Rezension: Eine andere Geschichte der „Biologie der Juden“
Die Auffassung eines im Gegensatz zu den Ariern nicht nur fremdartigen und unverbesserlichen, sondern auch minderwertigen Juden gehörte nicht erst im 20. Jahrhundert zu den gängigen antisemitischen Stereotypen. Die Versuche, den Antisemitismus rassenbiologisch zu begründen, datieren aber erst auf diese Zeit. Es handelte sich dabei nicht nur um publizistische oder ideologische Auseinandersetzungen, sondern auch um eine wissenschaftliche Debatte, die nach allen Regeln der Kunst im Rahmen der sich entwickelnden Biowissenschaften ausgetragen wurde. An dieser Debatte beteiligten sich jüdische und nichtjüdische Wissenschaftler gleichermaßen. Das faszinierende Buch „Biologie der Juden“ untersucht diese verstörende Geschichte und die Rolle, die Biowissenschaftler jüdischer Herkunft innerhalb eines europaweit geführten Rassendiskurses spielten. Interessant ist insbesondere, wie diese „ihre eigenen Vorstellungen von jüdischer Identität“ formulierten, indem sie sich die Konzepte von Rasse und Vererbung aneigneten. Tatsächlich erfüllten die biologischen Erzählungen in dieser Zeit eine wichtige Funktion in der jüdischen Selbstvergewisserung über den Bereich der Biowissenschaften hinaus. Die Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund wendeten sich in der Regel gegen die biologistische Stigmatisierung der Juden und versuchten, die Juden der „biologischen Logik“ von der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse „zu entziehen“. Die Rassenforschungen der Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund waren also „keine tragische Fehleinschätzung, kein tragisches Verkennen ihrer Situation“, sondern „wissenschaftliche Versuche, die sich inhaltlich, methodisch und institutionell im Rahmen der zeitgenössischen Biowissenschaften bewegten und eine professionelle Identität, eine Identifikation mit dem biowissenschaftlichen Denkkollektiv, voraussetzten.“ Die Autoren mit jüdischen Hintergrund hielten „ihre Forschungen für wirksame und zukunftsweisende Maßnahmen im Interesse des Judentums und der Menschheit“ und damit in der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus. Veronika Lipphardts profunde quellenorientierte Analyse hinterfragt am Beispiel der Rassenforschung die Rolle der Biowissenschaften in der Gesellschaft gründlich. Sie schließt das Buch deshalb mit Beispielen aus der jüngsten Geschichte der Humangenetik und zeigt, wie die Konstruktion eines „jüdischen Erbgutes“ auch heute noch das Denken anleitet.
Gerhard Baader
Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900 - 1935, Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 360 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978-3-525-36100-9.