Rezension – „Tödliche Medizin“ im Nationalsozialismus

Die Ausstellung „Tödliche Medizin: Rassenwahn im Nationalsozialismus“ („Deadly Medicine: Creating the Master Race“) des United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. ist nach einem Halt im Deutschen Hygiene-Museum Dresden seit dem 13. März 2009 auch im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Indem die Ausstellung den Massenmord an den europäischen Juden mit den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen verknüpft, erlaubt sie sich eine neue historische Rekonstruktion der ideologischen Bedingungen sowie eine längst überfällige Würdigung der Zwangssterilisierten und ermordeten „Kranken“ als Opfer des NS-Regimes. Die krude Vorstellung, einen von „Entartung“ bedrohten fiktiven Volkskörper durch die Auslese von Trägern „gesunden Erbgutes“ zu „retten“, wurde zum Motor des menschenverachtenden Vernichtungswahns. Damit eine Auseinandersetzung mit dieser komplexen und vielschichtigen Thematik nicht mit dem Verlassen des Museums endet, sind auch zu den beiden deutschen Ausstellungen Begleitpublikationen erschienen. Der 342 Seiten starke Band des Hygiene-Museums „Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord“ dokumentiert eine gleichnamige Ringvorlesung, die als Teil eines Rahmenprogramms angeboten wurde. Internationale Forscher verschiedener Disziplinen beleuchten neben der Entstehung und verbrecherischen Eskalation der Eugenik die Konsequenzen für die Täter und die medizinische Ethik nach 1945. Die Veröffentlichung des Jüdischen Museums Berlin vereint überwiegend Beiträge der Bereiche Zeit- und Medizingeschichte und richtet sich primär an fachliche Laien, die nach einem kompakten und facettenreichen Überblick suchen. Am Beispiel von Opferschicksalen und Täterkarrieren wird die systematische Grausamkeit des „Rassenwahns“ als Ausgangspunkt der Shoa in einer persönlichen Dimension veranschaulicht. Beide Bände machen deutlich, dass die Diskussionen bis heute anhalten und angesichts einer wieder erstarkenden „Biologisierung des Sozialen“ und der Kultivierung eines verwertbaren Genfetischismus aktueller sind denn je. Die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin läuft noch bis zum 19. Juli 2009.
Tom Bartneck

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
194
vom Juni 2009
Seite 61