Welches Vorsorgeprinzip?

Das Vorsorgeprinzip hat mittlerweile in vielen nationalen und internationalen Gesetzeswerken Einzug gehalten. Auch im Bereich der Grünen Gentechnik ist das an "Schadensvermeidung statt Schadensbehebung" orientierte Prinzip nicht mehr wegzudenken. Allerdings, was unter dem Prinzip zu verstehen ist und welche konkreten Handlungsanweisungen sich daraus ableiten, ist umstritten. Eine europäische Studie widmet sich dieser Fragestellung.

Better safe than sorry" - so könnte man vereinfacht die zentrale Bedeutung des Vorsorgeprinzips umschreiben. Dies ist als Haltung allgemein verständlich und anerkannt. Sobald die Frage nach der Konkretisierung aufkommt, dann spätestens hören die Gemeinsamkeiten auf. Schon allein an dem Punkt, ob es sich beim Vorsorgeprinzip um ein ethisches oder rechtlich verbindliches Prinzip oder nur um eine politische Leitidee handelt scheiden sich die Geister.

Im Ermessen der Entscheidungsträger

Nun ist diese Diskrepanz in der Wahrnehmung oder strategischen Ausrichtung des Vorsorgeprinzips nicht nur ein Zankapfel zwischen den Nordamerikanern und den Europäern. Auch innerhalb der Europäischen Union und zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, die im Bereich Gentechnik mitreden, bestehen erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn das Vorsorgeprinzip bleibt auch in den hiesigen Gesetzestexten unscharf. Sowohl die Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG als auch das deutsche Gentechnikgesetz lassen das Prinzip inhaltlich unbestimmt. Letztlich liegt es im Ermessen der Entscheidungsträger, darüber zu urteilen, wann Vorsorge zum Tragen kommen und wie eine vorsorgliche Praxis im Bereich der Gentechnik aussehen soll. Je nach politischer Lage und den Einstellungen der zuständigen Ressorts kann diese Einschätzung dann recht unterschiedlich ausfallen – gentechnikfreundlich oder schutzbasiert. Das europäische Forschungsprojekt "Precautionary Expertise for GM crops" hat zum Ziel, mehr Klarheit in die Debatte zu bringen. In sieben europäischen Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene wurde untersucht, welche unterschiedlichen Vorstellungen von Vorsorge anzutreffen sind und welche Rolle das Vorsorgeprinzip in der Praxis der Gentechnikpolitik spielt. Die deutsche Studie zeigt: Bei der Frage nach dem angemessenen, vorsorglichen Umgang mit der Technologie spielen Interessenlagen, Wertvorstellungen und Einschätzungen eine wesentliche Rolle. So ist nicht überraschend, dass ein eher schwaches Vorsorgeverständnis bei den Gentechnik-Befürwortern zu finden ist, während die Gentechnik-Kritker eine umfassende, starke Vorsorge fordern.

Unlegitime Politisierung?

Das Vorsorgeprinzip wird dabei zwischen dem Anspruch nach dem Ausbau innovativer Technologien, der Forderung nach Sicherheit und dem Wunsch nach einer völlig anderen Form der Landwirtschaft inhaltlich zerpflückt. Die Befürworter wollen der Technologie eine Chance geben. Für sie ist der Vorsorgepflicht dadurch genüge getan, dass es eine Genehmigungspflicht und eine Risikobewertung gibt. Sie meinen, die Wissenschaft könne die wesentlichen Sicherheitsfragen klären. Erst dann, wenn eine negative Wirkung belegt ist, soll eingegriffen werden, was im übrigen - per Definition - genau das Gegenteil von Vorsorge wäre. Das Problem unvollständigen Wissens wird als gering, der Nutzen der Technologie als groß eingeschätzt. Gesellschaftliche Bewertungen – auch als Element der Vorsorge - lehnen sie ab mit dem Verweis auf eine unlegitime "Politisierung". Gerade die Frage, welche Wirkungen überhaupt berücksichtigt werden sollen und wie mit dem Nichtwissen verfahren wird - auf diese notwendigen Vorsorgeüberlegungen bei der Risikobewertung verweist eine mittlere Position. Verfechter dieser Linie argumentieren, dass große Wissenslücken bestehen und viele Fragen auch nicht allein mit den Mitteln der Wissenschaft geklärt werden können. Denn ob ein Schaden vorliegt oder ein Risiko akzeptabel ist unterliegt politischen Beurteilungen. Da können dann auch umweltplanerische Überlegungen eine Rolle spielen. Im Sinne der "Zukunftsvorsorge" wären auch solche Interpretationen des Vorsorgeprinzips gedeckt und staatliche Eingriffe legitimiert.

