Forschungsförderung muss der Gesellschaft dienen
Offener Brief zum Forschungsrahmenprogramm der EU
Mehr als einhundert Nichtregierungsorganisationen, darunter auch das Gen-ethische Netzwerk, haben sich mit einem Offenen Brief an den Kommissionspräsidenten der Europäischen Union, Manuel Barroso, gewandt. Die Gruppen fordern einen radikalen Wandel bei der Forschungsförderung der EU.
Forschung, die heute mit Priorität gefördert wird, kann einen entscheidenden Einfluss auf die Zukunft unserer Gesellschaften und unseres Planeten haben. Es ist deswegen unabdingbar, dass das EU-Forschungsrahmenprogramm sich vor allem an den Bedürfnissen der Gesellschaft ausrichtet und nicht nur an den Interessen der Großindustrie. Unsere Gesellschaften sind mit großen ökologischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen konfrontiert. Dies ist sicher nicht der richtige Zeitpunkt für ein „weiter so“. Vielmehr bedarf es eines radikalen Wandels in der Gesellschaft, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Forschung und Entwicklung spielen dabei eine entscheidende Rolle, aber müssen - insbesondere, wenn sie mit Steuermitteln finanziert werden - allen Bereichen der Gesellschaft zugutekommen. In Zeiten schneller Veränderungen spielen Forschung und Innovation eine doppelte Rolle: Sie erweitern zum einen unser Wissen und schaffen eine verbesserte Grundlage für Entscheidungen, sie tragen aber auch zur Entstehung der Probleme bei. In der Forschung im Bereich der Atomenergie, der Pharmazie, der Agrogentechnik, der Synthetischen Biologie, den Nanotechnologien, der Raumfahrt und dem Militär - um nur einige Beispiele zu nennen - war immer wieder zu beobachten, wie die Großindustrie sich großzügige staatliche Förderungen sicherte, obwohl es weit verbreitete Vorbehalte über deren soziale und ökologische Auswirkungen gab. Diese Bedenken wurden beiseite gedrängt. Gleichzeitig begrenzte man Forschungsmittel in wichtigen Bereichen wie dem Umweltschutz, der Gesundheitsprävention, der ökologischen und ressourcenschonenden Landwirtschaft, dem Energiesparen, den erneuerbaren Energien, den Umweltgiften, der Wasserversorgung und der nachhaltigen Fischerei. Dies betrifft auch die Sozialwissenschaften, die zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen und auf Lösungsansätze ausgerichtet sind, die sich nicht an Technologien orientieren. Forschungsprogramme, in deren Zentrum Profite und Marktanteile der Industrie stehen, sind nicht in der Lage, eine Antwort auf die sozialen und ökologischen Probleme zu geben, vor denen das Europa des 21. Jahrhunderts tatsächlich steht. Für diese Herausforderungen müssen Alternativen zu den einseitig auf Wachstum und Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftsmodellen gefunden werden. Die Europäische Forschung sollte sich auf Innovationen konzentrieren, die echte Problemlösungen bieten, anstelle sich auf ‚end of pipe’-Technologien zu konzentrieren, die nicht an den Ursachen der Probleme rühren, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist. Wir sind äußerst besorgt, dass die „Europa 2020“-Strategie und die „Innovation Union“ -Flagship-Initiative Forschung und Innovation fast ausschließlich unter der Perspektive der Wettbewerbsfähigkeit thematisiert. Dies fördert die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, die anstelle der Suche nach sozialen Lösungen durch bestimmte Technologien getrieben wird. Es droht eine inakzeptable, einseitige Ausrichtung des Forschungsrahmenprogramms (2014-2020) auf die Interessen der Industrie. Viele der unterzeichnenden Organisationen, die sich in einem breiten Themenspektrum für eine gerechte Entwicklung der Gesellschaft, der Umwelt und der Ökonomie einsetzen, haben ihre Sorge bereits beim laufenden siebten Forschungsrahmenprogramm der EU geäußert. Wir haben auf Probleme wie die von der Industrie dominierten Europäischen Technologieplattformen (ETPs) und ‚informelle’ Zirkel wie das „European Security Research and Innovation Forum“ hingewiesen, die hinter den Kulissen die Agenden bestimmen. Diese Netzwerke schaffen einen strukturellen Interessenskonflikt, da sie es der Industrie ermöglichen, einerseits die Forschungspolitik der EU zu beeinflussen und andererseits so die Mittel aus der staatlichen Förderung gezielt abzurufen. Die systematische Ausweitung von Kooperationen zwischen Staat und Industrie, die von der Europäischen Kommission angestrebt wird, wird diese Probleme vertiefen und alle Ansätze untergraben, die stärker auf die Interessen der