Schweigen ist keine Zustimmung
Keine Informierte Einwilligung bei der elektronischen Patientenakte
Die „ePA für alle“ haben zum 1. Januar 2025 alle Bürger*innen automatisch bekommen. Es sei denn, sie haben aktiv widersprochen. Eine Einwilligung wurde also vorausgesetzt. Dieser fragwürdige Paradigmenwechsel sowie das Projekt insgesamt überfordern viele Menschen.

Die Informierte Einwilligung zu medizinischen Maßnahme basiert auf dem Selbstbestimmungsrecht. Foto: gemeinfrei auf pexels.com (daria-nekipelova)
„Mit der Umstellung von Opt-in auf Opt-out ab 2025 wird die Einwilligung der Versicherten zur ePA vorausgesetzt. Sie müssen nicht mehr aktiv zustimmen. Wer die ePA nicht nutzen möchte, muss der Einwilligung aktiv widersprechen“, schreibt die AOK zur neu eingeführten Widerspruchslösung bei der elektronischen Patientenakte (ePA).1 Eine „Einwilligung“ prüfen zu müssen, die man selbst nie getätigt hat, ist eine kuriose Konstruktion. Sie kann kaum mehr als informiert und freiwillig angesehen werden, wenn sie primär schon als gegeben vorausgesetzt wird.
Passives Verhalten, also Schweigen, wird hier als „Einwilligung“ interpretiert. Jegliches Zögern, Überlegen, Unentschieden-Sein oder fehlendes Wissen gibt es dabei nicht mehr. Denn aus alltagspraktischer Erfahrung kann davon ausgegangen werden, dass viele Bürger*innen die Informationsschreiben der Krankenkassen zur ePA, die Ende 2024 verschickt worden waren, zunächst weggelegt und teilweise dann vergessen haben, wie das häufig bei als lästig empfundenen Behörden- und Versicherungsschreiben geschieht. Zumal ja nicht zwingend ein Handeln, etwa das Zahlen einer Rechnung, erforderlich ist.
Wer nicht widerspricht, ist gut informiert?
Der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber hatte noch kurz vor Verabschiedung des Gesetzes die Einführung der Opt-out-Lösung kritisiert.2 Durch die Widerspruchslösung werde Misstrauen gegen Patient*innen ausgestrahlt, „nach dem Motto, Du hast sie bisher nicht gut genug genutzt, jetzt muss ich Dich zu Deinem Glück zwingen“. Dabei habe die ePA in der aktuellen Form kaum Nutzen.
Umfragen in den letzten Jahren haben zwar grundsätzlich immer wieder hohe Zustimmungsraten der Bevölkerung zur ePA ergeben. In der Regel war hierbei aber nicht über die zentrale Speicherung der Krankheitsdaten auf Servern informiert worden oder etwa darüber, dass Praxen und Kliniken jetzt die ePA mit Ärzt*innenbriefen und anderen Befunden befüllen müssen. Befragte wissen meist auch nichts darüber, dass die Daten bei ausbleibendem gesondertem Widerspruch an ein staatliches Forschungsdatenzentrum sowie in den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) weitergeleitet werden – dies meist nur pseudonymisiert, Name durch Nummer ersetzt. Auch ist kaum jemandem bekannt, dass Mitarbeiter*innen von Apotheken nach Einlesen der Gesundheitskarte – was zum Einlösen des E-Rezeptes erforderlich ist – bis zu drei Tage lang alles in der ePA einsehen können, egal ob psychiatrischen oder gynäkologischen Befundbericht.
