Die Amerikanische Kastanie
Wem dient die gentechnologische Wiederherstellung eines nationalen Symbols?
Während sich Bundesbehörden in den USA darauf vorbereiteten, transgene Kastanien zu deregulieren, sprach die Autorin mit zwei Vertretern unterschiedlicher Perspektiven: dem Wissenschaftler Bill Powell, der das Kastanienprojekt leitete und Neil Patterson Jr., der sich für indigene Rechte auf Zugang zu Land und Pflanzen einsetzt.

Bestäubung von Kastienblüten in einer Feldforschungsstation in Syracuse, Juli 2022. Foto: Grist.org/Getty Images
Die Amerikanische Kastanie, oder číhtkęr in der Sprache der Tuscarora, wuchs einst im gesamten Osten der heutigen USA, von Mississippi bis Georgia und im Südosten Kanadas. Von der beliebten und ökologisch wichtigen Art existierten früher Milliarden von Bäumen, bevor sie durch massive Abholzung und eine tödliche Pilzkrankheit nahezu ausgerottet wurde. Als dieser Artikel geschrieben wurde, stand eine transgene Version der Amerikanischen Kastanie, die pilzresistent sein soll, kurz vor der Freigabe durch die US-Regierung. Würde dies geschehen, könnten die gentechnisch veränderten Bäume unbegrenzt verbreitet werden. Seit Jahren wird kontrovers über die Ethik des Einsatzes neuer Biotechnologien für den Artenschutz diskutiert. Doch Neil Patterson Jr., Leiter des Center for Native Peoples and the Environment, der im Reservat der Tuscarora Nation aufwuchs, stellt eine andere Frage: Was nützt die Wiederansiedlung einer Art, wenn nicht auch ihre traditionelle Beziehung zu der indigenen Bevölkerung wiederhergestellt wird, die ihr zu ihrem Gedeihen verholfen hat?
Diese bedeutsame Beziehung wird in den Naturschutz-Narrativen über die krankheitsresistente Kastanie selten thematisiert. In den letzten vier Jahrzehnten war die treibende Kraft hinter der Wiederherstellung der Kastanie die American Chestnut Foundation, eine gemeinnützige Organisation mit mehr als 5.000 aktiven Mitgliedern in 16 Ortsgruppen. „Unsere Mission ist es, die ikonische Amerikanische Kastanie in ihr Heimatgebiet zurückzubringen“, schreibt die Stiftung auf ihrer Webseite. Die Geschichtsschreibung der Stiftung beginnt jedoch in der Kolonialzeit und zeichnet ein romantisches Bild einer vorkolonialen Wildnis, welche die von der indigenen Bevölkerung praktizierte intensive Agroforstwirtschaft ignoriert.1 Die gentechnische Veränderung dieser verschwundenen Art soll ihr Überleben sichern, ohne sich mit den Ursachen ihres Verschwindens – nämlich den Schäden durch den Kolonialismus – auseinanderzusetzen. So wird vermieden, harte Grundsatzentscheidungen zum Umgang mit dem kolonialen Erbe zu treffen.
Bill Powell war einer der führenden Experten für die Rettung der Kastanie und Leiter des American Chestnut Research and Restoration Project am New York’s College of Environmental Science and Forestry. Als ich Powell im Jahr 2022 traf, beklagte er sich, dass die Wiederherstellung der Kastanien zu lange dauere, er sehe seinen „Ruhestand am Horizont“. Vorher müsse er jedoch sein Projekt zu Ende bringen. Während sich der pilzresistente Baum seinen Weg durch das Deregulierungslabyrinth der Bundesbehörden, einschließlich der Umweltschutz-, der Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde und des Landwirtschaftsministeriums bahnte, musste Powell seinen Posten zwischenzeitlich aus gesundheitlichen Gründen aufgeben.2
In unserem Gespräch betonte er, dass es der indigenen Bevölkerung nach der Deregulierung freistehen würde, die transgenen Bäume auf ihrem Land anzubauen. Powell räumte jedoch ein, dass dies diejenigen nicht beruhigt, die indigenes Land nicht im kolonialen Sinne, d.h. innerhalb der Reservatsgrenzen verstehen, sondern im Sinne von Vertragsrechten oder kulturellen Praktiken auf historisch indigenem Land.
