Im Ermessen der Eltern
Präimplantationsdiagnostik in Deutschland
Während die Bundesregierung noch an den genauen Regeln für die Präimplantationsdiagnostik (PID) herumdoktert, ist in Lübeck bereits das erste „PID-Baby“ geboren. Die ersten Presseinformationen der Lübecker Klinik waren eher vage, umso klarer die Werbebotschaft. Ein genauerer Blick auf diesen Fall gibt Hinweise, in welche Richtung sich die PID in Deutschland entwickeln könnte.
„3010 Gramm, 50 Zentimeter und kerngesund“, meldete Ende Januar das Kinderwunschzentrum Lübeck die „Deutschlandpremiere“ in Sachen Präimplantationsdiagnostik (PID). Das kleine Mädchen, das im Reagenzglas gezeugt und gezielt ausgewählt worden war, kam, mittels Kaiserschnitt, schon als kleine Berühmtheit auf die Welt. Den Lübecker Reproduktionsmedizinern sei es erstmals in Deutschland gelungen, die Austragung eines Kindes auszuschließen, das Träger einer schwerwiegenden genetischen Krankheit gewesen wäre. Ganz stimmt das nicht, denn bekanntlich hat der Berliner Kinderwunscharzt Matthias Bloechle 2005 dem ersten PID-Kind zur Geburt verholfen. „Wir haben die PID in Deutschland eingeführt“, wirbt das Berliner Kinder-wunschzentrum an der Gedächtniskirche heute noch mit diesem „Durchbruch“ für sich. Die Selbstanzeige Bloechles war der Ausgangspunkt einer langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzung, die mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 2010 endete und den Gesetzgeber unter Zugzwang brachte. Seit dem BGH-Urteil machen sich einzelne Kinderwunschzentren startklar, die Präimplantationsdiagnostik in ihr Leistungsspektrum aufzunehmen.
Die unklare Vorgeschichte
Im Lübecker Fall ging es um ein Paar, das bereits drei erfolglose Schwangerschaften hinter sich hatte. Sowohl der Mann als auch die Frau sind Anlageträger des Desbuquois-Syndrom, einer autosomal-rezessiven monogenetischen Erkrankung, die, wenn die Anlagen aufeinander treffen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent Kleinwuchs und verkürzte Gliedmaßen verursachen und mit einem hohen Fehlgeburtsrisiko einhergehen. Die Vorgeschichte las sich in den öffentlichen Verlautbarungen allerdings widersprüchlich: Ist in der Pressemitteilung des UKL (Universitäres Kinderwunschzentrum Lübeck) davon die Rede, dass bei allen drei Schwangerschaften der Fötus im Mutterleib gestorben sei, berichtet die gerade Mutter gewordene Frau der Lokalzeitung von mehreren Schwangerschaftsabbrüchen. Tatsächlich, bestätigt Klaus Diedrich, Chef der Lübecker Klinik, die zweite Version. Die erste Schwangerschaft sei nach Auftreten einer Wasseransammlung (Hydrops) aufgrund medizinischer Indikation abgebrochen worden. „Eine Chromosomenanalyse fand gar nicht statt“. Aufgrund einer Hydrops-Diagnose fand auch die zweite Schwangerschaft in der 15. Woche mit einem Abbruch ein Ende, obwohl die dieses Mal durchgeführte Chromosomenanalyse keine Auffälligkeiten aufwies. Erst nach der dritten in der 18. Woche abgebrochenen Schwangerschaft diagnostizierte die Marburger Humangenetikerin Helga Rehder aufgrund einer nachträglichen Gewebeprobe das Desbuquois-Syndrom. „Wirklich nachgewiesen wurde es also nur ein einziges Mal.“
Die komplexe Prozedur
Das Paar wandte sich an das Lübecker Klinikum, ursprünglich, um eine Polkörperanalyse vornehmen zu lassen. Dabei handelt es sich um eine Untersuchung der befruchteten Eizelle, bei der nur die mütterliche DNA untersucht wird, und die schon vor dem BGH-Urteil erlaubt war. Vorher ließen aber beide Erwachsenen noch einmal einen Gentest durchführen. Es stellte sich dann heraus, dass die entsprechende Genvariante bei beiden auf dem Chromosom 17 sitzt. Das Paar entschied sich für die Präimplantationsdiagnostik, um auch auszuschließen, dass die Genvariation vom Vater übertragen werden könnte. „Die Vorbereitungen dafür dauerten von Oktober 2010 bis März 2011“, erinnert sich Diedrich. Die Phase zwischen dem Urteil des BGH, das als prinzipielle Erlaubnis der PID ausgelegt wurde, und dem Inkrafttreten des PID-Gesetzes im Dezember 2011 lieferte den benötigten Freiraum, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Das PID-Verfahren beruht auf der Heranzüchtung und Befruchtung von mehr Eizellen als bei einer normalen In-vitro-Fertilisation (IVF). Das setzt eine hormonelle Stimulation voraus, die mit milden bis schwerwiegenden Nebenwirkungen verbunden ist. Im Lübecker Fall konnten zehn Eizellen extrahiert werden, davon befruchteten die Reproduktionsmediziner sieben, also vier mehr, als das Embryonenschutzgesetz ursprünglich erlaubt. Sechs davon haben das Vorkernstadium erreicht. Sie wurden kultiviert und auf die genetische Auffälligkeit auf Chromosom 17 hin untersucht. Dies geschah „erst am vierten Tag, im 16-Zellstadium, wenn die Zellen nicht mehr totipotent sind“, versichert Klaus Diedrich. Es stellte sich heraus, „dass zwei Embryonen keine Mutationsträger waren, drei trugen eine Mutation, waren also ebenso gesund wie die Eltern, und einer hatte beide Mutationen.