Zerreißprobe
Die mit der Pränataldiagnostik (PND) verbundene "Zerreißprobe zwischen persönlicher Betroffenheit und gesellschaftlicher Dimension" war Thema der dies-jährigen Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Würzburg. Wie gestaltet sich die Zerrissenheit für all jene, die mit Schwangeren arbeiten? Der GID sprach mit Gabriele Kemmler vom Frauengesundheitszentrum in Frankfurt am Main.
Sie sind seit 20 Jahren in der Schwangerenberatung tätig. Eine Prämisse der Beratung ist die Non-Direktivität. Ist diese überhaupt möglich? Wie ist diese Prämisse mit Ihren persönlichen Überzeugungen zu vereinen?
Für mich selbst finde ich es immer etwas schwierig, das so genau zu definieren. Ich denke schon, dass ich weitgehend eine non-direktive Beratung mache, also nicht vorgebe, wo es "langgeht", aber schon auch mal konfrontiere mit etwas. Für mich bedeutet das auch, ein Stück Verantwortung dafür zu übernehmen und mich nicht nur auf meine beraterische Distanz zurückzuziehen. Zu sehen, ob die Klientin, wenn ich einen bestimmten Punkt anspreche, etwas damit anfangen kann. Wenn nicht, klar, dann werde ich auch nicht weitergehen, selbst wenn ich einen Verdacht oder eine Vermutung habe. Deswegen würde ich das schon als non-direktive Beratung verstehen.
Aus welchen Gründen beziehungsweise mit welchen Motivationen, Ängsten, Sorgen und Nöten kommen die Frauen oder werdenden Eltern in Ihre Beratung?
Ich mache Schwangerschaftskonfliktberatung allgemein. Mit der PND bin ich in erster Linie in den Geburtsvorbereitungskursen konfrontiert. Das ist ja oft zu einem späten Zeitpunkt, wo die Frauen die meisten PND-Untersuchungen schon hinter sich haben. Da ist eben meine Zerrissenheit, damit konfrontiert zu sein, wenn die Frauen schon auf dem Pfad der völligen Verunsicherung sind. Da habe ich kaum Möglichkeiten zu agieren oder einzuwirken. Ich komme ja eben nicht im Vorfeld dazu, mit den Frauen in Kontakt zu treten. Das ist mein Problem, also mein Hadern auch, ein Teil meiner Zerrissenheit.
In welcher Hinsicht fühlen Sie sich in Ihrem beruflichen Alltag am meisten zerrissen?
Da ist der späte Zeitpunkt und die Tatsache, dass ich höre, was die Frauen alles schon erlebt haben und dann noch erleben an Aussagen, die eben auch über die PND laufen: "Das Kind ist zu groß, zu klein, wir müssen einen Kaiserschnitt machen, weil es zu groß ist, es wächst nicht der Woche entsprechend, es wächst zu langsam, zu schnell...". Andauernd gibt es neue Hiobsbotschaften für die Frauen.
Führt das am Ende auf die behandelnden Ärzte zurück, also auf die Art, wie die Frauen informiert, behandelt und untersucht werden?
Auf jeden Fall. In jeder Vorsorgeuntersuchung werden die Frauen und die Kinder mehr oder weniger benotet. Und dann gehen sie mit mehr oder weniger guten Noten nach Hause. Das führt zu Krisen und dazu, dass Frauen gar kein Vertrauen mehr zu sich selber und zu den Kindern haben.
Inwiefern spielen dabei Sorgen um Behinderung eine Rolle?
Sorgen bezüglich einer Behinderung oder allgemeine Ängste, mit dem Kind könnte etwas nicht in Ordnung sein, spielen die ganze Zeit mit. Zum Beispiel bei der Frage: "Wie werde ich die Geburt machen, wenn das Kind nicht der Norm entsprechend wächst?". Dazu kommt ja noch, dass die meisten Aussagen auch noch falsch sind, weil das so zumeist nicht wirklich bewertet werden kann. Wirklich schwierig ist es dann, das in den Kursen aufzufangen.
Beraten Sie dann auch in Ihren Kursen?
Es gibt immer eine Befindlichkeitsrunde, da kommt das Thema dann schon auf und es gibt dann auch einen Austausch in den Kursen. In dem Sinne ist es dann mehr oder weniger eine Gruppenberatung, also dass ich schon auch in einzelnen Kurssequenzen mit der Gruppe spreche und es dann doch auch immer wieder zu einem Gruppenthema mache oder die Frauen auf meine Einzelberatung verweise.
Was ich bis jetzt mitnehmen konnte, ist, dass das Angebot der PND, wie es derzeit vom Gros der Mediziner geleistet wird, nicht einer Praxis entspricht, die sinnvoll für die Schwangeren ist, weil die Frauen mit ihren Sorgen allein gelassen werden ...
... und die Frauen in der Regel ja doch auch wirklich reinschlittern. Wollen Frauen überhaupt PND? Die Möglichkeit wird in der Regel ja gar nicht gelassen.
Welche Wege oder Möglichkeiten könnten Sie sich vorstellen, um die Kooperation zwischen MedizinerInnen und BeraterInnen zu verbessern, um die Arbeit für beide Seiten zu erleichtern?
