Alles Neuro, oder was?
Die Zeitschriften sind voll mit Gehirnscans und plaudernden Neurowissenschaftlern. Sie erklären die menschliche Sprache und zeigen dabei auf grün und rot leuchtende Sprachzentren. Oder sie sprechen von Emotionen und zeigen auf andere bunte Stelle in anderen Gehirnteilen. Der Vormarsch der Neurowissenschaften schließt an eine Entwicklung an, die auf eine zunehmende Biologisierung hinausläuft, auf die verstärkte Reduktion sozialer und psychischer Zusammenhänge auf biowissenschaftliche Modelle. Dazu gehört auch die schleichende Infiltration verschiedener gesellschaftlicher Bereiche mit Genomwissen und Gentechnik. Weil sich die Neurologisierung derzeit als eine besonders zugkräftige Variante der Biologisierung erweist, knöpfen wir uns die Neurowissenschaften in diesem Heft einmal vor - nicht ohne nach Verknüpfungspunkten dieser Trends zu fragen. Aber keine Angst: Wir verschonen Sie mit Ausführungen zum „Neuroenhancement“ und über „Willensfreiheit“. Viele Leser und Leserinnen werden sich noch an die quälende Zeit erinnern, in denen die Feuilletons die alte Frage nach der Willensfreiheit als eine Schlacht zwischen vorwitzigen Neurowissenschaftlern und bedenkenträgerischen Philosophen inszenierten. Jetzt also der Hype um das „Neuroenhancement“. Der Neuropharmakologe Quednow hat das so kommentiert: „Es scheint, als würden sich viele Medizinethiker von Neurowissenschaftlern in die Irre führen lassen, die entweder Kollaborateur von Pharmafirmen sind oder sich gezwungen sehen, ihre Forschungsergebnisse künstlich aufzubauschen, um an neue Forschungsgelder zu kommen.“ Unser Autor Torsten Heinemann wird deshalb gleich eingangs die Frage stellen, was hinter dem aktuellen Trend der Neurowissenschaften steht (Seite 5). Von „Neuro-Ökonomie“ bis „Neuro-Politik“ Die Frage ist, wie die Schauplätze aussehen, auf denen heute schon die zukünftigen Formen der Biologisierung bestimmt werden. Und welche konkreten, sozialen Anwendungshorizonte wird die Neurologisierung wohl haben? Wir sind an unerwarteten Stellen fündig geworden, zum Beispiel in Firmen. Die Neurowissenschaften erweisen sich hier als Instrument der „Menschenführung“. Der neue Forschungszweig heißt „Neuro-Ökonomie“ (Seite 7). Eine ernsthafte Frage ist auch, inwieweit das neurowissenschaftliche Wissen Grundlagen der herrschenden Gesellschaftsordnung erschüttert: etwa das Strafrecht. Peter Becker, der die Geschichte der Kriminalbiologie erforscht hat, zeigt, wie Neurowissenschaften und Genetik neue Forschungswege verfolgen und zukünftige Präventionsstrategien auftun (Seite 8). Folgt man unserem Kommentator Stefan Krauth, dann verkennt die öffentliche Diskussion um Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aber, wo die wirklichen Veränderungen stattfinden (Seite 10). Biologisierung und Emanzipation Eine Lehre aus den Arbeiten von Michel Foucault ist, dass die dominierenden Wissensformen und -techniken zwar die herrschenden politischen Verhältnisse widerspiegeln und ihnen als Instrumente dienen; sie bieten aber auch immer Chancen für widerständige Strategien. Die Neurodiversitäts-Bewegung, so unser Autor Francisco Ortega, versucht, eine solche Chance zu nutzen (Seite 14). Aneignungsstrategien bewegen sich immer auf einem schmalen Grad, und die Frage ist, inwieweit sie es schaffen, auf einem emanzipatorischen Pfad zu bleiben. Den Bedenken stellt sich Martin Schöngarth, Sprecher der Enthinderungsstelle von Autisten für Autisten, in seinem Kommentar (Seite 16). - Ein Hinweis sei an dieser Stelle auch auf die unlängst gegründete Gruppe Critical Neuroscience erlaubt: www.critical-neuroscience.org/. Im Genom- und Neuronetz: der Plaste-Mensch Wie sieht es in anderen praxisrelevanten Forschungsbereichen aus? Werden Pädagogen demnächst aufgrund von Daten aus dem Genchip und Hirnscanner unterrichten? Wird die Psychotherapie zur Hirntherapie? Die Erziehungswissenschaftlerin Nicole Becker gibt Entwarnung (Seite 12). Die Psychologie dagegen scheint in einer tiefen Wandlung begriffen. Neurologisierung und Genetifizierung finden an unterschiedlichen Fronten statt, resümiert Vanessa Lux. Hier wie anderswo zeichnet sich aber ein neues schlagkräftiges Paradigma ab: Plastizität und die Integration von Biologie und Umwelt. Der Zebrafink und Cord Reichelmann können uns davon ein Lied singen (Seite 20). Das Fazit: Die Neurologisierung kommt nicht als altbackener Biologismus daher. Sie findet an der Schnittstelle von Willensfreiheit und Umweltplastizität des Gehirns statt. Das beflügelt sogar alte Heilsvorstellungen von einer Welt, in der Menschen und Natur in Harmonie miteinander leben. Der Blockbuster Avatar spricht hier Bände. Fabian Kröger bespricht den Film, der derzeit in den Kinos läuft (Seite 22).
GID-Redaktion