie gehen polnische Mediziner mit diesem Dilemma um? Zwei Beispiele: Als Pioniere der Reproduktionsmedizin machten sich in Polen Marian Szamatowicz und Izabela Jaruga-Nowacka einen Namen. Marian Szamatowicz gilt als der „Vater“ des ersten im Labor gezeugten Babies in Polen. In seiner Klinik in Bialystok, einer Stadt im Nordosten des Landes, wurden zum ersten Mal Reproduktionstechniken angewendet. In dem Institut für Geburtshilfe und Gynäkologie der Hochschule für Medizin wurde am 12. November 1987 das erste Retortenbaby geboren. Eigentlich müsste sich Marian Szamatowicz, der unfruchtbaren Paaren hilft, den göttlichen Groll zuziehen. Aber, und das erzählt er mit Schalk in den Augen, er praktiziert in Bialystok, und da ist das Wort Gottes nicht eindeutig. In Bialystok sind 50 Prozent der Gläubigen orthodox, 50 Prozent römisch katholisch getauft. Der katholische Erzbischof erklärt, die künstliche Befruchtung sei nicht im Sinne Gottes. Der orthodoxe Erzbischof erklärt, sie stünde in Übereinstimmung mit Gottes Wille.
Trennung zwischen Staat und Kirche
Man muss Polen kennen, um zu verstehen, warum der Frauenrechtlerin Izabela Jaruga- Nowacka eine Schlüsselrolle zukommt. Wenn Kirche und konservative Politiker in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch, In-vitro-Fertilisation oder Pränataldiagnostik von „Mord“ oder „Tötung“ sprechen, dann verweist sie auf den Artikel 25 der polnischen Verfassung, in dem die Trennung zwischen Staat und Kirche festgeschrieben ist. Sie stellt sich gegen die Einflussnahme naturrechtlicher Normvorstellungen der Kirche in Politik und öffentlichem Leben. Seit Anfang Juni 2004 ist Izabela Jaruga-Nowacka designierte Vize-Ministerpräsidentin der polnischen Regierung. Zuvor war sie Gleichstellungsbeauftragte (seit 2001), im Vergleich dazu eine relativ schwache und einflusslose Position mit wenig Macht, weil es kein Gleichstellungsgesetz in Polen gibt. Der ethischen Orientierung an Naturrechten hält Jaruga-Nowacka die Vision von Frauenrechten entgegen und fordert ein konkret von Menschen gesetztes Recht. Sie verweist auf Artikel 30 der Verfassung der Republik Polen aus dem Jahre 1997: „Die Würde des Menschen ist ihm angeboren und unveräußerlich“. Jaruga-Nowacka fordert, dass „diese menschliche Würde auch Würde und Selbstbestimmung von Frauen im reproduktiven Bereich garantieren solle.“ Im Februar 2002 initiierte die Frauenrechtlerin die Konferenz „In-Vitro-Fertilisation im 21. Jahrhundert. Hoffnungen und Befürchtungen“. Reproduktionsmediziner, Feministinnen, Juristen, Ethiker und Vertreter von Selbsthilfeorganisationen waren eingeladen. Dort thematisierte sie reproduktive Rechte, Wahlfreiheit und Autonomie in Bezug auf die Reproduktionstechnologien und setzte damit Themen auf die Tagesordnung, die auch von den rund 300 Organisationen der Frauenbewegung in Polen bisher sehr marginal behandelt wurden. Jaruga-Nowackas zentrale Forderung ist, dass alle Frauen, und nicht nur gut situierte, eine eigenverantwortliche Entscheidung für oder gegen ein Kind treffen können. Als einen ersten Schritt verlangte sie, die IVF in den Katalog der gesetzlichen Leistungen aufzunehmen.(5) Mit ihrer Initiative löste Jaruga-Nowacka eine biopolitische Auseinandersetzung, quer durch politische Parteien, Verbände, Kirche, Wissenschaftsverbände und Behindertenverbände aus. Das ist für polnische Verhältnisse ungewöhnlich und stellt ein Novum dar. Denn in Polen wird zwar viel, intensiv und emotional über den Umgang mit vorgeburtlichem Leben diskutiert. Die Diskussion beschränkt sich aber auf die Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch: Seit die liberale Regelung des Schwangerschaftsabbruchs von 1956 geändert wurde, ist das polnische Abtreibungsrecht von 1993 eines der restriktivsten in Europa. Ein Grund, warum dieses Gesetz seit Jahren an erster Stelle des öffentlichen Diskurses steht, liegt in seiner Handhabung begründet: Die Verbote scheinen für viele wohlhabende Frauen nicht zu gelten, die einen Abbruch bezahlen können. Besonders skandalös ist die Tatsache, dass im öffentlichen Gesundheitswesen andererseits Eingriffe verweigert werden, die nach geltendem Recht eigentlich erlaubt wären. Nach polnischem Recht kann die Frau nämlich bei einem hohen gesundheitlichen Risiko für Mutter und Kind selbst entscheiden, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen will. In der Praxis aber wird den Frauen dieses Recht oft nicht zugestanden. So kommt es, dass circa 160 legal vorgenommenen Abbrüchen 200 000 illegale Abbrüche jährlich gegenüberstehen. Es gibt in Polen Tausende von Ärzten, die am Morgen im Krankenhaus eine Abtreibung verweigern, am Nachmittag in ihren eigenen Ärztezimmern aber eine Abtreibung durchführen. So ist auch zu erklären, dass in Polen diese Doppelmoral mit dem Zeichenwitz von Marek Raczkowski aus der Zeitschrift „Przekroj“ ausgedrückt ist. Dargestellt wird eine Szene aus einem privaten Gynäkologenzimmer: „Warum so teuer, Herr Doktor?!“ - fragt eine Patientin. „Weil es so eine schwere Sünde ist,“ antwortet der Arzt.
Fußnoten:
- Gespräch mit Piotr Palasz von der Selbsthilfeorganisation Nasz- Bocion, 14.4.2003 in Warschau.
- Gespräch mit der Philosophin Weronika Chanska, 29.4.2003 in Warschau
- Gespräch mit Piotr Lewandowski, 1.4.03. Klinik Novum in Warschau.
- Gespräch mit Marian Szamatowicz. 30.4.03 in Bialystok.
- Gespräch mit Izabela Jaruga-Nowacka am 5. Mai 2004 in Warschau
Dr. Heidi Hofmann hat den Arbeitsschwerpunkt Bioethik. Ende des Jahres erscheint im Centaurus Verlag ihr Buch “Biopolitik – Grenzenlos. Stimmen aus Polen”.