Es wäre toll, wenn man wirklich mal mit Medizinern zusammenarbeiten könnte. Ich denke schon, dass die Mediziner glauben, ihre Arbeit und ihre Tätigkeit diene dem Wohl der Patientin. Ich bin sicher, dass sie natürlich nach bestem Gewissen arbeiten, aber bestes Gewissen kann zum Beispiel so aussehen, dass man bei einem Schwangerschaftsabbruch sagt, das muss am besten mit Vollnarkose sein, damit die Frau davon nichts merkt. Und dann gibt es eben noch zum Narkosemittel ein euphorisierendes Mittel, so dass die Frau, wenn sie wach wird, sich auch noch freut, dass sie das gemacht hat. Es gab eine Ärztin, die mir dann auch mal wirklich gesagt hat: "Es ist ja auch leichter dann für uns". Ich finde das manchmal so schwierig, denn wir BeraterInnen "strampeln" uns ab, wollen eine informierte Entscheidungsmöglichkeit, wollen die Selbstbestimmung der Frau und eine ethische Vertretbarkeit. Und letztendlich geht es dann in den Praxen und in den Kliniken darum, eine Riesenanzahl von Patientinnen durchzukriegen - also um Zeit und letztendlich Geld. Deswegen bin ich manchmal auch ein bisschen ratlos, was man tun kann, um wirklich etwas zu ändern. Auch in den Kursen, wenn wir über selbstbestimmtes Gebären sprechen. Und dann kommen sie in die Kliniken und letztendlich ist es Willkür, ob der Kaiserschnitt hinausgezögert wird, weil gerade zu viele andere Patienten etwas wollen oder ob er früh gemacht wird, weil es eben auch eher passt.
Es hat also viel mit den subjektiven Entscheidungen der behandelnden Ärzte zu tun?
Ja, und die Frauen sind verunsichert durch die ganze Schwangerschaft und die ganzen Untersuchungen in der Schwangerschaft. Und haben dann auch nicht die Kraft und den Mut, sich gegen irgendetwas zu wehren.
Wenn die Kooperation zwischen MedizinerInnen und BeraterInnen besser organisiert wäre, könnte vieles an Zerrissenheit für beide Seiten weggenommen werden ...
... ja, das denke ich schon. Warum haben eigentlich Ärzte damit zu tun, wenn die Frau schwanger ist? Es gibt die Hebammenvorsorge, die Hebammen haben ja eine ganz andere Perspektive auf Schwangerschaft und Geburt, nämlich die, einen gesunden Verlauf zu begleiten und Probleme auch zu erkennen und dann je nachdem, an Ärzte auch zu überweisen. Solange die Schwangerenvorsorge bei den Ärzten ist, liegt das Augenmerk immer auf der Pathologie.
Das Interview führte Katrin Lange
Fußnoten
- Positionspapier des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, September 2005
Gabriele Kemmler ist Diplom-Pädagogin, sie arbeitet als GfG-Geburtsvorbereiterin und GfG-Familienbegleiterin im Frauengesundheitszentrum in Frankfurt am Main. Sie ist seit 20 Jahren in der Schwangerenberatung tätig. Das Frauengesundheitszentrum ist Mitglied des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik.
Freiwillige Entscheidung?
Die Techniken der Pränataldiagnostik (PND) gelten heute bereits als Routineverfahren der Schwangerschaftsvorsorge und dienen der Aufdeckung von Krankheiten und Behinderungen des Fötus noch im Mutterleib. Die Inanspruchnahme der Verfahren basiert auf der freiwilligen und selbstbestimmten Entscheidung der Frau. Da die Inanspruchnahme jedoch einer gängigen "normalen" Praxis entspricht und zur vernünftigen "Normalität" gehört, ist es fraglich, von einer wirklich freiwilligen und selbstbestimmten Entscheidung zu sprechen. Die Technik verkehrt sich in konkrete Normansprüche an Frauen beziehungsweise werdende Eltern, da auf eine freie Entscheidung gegen pränataldiagnostische Maßnahmen und für ein behindertes oder krankes Kind nicht selten kulturelle und gesellschaftliche Repressionen folgen. Nach einer Studie aus dem Jahre 1999 liegt die Abtreibungsrate bei der Trisomie 21 beispielsweise bei 92 Prozent.(1) (kl)
Fußnoten
- Sperling, Karl (2005), DNA-Diagnostik - Befürchtungen und Hoffnungen, in: Hofmeister, Georg (Hg.) (2005), Der Traum vom perfekten Menschen - Naturwissenschaftliche, philosophische und religiöse Grundlagen der Humangenetik, Evangelische Akademie Hofgeismar, S. 85-105
Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik
Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik wurde im September 1995 gegründet. Motivation ist dabei seit Anbeginn "die Entwicklung der vorgeburtlichen Diagnostik kritisch zu hinterfragen und ihrer unreflektierten, rasanten Ausweitung entgegenzuwirken".(1) Die Organisation ist zusammengesetzt aus Einrichtungen und Einzelpersonen aus Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung, aus Hebammenarbeit und Geburtsvorbereitung sowie aus der Behinderten- und Frauenbewegung. (kl)