Rezension: Veranlagung und Verantwortung

Veranlagung und Verantwortung

1990 wurde Généthon gegründet, ein französisches Genforschungszentrum, das in den neunziger Jahren wissenschaftliche Erfolge feiern konnte. Ermöglicht hatte dies eine Selbsthilfeorganisation, die das Forschungszentrum mitgegründet hatte und die laufenden Kosten weitgehend über eigene Mittel unterhielt. Die Spendenbereitwilligkeit der französischen Fernsehzuschauer hatte diese Entscheidungsmacht ermöglicht. Dieses Beispiel, das die zunehmende und sich verändernde Bedeutung von organisierten Laien – Kranken, Risikopersonen und Angehörigen – aufzeigt, lenkt die Aufmerksamkeit auf wenig beachtete Veränderungen im biomedizinischen Diskurs der letzten zwanzig Jahre. Die Entwicklung der Molekulargenetik als Wissenschaft und als medizinische Technik wird demnach nicht mehr allein von ökonomischen und wissenschaftlichen Interessen vorangetrieben. Statt dessen zeichnet sich nach Thomas Lemke ein neues Modell einer sozialen Medizin und sozialen Rationalität ab, in deren Mittelpunkt das gesellschaftliche und individuelle Management von Wahrscheinlichkeiten und Risiken steht. Das heißt, dass die immer wieder angeprangerte Individualisierung und Privatisierung von Krankheitsrisiken und -kosten nicht nur durch den Abbau sozialer Sicherungssysteme vorangetrieben wird. Sie entspricht auch einer umfassenden Umordnung der moralischen Maßstäbe und sozialen Beziehungen, die die Handlungsmuster jedes Einzelnen bestimmen. Diese bereits an anderen Orten entwickelten Thesen unterlegt Lemke nun mit einer detaillierten Analyse eines nach ihm paradigmatischen Fallbeispiels: der Huntington-Krankheit und der Rolle der Selbsthilfeorganisationen innerhalb der politischen und sozialen Regulierung der seit 1993 möglichen Gentests. Die leicht lesbare, wenn auch nicht ganz voraussetzungsfreie Erläuterung des Forschungsstandes zur Huntington-Krankheit, die Rekapitulierung der Argumente und Positionen um Gentests und nicht zuletzt die Zusammenführung von Literatur zu diesem Thema machen die Untersuchung zu einer informationsreichen Einführung in die soziale und politische Problematik prädiktiver Gentests. Sie behandelt zudem eine Thematik, die in der mit bioethischem Brausen geführten Klon- und Stammzellendebatte in der Öffentlichkeit zeitweise untergegangen ist, die aber - das ist das Anliegen der Studie - auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang von Biomedizin aufmerksam macht.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
164
vom Juni 2004
Seite 52

Alexander v. Schwerin lehrt an der TU Braunschweig Wissenschafts-, Technik- und Pharmaziegeschichte und ist Mitarbeiter im Forschungsprogramm zur „Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin.

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