“ Die beiden nicht betroffenen Embryonen wurden transferiert, die drei Embryonen mit einseitig vorkommender Genmutation im Einvernehmen mit den Eltern eingefroren. „Und der belastete?“ „Der wurde nicht weiterkultiviert und ist abgestorben“, sagt Diedrich.
Die anvisierte Kundschaft
Von Designer-Babies will Professor Diedrich nichts wissen. Es gehe ja nur um den Ausschluss bestimmter schwerwiegender Anomalien. Doch wenn man sich durch die Homepages der deutschen Kinderwunschzentren klickt, könnte man mitunter daran zweifeln: „Mit der PID können wir auch Risikopatienten eine wertvolle und hochmoderne Behandlungsmethode bieten, die den Weg zum Wunschkind aussichtsreicher und sicherer macht“, wirbt beispielsweise das Fertility Center in Hamburg. Auch Bloechles Zentrum verweist stolz auf das erste „gesund geborene Kind“. Die PID eine Behandlungsmethode? Und ein Garantieschein für gesunde Kinder? Unterstellt man eine Geburtenrate von rund 26 Prozent nach PID, kann von einer Garantie auf ein Kind, sei es gesund oder nicht, ohnehin nicht die Rede sein. Es benötigt vielmehr durchschnittlich vier bis fünf IVF-Zyklen, um überhaupt zu einem Kind zu kommen. Die Annahme, die PID erhöhe den Erfolg einer IVF ist angesichts von Studien aus Großbritannien ebenfalls widerlegt. Das bestätigt auch Diedrich. Vom systematischen Testen auf Chromosomenabweichungen via PID, dem so genannten Aneuploidiescreening, hält er nichts. Woraus sich schließen lässt, dass das Aneuploidiescreening nicht gehalten hat, „was wir uns davon versprochen haben, nämlich die Chance, zu einer Schwangerschaft mit einem genetisch gesunden Kind zu kommen, zu erhöhen.“
Die selbstbestimmte Entscheidung
Im Hinblick auf die Indikationen für die PID ist in §3 Abs.1 des geänderten Embryonenschutzgesetzes ausdrücklich davon die Rede, dass eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ für eine „schwerwiegende Erbkrankheit“ vorliegen muss. Was aber ist eine hohe Wahrscheinlichkeit? Die im Lübecker Fall vorliegenden 25 Prozent? „Bei einer Amniozentese zum Ausschluss eines Down-Syndroms gehen wir bei einer 40-jährigen Patientin von einem Risiko von zwei Prozent aus, das heißt, es wird eine invasive Diagnostik bei sehr niedrigem Risiko gemacht“, hält der Reproduktionsmediziner im Vergleich mit der Pränataldiagnostik dagegen. Er ist der Auffassung, dass letztlich die betroffenen Paare entscheiden müssen, ob ein Risiko hoch für sie ist oder nicht. „Wir dürfen uns da nicht falsch verstehen: Es gibt auf der einen Seite die Chromosomenanalyse und auf der anderen Seite die Frage, wie die Eltern damit umgehen.“ Diese Haltung ist unter Reproduktionsmedizinern verbreitet. Die Verantwortung wird auf die Betroffenen abgewälzt, selbst begreifen sie sich nur als Vollzieher von deren Entscheidungen. Auf die Probleme, die mit einer solchen „selbstbestimmten Entscheidung“ verbunden sind und die unter Umständen sogar zu einer Pflicht zur Entscheidung führen kann, hat Silja Samerski in ihren Publikationen hingewiesen. Die meisten Kinderwunschärzte sehen jedenfalls keinen prinzipiellen ethischen Unterschied zwischen Pränataldiagnostik und PID, obwohl für letztere gezielt Embryonen hergestellt und notwendigerweise aussortiert werden. Völlig unklar ist derzeit auch, was mit den überzähligen eingefrorenen Embryonen, die bei der PID unweigerlich anfallen und die es in Deutschland gar nicht geben darf, geschehen soll. Wahrscheinlich wird das auch der Entscheidung der Betroffenen überantwortet werden. Und vielleicht werden sich irgendwann Paare mit Kinderwunsch melden, die bereit sind, sie zu „adoptieren“, wie es in den USA möglich ist, statt sie ihrem ungewissen Schicksal zu überlassen.