Nicht nur eine juristische Rechtsformel

Die gentechnikkritischen Stimmen nehmen diesen Faden auf und gehen sogar noch weiter. Für sie ist das Vorsorgeprinzip nicht allein eine juristische Rechtsformel, die staatliches Handeln unter Unsicherheit legitimiert und gesellschaftliche Überlegungen erlaubt. Vorsorge ist auch Ausdruck einer Geisteshaltung, die ein "weiter so" nicht akzeptiert. Hier werden auch ethische und sozio-ökonomische Fragen in die Abwägung einbezogen: Wie wollen wir leben? Welche Form der Landwirtschaft wollen wir? Die Gentechnik wird nicht nur als verantwortungslose Risikotechnologie abgelehnt, auch die Verfahren der Technikentwicklung werden als intransparent und undemokratisch kritisiert. Deshalb sprechen sie sich gegen eine "Verwissenschaftlichung" dieser für sie hochpolitischen Thematik aus. Die Studie beweist: Alle reden von Vorsorge, und alle meinen etwas anderes. Vom spekulativen allgemeinen Konzept über eine Handlungsmaxime unter Unsicherheit bis zum modernisierungskritischen Lebensprinzip, so weit ist das Bedeutungsspektrum. Auf welches Verständnis des Vorsorgeprinzips sich die einzelnen Gruppen in Deutschland beziehen und wie Regulierungsentscheidungen vor dem Hintergrund der jeweiligen vorsorglichen Erwartungen beurteilt werden, kann in der Studie nachgelesen werden.

Die europäischen Studien im Rahmen des EU-Forschungsprojektes "Precautionary Expertise for GM crops" können im Internet heruntergeladen werden: http://technology.open.ac.uk/cts/peg/index.htm.

Erschienen in
GID-Ausgabe
173
vom Dezember 2005
Seite 9 - 10

Karin Boschert ist promovierte Politologin und lebt in Tübingen.

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Stimmen zum Vorsorgeprinzip

Vorsorge bedeutet ein Vorangehen mit größter Vorsicht "Gentechnik birgt Risiken, die in Ihren Wirkungen nicht alle überschaut werden können. Vorsorgen heißt, eine Technologie so einführen, dass man nichts Unwiederkehrbares verursacht."
Vorsorge bedeutet, zu handeln, wenn es keine wissenschaftliche Gewissheit gibt (…) Vielmehr müssen auch solche Schadensmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher insoweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential besteht (Auszug aus "Wyhl-Urteil").(1)
Vorsorge heißt gesellschaftlichen Nutzen in die Bewertung mit einzubeziehen "Die Frage, ob eine transgene Pflanze einen Nutzen hat oder ob sie einen sinnvollen Beitrag für die Landwirtschaft leistet, ist Ausfluss des Vorsorgedenkens."
Vorsorge als unberechenbares Prinzip "Das Problem der Vorsorge in der Einzelentscheidung liegt darin, wie man es für die Behörde operationalisierbar macht und Rechtssicherheit schafft."
Vorsorge als normativer Ansatz "Vorsorge bedeutet auch, entspricht eine Technik einem Grundverständnis davon, wie ich mit Natur und dem Leben umgehe?"
Vorsorge hat zu tun mit Nachhaltigkeit "Es geht darum, eine Bewertungspraxis zu entwickeln, die anderen Zielen wie Umweltschutz oder Nachhaltigkeit nicht widerspricht."
Vorsorge als unwissenschaftliche Verzögerungstaktik "Das Vorsorgeprinzip führt dazu, dass Dinge in das Genehmigungsverfahren getragen werden, die dort nichts zu suchen haben."
Vorsorge als fairer Prozess "Vorsorgliches Handeln wägt Alternativen ab, ist transparent und partizipativ."
Vorsorge als politisches Konzept (beziehungsweise Projekt) "Vorsorge soll in der politischen Diskussion (was wollen wir) diskutiert werden, nicht im Genehmigungsverfahren."
(Aus der Deutschland-Studie im Rahmen des EU-Forschungsprojektes "Precautionary Expertise for GM crops", im Internet unter http://technology.open.ac.uk/cts/bpg.htm)
Fußnote: (1) Zitiert in: Rehbinder, E. (1997), Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente. In: Salzwedel et al.: Grundzüge des Umweltrechts. AG für Umweltrecht (Hrsg.), 2. Auflage. Berlin: E.Schmidt, Losebl.-Ausg.:04/026 (Karin Boschert)

Das Vorsorgeprinzip

 

Das Vorsorgeprinzip in der Rio-Erklärung

(UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992), Grundsatz 15: "Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten allgemein den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.”

 

 

Das Vorsorgeprinzip nach der EU-Kommission:

Das Vorsorgeprinzip ist "in konkreten Fällen anwendbar, in denen die wissenschaftlichen Beweise nicht ausreichen, keine eindeutigen Schlüsse zulassen oder unklar sind, in denen jedoch aufgrund einer vorläufigen und objektiven wissenschaftlichen Risikobewertung begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass die möglicherweise gefährlichen Folgen für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen mit dem hohen Schutzniveau der Gemeinschaft unvereinbar sein könnten".
(Europäische Kommission 2000: Mitteilung über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. vom 2.2.2000) (Karin Boschert)