Für transparente Forschung statt Wissenschafts-PR! #MarchForScience

(Berlin, 21. April 2017) Aus Protest gegen die wissenschaftsfeindliche Politik der US-Regierung werden diesen Samstag in den USA tausende Wissenschaftler_innen auf die Straße gehen. Parallel finden überall auf der Welt, auch in vielen deutschen Städten, Ableger des „March for Science“ statt. Das Gen-ethische Netzwerk (GeN) begrüßt das politische Engagement, das die Forschungscommunity auf die Straße treibt, kritisiert jedoch, dass die Gelegenheit für eine notwendige Kritik am Wissenschaftsbetrieb verpasst wird.

Der March for Science ignoriert die vielfältigen wissenschaftsinternen Diskussionen, die sich in den letzten Jahren mit den Problemen des Forschungsbetriebes auseinandergesetzt haben, leider gänzlich.

Was nützt die Forderung nach einer wissenschaftsorientierten gesellschaftlichen Debatte, wenn wissenschaftliche Ergebnisse nicht zuverlässig sind? Das Beharren auf dem Gegensatz zwischen „Fake News“ und „objektiven wissenschaftlichen Fakten“ ist nur die halbe Wahrheit. So zeigen Studien beispielsweise, dass ein großer Teil der Ergebnisse aus der Krebs-Grundlagenforschung nicht reproduzierbar ist. Andere Studien belegen, dass finanzielle Interessen die Ergebnisse von Forschung immens beeinflussen. Und in anonymen Umfragen gibt ein großer Anteil an Wissenschaftler_innen zu, selbst mit fragwürdigen Forschungspraxen oder sogar mutwilliger Fälschung zu der Verzerrung wissenschaftlicher Ergebnisse beizutragen.

Die GeN-Mitarbeiterin Dr. Isabelle Bartram kritisiert: „Statt diese Probleme selbstkritisch anzupacken und Forderungen an sich selbst und die politischen und institutionellen Verantwortlichen zu stellen, veranstalten die Organisator_innen des March for Science leider ein gegenseitiges Schulterklopfen.“

Das Gen-ethische Netzwerk wird beim Berliner March for Science anwesend sein und seine Forderungen an die Forschungscommunity in einem Flyer verbreiten.

Wir fordern:

  • Gesellschaftlich relevante Forschung!
  • Interessenkonflikte transparent machen!
  • Open Science - aber mit Datenschutz!
  • Ehrliche Wissenschaftskommunikation!
  • Keine Orientierung an Vermarktungsfähigkeit!

Den Flyer können Sie in unserem Shop bestellen oder als pdf herunterladen.

March for Science Berlin
13:00 Uhr, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6: Vorprogramm im Innenhof
13:30 Uhr, Marsch zum Brandenburger Tor mit kurzem Stopp vor der ungarischen Botschaft

Pressekontakt: Dr. Isabelle Bartram, isabelle.bartram@gen-ethisches-netzwerk.de, Tel. 030 - 685 7073

 

Inhalt des Flyers

Für Verantwortung in Wissenschaft und Forschung!

Gesellschaftlich relevante Forschung!
Welche Ziele soll Forschung verfolgen und wer soll Forschungsförderung bekommen? Statt Forschungsprojekte nach rein ökonomischen Kriterien zu bewerten, sollte sich die Beantwortung dieser Frage an gesellschaftlichen Herausforderungen und Bedürfnissen orientieren. Doch in der Realität wird Forschungsförderung als ein Instrument der Wirtschaftsförderung eingesetzt, das in erster Linie marktfähige Produkte hervorbringen soll. Diese Politik drückt sich in einer zunehmenden Ökonomisierung auch öffentlich geförderter Forschung aus. Der Fokus liegt auf Großprojekten, die wirtschaftlich wichtige Schlüsseltechnologien entwickeln sollen. Dies geht zu Lasten von Grundlagenforschung, kritischen Forschungsansätzen und Forschung, die gesellschaftlich wichtig ist, aber nicht gewinnträchtig.

Interessenkonflikte transparent machen!
Forschungsprojekte, an deren Finanzierung die Industrie beteiligt ist, fördern industriefreundliche Ergebnisse zutage. Dieser Funding effect wurde durch zahlreiche Studien und für unterschiedlichste Fachgebiete wie Biomedizin (beispielsweise bezüglich Tabak oder Zucker), Kernenergie, Pharmazie und gentechnisch veränderte Pflanzen belegt. Da ein Fünftel der von deutschen Hochschulen eingeworbenen Drittmittel direkt von Industrie-Unternehmen stammt, und dieser Anteil beständig steigt, ist das nicht nur ein marginales Problem! Trotz deutlicher Fortschritte hinsichtlich der Offenlegung von Interessenkonflikten machen bis heute viele wissenschaftliche Zeitschriften dies nicht zur Pflicht. Auch die Geheimhaltung von Studienergebnissen durch die Industrie ist ein Problem - beispielsweise für die realistische Einschätzung der Wirksamkeit und Risiken ihrer Produkte. Pestizid- oder Arzneimittelhersteller beispielsweise dürfen ihre Studienergebnisse häufig als Geschäftsgeheimnisse einstufen und müssen sie nicht veröffentlichen; eine unabhängige Überprüfung wird dadurch unmöglich gemacht.