Ende einer langen Beziehung
Die Früchte der Amerikanischen Kastanie waren ein wichtiger Bestandteil der abwechslungsreichen Ernährung, von der sich die Vorfahren von Patterson über Jahrtausende hinweg ernährten; im Gegenzug pflegten die Menschen über Tausende von Kilometern hinweg Wälder mit diesen Bäumen. Als die USA die indigene Bevölkerung im gesamten Verbreitungsgebiet der Kastanie von ihrem Land vertrieben hatten und die Amerikanische Kastanie nahezu ausstarb, verschwand so auch eine uralte wechselseitige Beziehung. Die europäischen Siedler*innen vertrieben die indigene Bevölkerung aus einem Großteil ihrer Heimat und fällten gleichzeitig die Kastanien – aus diversen Gründen: um Platz für Städte und Bauernhöfe zu schaffen, als Baumaterial oder einfach, um die Kastanien leichter sammeln zu können. Die Kastanie überlebte dennoch jahrhundertelang, bis in den späten 1800er Jahren Bäume in die Vereinigten Staaten importiert wurden, die mit der Pilzkrankheit Cryphonectria parasitica befallen waren. Der Pilz verbreitete sich durch Wind und Regen, aber auch mit Hilfe von Insekten und Vögeln. Der Kastanienrindenkrebs, den der Pilz auslöst, tötete in erstaunlichem Tempo. Alles in allem starb der Baum in weniger als 50 Jahren fast aus.
Kampf um Landrechte
Gleichzeitig verschwanden die Menschen, deren Praktiken der Kastanie zum Wachstum verholfen hatten. Laut Neil Patterson Jr. verloren einige indigene Communitys sogar ihr Wort für den Kastanienbaum, weil die Pflanze zur gleichen Zeit ausstarb, als die US-Regierung indigene Kinder in Internate steckte und damit ihrer Sprache und Kultur beraubte. Patterson glaubt, dass die Beziehung zwischen der indigenen Bevölkerung und den Bäumen wieder hergestellt werden kann. Er ist jedoch nicht davon überzeugt, dass die Freisetzung der transgenen Kastanie diese Beziehung wiederherstellen wird. Für Patterson ist bezeichnend, was nicht wiederhergestellt wird: die vertraglich festgelegten Rechte auf Zugang und Pflege von Pflanzen und Tieren in der Landschaft. Er arbeitet daran, den Zugang der indigenen Bevölkerung zu den Pflanzen und Tieren wiederherzustellen, die für die Haudenosaunee Confederacy, von der die Tuscarora Nation Teil ist, kulturell wichtig sind. Seine Arbeit wird davon erschwert, dass diese oft außerhalb der Reservate vorkommen. Für den Staat New York gelten für die indigene Bevölkerung außerhalb der Reservate die gleichen Rechte und Vorschriften wie für nicht-indigene Menschen – Vorschriften, gegen die die Tuscarora seit Jahrzehnten vor Gericht kämpfen. Aus Pattersons Sicht ist die Frage, ob transgene Bäume angebaut werden sollen, also nicht unbedingt die dringlichste. Ihm geht es vielmehr darum, eine Lebensweise zu unterstützen, die die traditionellen ökologischen Beziehungen wiederherstellt.