Gesellschaft ausgerichtet sind. Während die EU bisher wenigstens am Rande Programme finanziert hat, durch die auch Alternativen erforscht und gefördert werden sollen (insbesondere das Science & Society Programm), sind wir besorgt darüber, dass diese bereits limitierten Möglichkeiten durch das künftige Programm noch stärker beschnitten werden. Ebenfalls weitgehend vernachlässigt wurden ethische Bedenken gegenüber umstrittenen Technologien, die von der EU bereits gefördert werden. Die Mechanismen der EU bezüglich ethischer Richtlinien und deren Einhaltung müssen dringend überprüft werden, um sicherzustellen, dass diese notwendigen Diskussionen über Auswirkungen neuer Technologien berücksichtigt werden. Insbesondere darf die Rolle der Sozialwissenschaften nicht darauf beschränkt werden, die gesellschaftliche Akzeptanz der Technologien zu generieren. Forschung, die dazu beiträgt, dass Europa (und die Welt) ein friedlicher Ort mit gesunder Umwelt wird, muss einen höheren Stellenwert gegenüber der Forschung bekommen, die vor allem auf marktfähige Produkte abzielt. Wir, die Unterzeichner aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft, sind der Überzeugung, dass eine andere Forschungspolitik nicht nur möglich, sondern dringend geboten ist, um den aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu begegnen.
Wir fordern die Institutionen der EU auf, folgende Schritte einzuleiten:
Der Mythos, dass nur kostenintensive Hochtechnologien Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen, muss überwunden werden; stattdessen sollten verfügbare Lösungen für die Probleme im Bereich des Umweltschutzes, der Wirtschaft und der Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Der Begriff Innovation muss allgemeiner definiert werden, um auch regional angepasste und soziale Formen der Innovation und der technischen Entwicklung berücksichtigen zu können; zudem sollte die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen den Organisationen der Zivilgesellschaft und den akademischen Einrichtungen gefördert werden, um das innovative Potential in gemeinnützigen Bereichen zu fördern. Für die Vergabe von öffentlichen Forschungsgeldern muss ein demokratischer, partizipatorischer und verlässlicher Entscheidungsprozess geschaffen werden, der frei von Interessenskonflikten ist und nicht von der Industrie dominiert wird. Der Zivilgesellschaft muss es als gleichberechtigter Partner ermöglicht werden, sowohl an der Ausgestaltung der Forschungsstrategie mitzuarbeiten als auch an allen Forschungsprogrammen der EU teilnehmen zu können. Alle Experten, die die Entscheider im Bereich der EU-Forschungspolitik beraten, müssen auf eine transparente Art und Weise ernannt werden, um eine unparteiische und unabhängige Expertise zu gewährleisten. Die von der Industrie dominierten Beraterzirkel und Technologieplattformen müssen durch Institutionen ersetzt werden, die eine Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen und Interessengruppen ermöglichen. Die Ergebnisse der durch öffentliche Gelder finanzierten Forschung müssen für die Gesellschaft frei zugänglich sein. Nicht-exklusive Lizenzierung und ‚open source’-Strategien müssen im nächsten Forschungsrahmenprogramm systematisch gefördert werden.
Der Offene Brief steht jetzt auch Einzelpersonen zur Unterzeichnung offen. Im Netz unter www.sciencescitoyennes.org.
Dokumentation
Die Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Union
Bei den Forschungsrahmenprogrammen (FRP) der Europäischen Union handelt es sich um Förderprogramme, die jeweils über mehrere Jahre laufen. Das derzeit aktuelle 7. FRP, das im Januar 2007 startete, wird 2014 durch ein neues Forschungsrahmenprogramm abgelöst, für das bereits Verhandlungen und Konsultationen laufen. Fest steht, dass es nicht den Titel „8. FRP“ tragen wird, sondern vermutlich den Titel „Common Strategic Framework“. Dadurch soll signalisiert werden, dass Forschung und Innovation stärker verknüpft werden sollen. Referenz hierfür ist das Strategie-Papier „EU 2020“, das im Februar 2011 veröffentlicht wurde und maßgebliche Ziele formuliert. Bereits das 7. FRP wurde für die mangelnde Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und seine Wettbewerbsorientierung kritisiert (siehe dazu auch GID 189, August 2008, S. 50-55). Die ausgeprägte Orientierung des Forschungsrahmenprogramms auf Industrieinteressen ist in der Tat nicht neu: Sie war schon vor 13 Jahren im GID Thema. Damals ging es um das 5. FRP (GID 130, Dezember 98, S. 50 ff.).
(mf/pau)