„Marsch für das Leben“
Schwindende Teilnehmendenzahlen, gleichbleibende Bedrohung
Am 21. September ist es wieder soweit – tausende christlich-fundamentalistische, konservative und (extrem) rechte Menschen tragen ihre Forderungen nach einem vollständigen Abtreibungsverbot in Berlin auf die Straße. Sie nutzen dabei auch Leerstellen feministischer Diskurse, wenn es um bioethische Fragen wie Abbrüche nach pränataldiagnostischen Auffälligkeiten geht.
Jedes Jahr protestieren verschiedene feministische Bündnisse gegen den "Marsch für das Leben". Foto: (c) Sabrina Gröschke
Der „Marsch für das Leben“ findet seit 2002 jährlich in Berlin statt. Neben dem Angriff auf reproduktive Rechte stehen mit dem Bundesverband Lebensrecht (BVL) auch Organisationen hinter dem Marsch, die für ein patriarchales und queerfeindliches Weltbild eintreten. Der BVL ist eine Schirmorganisation für diverse teils christlich-fundamentalistisch, teils zumindest vordergründig weltlich geprägte Vereine. Die „Lebensschutzbewegung“ konstituiert sich laut einer 2018 erschienen Recherche von Expert*innen aus einer „Vielzahl von Gruppen, die sich über das primäre gemeinsame politische Anliegen definieren, Abtreibungen einzuschränken oder zu verhindern.“
Die jährlich in verschiedenen deutschen Städten stattfindenden „Märsche für das Leben“ sind dabei ihre sichtbarste Aktionsform, bei denen es ihnen gelingt, teils mehrere tausend Menschen auf die Straße zu bringen – in Berlin ist der Marsch von rund 5.000 Teilnehmenden in den Vor-Corona-Jahren auf nur noch rund 2.000 geschrumpft. An den dort abgehaltenen Redebeiträgen lassen sich exemplarisch jene rhetorische Strategien nachvollziehen, die die Bewegung auch insgesamt im Kampf gegen das Abtreibungsrecht zu etablieren versucht. Dazu zählen das vermeintliche „Lebensrecht“ des Fötus, sowie die Heraufbeschwörung einer zunehmenden Bedrohung eben dessen, in dem mit falschen Abbruchraten hantiert wird. Außerdem werden in vielen der Redebeiträge medizinische Falschbehauptungen getätigt, wie die Existenz eines angeblichen Post-Abortions-Syndroms, das suggeriert, Abtreibungen würden per se die Psyche der schwangeren Person nachhaltig schädigen. Gearbeitet wird hier mit starken Emotionalisierungen, so finden sich Plakate mit Kindergesichtern auf denen steht „Ich durfte Leben“ oder tränenreiche Redebeiträge von Personen, die selbst (oder deren Partnerin) einen Schwangerschaftsabbruch haben durchführen lassen und dies zutiefst bereuen. Die AkteurInnen1 selbst inszenieren sich dabei als RetterInnen angeblich wehr- und schutzloser „Kinder“. So läuft etwa der diesjährige Marsch in Berlin und Köln unter dem Motto „Stark sein. Schwache schützen.“ (bundesverband-lebensrecht.de), eines der drei Werbemotive ist mit dem Gesicht einer jungen Person mit Trisomie 21 versehen.
Eine gut vernetzte Bewegung
Die „Lebensschutzbewegung“ stellt dabei aber keinen versprengten Haufen isolierter religiöser FanatikerInnen dar, im Gegenteil gelingt es ihr immer wieder, Schwachstellen und Auslassungen feministischer Positionierungen für sich zu nutzen, wenn sie etwa ihre Kritik an Abbrüchen nach auffälligen pränataldiagnostischen Befunden hervorhebt. Die Bewegung ist innerhalb der deutschen Politik, aber auch auf europäischer und internationaler Ebene bestens vernetzt, ihre Narrative finden auch auf höchster parlamentarischer Ebene Gehör, wie sich beispielsweise an der Forderung des ehemaligen Gesundheitsministers Jens Spahn zeigte: Er forderte, die psychischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen untersuchen zu lassen – obwohl diverse Studien längst gezeigt haben, dass es nicht der Schwangerschaftsabbruch selbst ist, der Menschen psychisch belastet, sondern das ihn umgebende Stigma und mangelnde Unterstützung im Umfeld. Aus diesem Vorstoß ist letzten Endes die ELSA-Studie hervorgegangen, die die Lebenslagen ungewollt Schwangerer untersucht hat und einen wichtigen Bezugspunkt darstellt, um die schlechte Versorgungslage beim Zugang zum Schwangerschaftsabbruch aufzuzeigen – eine gute Wendung und wahrscheinlich das Gegenteil von dem, was der CDU-Politiker ursprünglich bewirken wollte.