Die erwarteten Einnahmen
Überzeugt, im Interesse der Frauen zu handeln, verteidigen die Kinderwunschärzte die übliche PID-Praxis, viele Eizellen zu befruchten: Würde man die PID nur mit einer einzigen Eizelle durchführen, sagt Diedrich, empfänden wir die Belastung für sie als viel zu hoch. Mit dem Frauenwohl argumentieren auch die Reproduktionszentren, wenn es darum geht, die Frauen nicht an die ausländische billigere Konkurrenz zu verlieren. Das Kinderwunschzentrum Leipzig etwa warnt auf seiner Startseite seine Patientinnen vor unlauterem Wettbewerb und den falschen Versprechungen, die Reproduktionsmediziner jenseits der Grenze machen. Zwar glaubt Klaus Diedrich nicht, dass mit der PID unter heutigen Voraussetzungen das große Geschäft zu machen sei: Der Einzelfall in Lübeck habe das Klinikum alles in allem 120.000 Euro gekostet. Demgegenüber gibt das Klinikum auf der Website für die Kundschaft einen Preis von 10.300 Euro pro Zyklus an, allerdings ohne die Kosten für die Hormonbehandlung und sonstige Eventualitäten. Auf jeden Fall lockt ein möglichst breites Angebot auch Paare, bei denen es „nur“ um eine IVF-Behandlung geht, in die Zentren. Und vor allem von den IVF-Behandlungen leben die kommerziellen Anbieter. Bei wie vielen Zentren die PID schon vorbereitet wird, ist derzeit nicht zu ermitteln. Nimmt man die Websites der Fertilitätszentren als Indiz, herrscht derzeit zumindest nach außen noch eine gewisse Zurückhaltung vor.
Die künftige Rechtslage
Allerdings glaubt Diedrich, dass es schwierig sein wird, die Zahl der Zentren zu beschränken, soweit die fachlichen Voraussetzungen vorliegen. Er wünscht sich - wie übrigens auch Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery -, dass die PID „nicht an jeder Straßenecke“ angeboten wird. Dies soll unter anderem die zu erwartende Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums regeln, die derzeit unter der Federführung von Staatssekretärin Ulrike Flach (FDP) in Arbeit ist. Flach gehört seit Jahren zu den exponierten liberalen PID-Befürwortern, und es steht nicht zu erwarten, dass die Verordnung unter ihrer Ägide sonderlich restriktiv ausfällt. Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Durchführung der PID, bevor die Rechtsverordnung vorliegt, nicht gestattet. Ein Gutachten der Juristin Monika Frommel, die auch den Selbstanzeiger Matthias Bloechle juristisch beraten hat, sieht das anders. Es geht davon aus, dass das BGH-Urteil ausreiche, um die PID auch ohne Rechtsverordnung anzubieten. Obwohl auch Diedrich dieser Auffassung ist, wird die PID in Lübeck derzeit nicht angewendet, sondern das Klinikum belässt es bei der vorbereitenden Prüfung. 40 Anfragen liegen derzeit vor, darunter auch ein Fall von Chorea Huntington, eine Krankheit, die sich erst spät im Leben manifestiert. Obwohl zumindest das Gendiagnostikgesetz - das allerdings nicht auf die PID anzuwenden ist - spätmanifeste Krankheiten explizit aus der Pränataldiagnostik ausschließt, sieht Diedrich auch in solchen Fällen die Eltern im Recht zu entscheiden, ob sie die Geburt eines Kindes mit einer solchen Krankheit vermeiden wollen. Am Ende wird es darauf hinauslaufen, dass sich in der Praxis der PID jener Katalog unerwünschter Krankheiten allmählich etablieren (und erweitern) wird, vor dem Kritiker warnten und den der Gesetzgeber zu vermeiden suchte.
Ulrike Baureithel ist freie Journalistin und Lehrbeauftragte an der HU Berlin. Sie arbeitet seit 1990 unter anderem im Bereich Bioethik und Reproduktionstechnologie.