Open Science - aber mit Datenschutz!
Nur der freie Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen (Open Access) kann die Basis für eine fundierte gesellschaftliche Debatte sein. Auch die freie Verfügbarkeit aller zugrundeliegenden Daten (Open Data) ist notwendig, um eine unabhängige Meinungsbildung und die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen. Das freie Teilen ist jedoch nicht bei allen Daten unproblematisch, beispielsweise Gesundheitsdaten oder Genomsequenzen von Proband_innen. Denn Re-Identifizierungsstudien zeigen, dass durch die Verknüpfung verschiedener Datensätze eine Anonymisierung der Daten aufgehoben werden kann.

Ehrliche Wissenschaftskommunikation!
Wenn über Wissenschaft berichtet wird, werden meist große Hoffnungen geweckt - Krebs ist (fast) geheilt, der Welthunger (fast) gestillt. Die Hype-Produktion wird von vielen Seiten gefördert: Forschende machen schon in ihren Anträgen und Publikationen ambitionierte Versprechen, die Pressemitteilungen der Institute betonen das Positive und viele Medien suchen die sensationelle Nachricht. Die zunehmen- de Konkurrenz um Forschungsgelder macht Wissenschaftler_innen geneigt, ihre Forschung möglichst gut klingende Versprechungen zu verpacken. Doch wenn politische und gesellschaftliche Entscheidungen auf wissenschaftlicher Basis getroffen werden sollen, ist eine realistische Einordnung der Ergebnisse absolut notwendig! Dafür ist es auch unentbehrlich „negative Daten“, also Daten die Hypothesen widersprechen, zu veröffentlichen!

Keine Orientierung an Vermarktungsfähigkeit!
Patente spielen in unserem aktuellen Wissenschaftssystem eine große Rolle und werden als eigene Forschungsleistung gewertet. Während Patente dafür sorgen, dass Wissen veröffentlicht wird und damit zumindest theoretisch allen zugänglich ist, schränken sie in der Praxis die Forschung häufig ein. Exklusive Lizenzvergaben an einzelne Unternehmen sorgen dafür, dass diese eine de-facto Monopolstellung für die Produktvermarktung und damit auch für die Forschung erhalten. Forschung, die einseitig auf wirtschaftliche Wertschöpfung und Wettbewerbsorientierung setzt, geht an den zentralen ökologischen und gesellschaftlichen Problemen vorbei. Anstatt die Entwicklung von vermarktungsfähigen Produkten in den Vordergrund zu rücken, sollte die Forschung gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen.

Selbst aktiv werden
Veränderung kann nicht nur von der Politik ausgehen, sondern auch vom Wissenschaftssystem selber. Die Fähigkeiten, kritische Fragen zu stellen und eigene Arbeitsweisen zu reflektieren gehören zum Werkzeugkoffer von Forschenden. Dazu gehören auch

  • „negative“ Ergebnisse publizieren, auch wenn Reproduktion publizierter Ergebnisse nicht möglich ist
  • fehlerhafte Publikationen zurückziehen
  • Open Access publizieren
  • Kooperation statt Konkurrenz fördern
  • Whistleblowing bei schwerwiegenden Missständen
  • wenn der Aufstieg in der wissenschaftlichen Hierarchie gelingt, diese Position zur Veränderung nutzen

Weitere Initiativen und Projekte
Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und die Union of Concerned Scientists (USA) setzen sich für Verantwortung und Nachhaltigkeit in der Wissenschaft ein.
Im Journal of Negative Results in BioMedicine können „negative“ Daten Open Access publiziert werden.
Das Reproducibility Project erforscht, ob einflussreiche Publikationen im Bereich der Krebsforschung und Psychologie reproduziert werden können.
medien-doktor.de untersucht die Faktentreue von Wissenschaftsjournalismus.
Auf Pubpeer.com kann Wissenschaftsbetrug durch anonymen Peer Review aufgedeckt werden.
Das European Network of Scientists for Social and Environmental Responsibility bewertet Technologien für die Öffentlichkeit. Hochschulwatch und Transparency International Deutschland beschäftigen sich mit Verträgen zwischen Hochschulen und Industrie, die eine Unabhängigkeit von Wissenschaft, Forschung und Lehre gefährden.

20. April 2017

Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.

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