Bei der Verbändeanhörung der Arbeitsgruppe 1 der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin im November letzten Jahres waren gleich zwei explizite „Lebensschutz“-Organisationen geladen: der BVL und die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA). ALfA betreibt unter anderem eigene, vermeintliche Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen.
Doch nicht nur die CDU zeigt mit Vereinigungen wie „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) Präsenz beim Marsch für das Leben. Auch die AfD ist auf vielfache Weise personell und ideologisch mit der Lebensschutzbewegung verwoben. Weltanschaulich eint sie nicht nur die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern auch das konservative Familien- und Geschlechterbild. Wenn auf dem sogenannten Marsch für das Leben Schilder eine „Willkommenskultur für Neugeborene“ fordern und so eine pronatalistische Politik für Inländer*innen gegen das Recht auf Asyl in Anschlag bringen oder die AfD mit dem Slogan „Neue Deutsche – machen wir selbst“ wirbt, tritt diese Schnittmenge deutlich zu Tage. Auch wenn offen rechte Personen und Gruppierungen heute nicht mehr in den vorderen Reihen der Märsche sichtbar sind, bleibt diese Verbindung klar erkennbar – etwa in personellen Überschneidungen mit antifeministischen und queerfeindlichen Initiativen. So ist etwa Hedwig von Beverfoerde, die in vergangenen Jahren auch als Rednerin beim Berliner Marsch auftrat und Sprecherin des deutschen Ablegers der europäischen Anti-Abtreibungskampage „One of Us“ („Einer von Uns“) war, auch Vorstandsvorsitzende des Vereins Ehe-Familie-Leben e.V.. Dieser war vergangenes Jahr in die Schlagzeilen geraten war, weil er ein transfeindliches Internetportal betreibt, das der Strategie falscher Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen ähnelt: die Seite gibt sich neutral, der Ton ist offen, doch auf den zweiten Blick wird mit medizinischen Fehlinformationen aufgewartet. Ehe-Familie-Leben e.V. ist auch Trägerverein der queerfeindlichen Demo für Alle, die sich vornehmlich gegen eine Diversifizierung der sexuellen Bildung an Schulen und die sogenannte Ehe für alle richtete.
Das verstärkte Engagement in transfeindlichen Diskursen ist ein Beispiel dafür, wie anpassungsfähig AkteurInnen aus dem Umfeld der „Lebensschutzbewegung“ sind und wie es ihnen gelingt, aktuelle politische Stimmungen für sich zu nutzen und zu verstärken. Auch die beim „Marsch für das Leben“ und seinen Begleitveranstaltungen verhandelten Themen erfahren regelmäßig Aktualisierungen.