Gentechnik für den Naturschutz
Die transgenen Kastanien enthalten Weizen-DNA, die es dem Baum ermöglicht, ein Enzym zu bilden, das die Pilzkrankheit bekämpft. Sie werden zwar auch befallen, jedoch nicht in einem Maße, das zum Absterben der Pflanze führt. Laut Bill Powell sei es wichtig, den Baum wieder zu beleben, weil die Kastanien eine stabile Nahrungsquelle für Wildtiere seien, da sie spät im Jahr blühen und so dem blütenschädigenden Frost entgehen. „Sie war einfach ein wichtiger Teil unseres Ökosystems und auch für unser Erbe“, so Powell. Obwohl schon im Ruhestand, arbeitet er an der Gründung eines Forschungszentrums, das transgene Versionen anderer einheimischer Arten entwickeln soll, die aufgrund von Schädlingsbefall, Insekten und anderen eingeschleppten Erkrankungen aussterben. Menschen, die hoffen, mit Hilfe von Technologie ausgestorbene Arten wiederzubeleben, sei es die Amerikanische Kastanie oder sogar das Wollmammut, werden manchmal als Ökomodernist*innen bezeichnet. Jamie Van Clief, eine Wissenschaftskoordinatorin der American Chestnut Foundation, erklärte mir, dass sie sich für die Arbeit bei der Organisation interessiere, weil ihr Fachgebiet, die Umweltwissenschaften, deprimierend sei: „Es gibt viele Katastrophen, so viel Betroffenheit, und die Existenz einer Stiftung mit einer so positiven und wirkungsvollen Mission hat mich einfach sehr angezogen“, so Van Clief. Es sei unglaublich, auf eine Wiederbelebung in diesem Ausmaß hinzuarbeiten.
Tatsache ist, dass die Auswilderung von Kastanien, die gegen den Pils resistent sind, keine Garantie für eine Landschaft ist, in der sie überleben können. Da die Biotechnologie allein die Amerikanische Kastanie nicht in dem Maße wiederherstellen kann, wie es sich ihre Befürworter*innen vorstellen, setzt Powell auf Citizen Science, Bürger*innen Wissenschaft. Er stellte sich vor, dass die American Chestnut Foundation nach der Deregulierung transgene Pollen an interessierte Menschen verschickt, die dann die Blüten der in der Nähe wachsenden wilden Bäume bestäuben könnten. Sie könnten die Kastanien, die die Bäume produzieren, einpflanzen oder an andere Kastanienfans weitergeben.
Wer darf entscheiden?
Bei der Debatte über die krankheitsresistenten Kastanien gehe es nicht wirklich um Bäume oder gar Gentechnik, sondern darum, wer die Entscheidungen über das Land treffen darf. Naturschutz würde in den europäischen Kulturen als objektives Ziel betrachtet, aber das sei eine Weltsicht, die andere Menschen vielleicht nicht teilen, erklärt Katie Barnhill-Dilling, Sozialwissenschaftlerin an der North Carolina State University, die sich mit der Entscheidungsfindung im Umweltbereich beschäftigt.
Bill Powell habe sich immer wieder an die Stämme gewandt, um deren Ansichten zu verstehen, so Neil Patterson Jr., und im Gegensatz zu anderen Wissenschaftler*innen hätte er sich auf Technologien zum Umweltschutz konzentriert, nicht auf den persönlichen Profit. Patterson sorgt sich jedoch, dass die Menschen nicht in der Lage sein werden, transgene Bäume von nicht-transgenen Bäumen zu unterscheiden, wenn transgene Kastanien wachsen und Pollen in den Wind abgeben. Wissenschaftler*innen versichern, dass die Menschen in Zukunft in der Lage sein würden, die Bäume durch Gentests zu unterscheiden. Laut Patterson ein privilegierter Standpunkt – schließlich ist die Technologie nicht für alle zugänglich. Er fragte sich, warum es den nicht-indigenen Wissenschaftler*innen und Naturschützer*innen überhaupt möglich ist, Freisetzungsversuche auf staatlichem Land durchzuführen, während die indigene Bevölkerung größtenteils daran gehindert wurde, die dortigen Pflanzen zu nutzen oder zu pflegen.
Maya L. Kapoor ist freiberufliche Wissenschaftsautorin. www.mayalkapoor.com
Dieser Artikel ist eine stark gekürzte Version von „The American chestnut tree is coming back. Who is it for?“, 13.09.2023 auf Grist (www.grist.org).