Am Puls der Zeit: Debatte um assistierte Reproduktion
So organisierte der BVL im Frühjahr 2024 in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Bildungswerk Köln einen „Fachtag“ unter dem Titel „Grenzbereiche des Lebens – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, bei dem es neben den Themen Schwangerschaftsabbruch und Suizid auch um Leihschwangerschaft ging. Hierzu war als Rednerin Birgit Kelle eingeladen, die als Autorin regelmäßig antifeministische Thesen vertritt. Sie ist unter anderem für den Artikel „Dann mach doch die Bluse zu“, in dem sie sexistisches und übergriffiges Verhalten verharmlost und ihr Buch „Gendergaga“, das sich gegen Gender-Mainstreaming und Geschlechterforschung richtet, bekannt. In ihrem online verfügbaren Redebeitrag warnt Kelle vor einer möglichen Legalisierung der Leihschwangerschaft. Dabei bleibt ihre Kritik aber polemisch. Durch Schlagworte wie „System Leihmutterschaft“ und Aussagen wie „[…] die moderne Leihmutterschaftsagentur ist der moderne Zuhälter unserer Zeit“ stellt Kelle eine vermeintliche Parallele zu Sexarbeit her. Sie verkennt hier, dass Sexarbeit auch selbständig betrieben werden kann – anderes als Leihschwangerschaft mit Hilfe von IVF, bei der man vom medizinischen System abhängig ist. Sie macht sich die Stigma-behaftete mediale Darstellung von Sexarbeit, die häufig eigentlich den Kontext Zwangsprostitution fokussiert, zu Nutze, um möglichst abschreckende Bilder von Leihschwangerschaft herauf zu beschwören. In ihrem 45-minütigen Beitrag geht sie mühelos dazu über, Männer, die unter Inanspruchnahme von Leihschwangerschaft eine Familie gegründet haben, in die Nähe von Pädosexuellen zu rücken, denn es kontrolliere niemand, zu welchem Zweck man die Kinder „bestelle“. Hierzu zieht sie anekdotische Einzelfälle heran, deren Schilderung so vage bleibt, dass sich ihre Echtheit kaum überprüfen lässt. Dass in der Aufzählung der Übel hinter der Leihschwangerschaft auch bald eine angebliche LGBTQ-Lobby folgt, dürfte kein Zufall sein – ebenso wenig, dass die Erzählweise einen Zusammenhang zwischen männlicher Homosexualität und Pädosexualiät zumindest nahelegt, ist dies doch ein altbekanntes queerfeindliches Narrativ. Kelle behauptet, sie habe das Thema schon vor über zehn Jahren auf dem Schreibtisch gehabt, denn: „Eine Bewegung, die erstmal kämpft für eine Ehe für alle, wenn sie das erreicht hat, dann kommt das Thema Kinder für alle“. Diese Argumentation, die queere Menschen als Haupttriebkraft hinter Bemühungen zur Legalisierung von Leihschwangerschaft ausmacht, verknüpft die Kritik an assistierter Reproduktion mit bekannten Feindbildern, die Lebensschutzbewegung, Konservative und (neue) Rechte teilen. Sie dient der Empörung und befeuert die Angst vor einem angeblichen Werteverfall und der Auflösung der heteronormativen Familien- und Geschlechternorm.
Kritik und Abgrenzung zu „Lebensschützer*innen“ schärfen
Tatsächlich ist Kelle mit ihrer Argumentation nicht allein, die Projektion auf eine angebliche queere Lobby findet sich auch bei anderen Gegner*innen der Leihschwangerschaft, so wird etwa in Beiträgen der Zeitschrift Emma regelmäßig betont, dass es hier auch um schwule Eltern gehe. Eine fundierte Kritik an Leihschwangerschaft muss diese Praxis klar in unserem Wirtschafts- und Gesundheitssystem verorten. Sie muss sich an aussagekräftigen Studien zu medizinischen Risiken orientieren und ökonomische Abhängigkeiten, sowie die hinter dem Wunsch nach einem „biologischen“ Kind stehenden Familienbilder, in den Blick nehmen. Eine fundierte Kritik muss sich gleichzeitig auch klar abgrenzen von Gruppierungen, die zwar auf den ersten Blick Ähnliches fordern, am Ende aber etwas völlig anderes meinen. Hinter der christlich-rechten Kritik an Leihschwangerschaft steckt der Kampf gegen sich wandelnde Lebens- und Familienkonzepte und das Festhalten an einer patriarchalen Geschlechterordnung. Argumentationen, die Leihschwangere vollständig als Objekt ohne eigene Handlungsfähigkeit begreifen und dabei gleichzeitig den Blick auf kapitalistische Strukturen scheuen, dürfen wir nicht trauen. Ebenso wenig wie „Lebensschützer*innen“, die sich als Verfechter*innen von Behindertenrechten darstellen, so lange es um Föten geht, sich dann aber Parteien zuwenden, die Inklusion als „Ideologieprojekt“ ablehnen.
- 1Rechte Ideologien kennen nur zwei Geschlechter und leugnen die Existenz geschlechtlicher Vielfalt. Zur Kenntlichmachung und um hier keine Vielfalt einzuschreiben, wo diese nicht existiert, wird hier bewusst mit Binnen-I gegendert.
Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.
Nur durch Spenden ermöglicht!
Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.