All dies ist weder der Werbekampagne des Bundesgesundheitsministeriums noch den Infoschreiben der Krankenkassen zur ePA zu entnehmen. Genannt werden hier nur Vorteile, die zudem bei näherer Betrachtung oft nicht oder nur teilweise gegeben sind. Die TK etwa gibt in ihrem Schreiben an, man habe keinen „Papierkram“ mehr, ohne zu erläutern, wie Daten zukünftig gespeichert und verwendet werden. Dennoch kommentierte ein für Digitalisierung zuständiger Mitarbeiter der DAK die geringe ePA-Widerspruchsquote von rund einem Prozent: „Diese geringe Quote bestätigt uns darin, dass unsere Versicherten sich gut informiert fühlen und die Vorteile der ePA für alle erkennen“.3 Gut informiert zu sein, führt jedoch eher zu anderen Zahlen. So ergab eine im selben Zeitraum veröffentlichte Umfrage des Beratungsunternehmens Deloitte, dass die Akzeptanz der ePA in der Bevölkerung sinkt.4 Ein Drittel der Verbraucher*innen wolle der ePA-Nutzung widersprechen. Die Skepsis beruhe vor allem auf Sorgen um die Datensicherheit und dem unklaren Zusatznutzen.
Von der Datensammlung zum Persönlichkeitsbild
Somit kann bei der ePA kaum von einer geringen Widerspruchsquote auf eine gute Informiertheit der Betroffenen geschlossen werden, die für medizinische Maßnahmen vorausgesetzt wird. Für deren Durchführung ist grundsätzlich die Informierte Einwilligung notwendig.5 Einwilligungsfähige Patient*innen müssen vor einer medizinischen Maßnahme durch Ärzt*innen mündlich aufgeklärt werden, eine Entscheidung treffen und einwilligen. Eine solchermaßen Informierte Einwilligung basiert aus ethischer Perspektive auf dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf freier Entfaltung der Persönlichkeit.
Diese Begriffe sind auch aus dem Bereich der Datenverarbeitung bekannt – nicht zuletzt in Folge des Volkszählungsurteils 1983, wonach die automatische Datenverarbeitung die Befugnis des Menschen gefährde, „grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.6 Eine derartige „informationelle Selbstbestimmung“ aber wird jetzt bei der ePA mit deren automatischer Einrichtung für alle mit Befüllungspflichten und automatischer Daten-Weiterleitung übergangen. Weitsichtig wurde damals schon darauf verwiesen, dass personenbezogene Informationen „technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind.“ Sie können zu einem „Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, ohne dass der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann.“ Auch bei der Datenverarbeitung im Gesundheitswesen werden jetzt in der ePA Daten nicht nur aus der direkten Untersuchung und Behandlung, sondern auch aus E-Rezepten, Wearables, Krankheitsregistern, digitalen Gesundheitsanwendungen und dem Genom zusammengeführt und 100 Jahre lang gespeichert. Die Daten können auch hier zu einem Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, wie dies mit Visionen von einem „digitalen Zwilling“ auch durchaus angestrebt wird.
Ethisch fragwürdig
Jetzt wurde ebenso eingeführt, dass Daten der ePA für Forschungszwecke zugänglich gemacht werden, wenn Versicherte nicht explizit widersprechen. Der Caritasverband hatte den Wegfall der Regelung im Sozialgesetzbuch, wonach Daten aus der ePA nur auf der Grundlage einer Informierten Einwilligung der Versicherten dem Forschungsdatenzentrum zur Verfügung gestellt werden dürfen, als nicht hinnehmbar kritisiert.7 Bettina Gayk, Datenschutzbeauftragte aus NRW meint jedoch, Versicherte könnten auch mit Wegfall der bisher notwendigen Einwilligung weiterhin Einfluss auf die Verarbeitung ihrer Gesundheits- und Behandlungsdaten nehmen, wenn sie sich frühzeitig über ihre Widerspruchsmöglichkeiten informieren.8 Ob hier aber – wie bei medizinischen Maßnahmen – ein nach Aufklärung informiertes „Ja“ erforderlich ist oder bei schon vorgegebenem „Ja“ ein „Nein“ erst nach eigenen Informationsanstrengungen möglich wird, stellt einen erheblichen Unterschied dar. Was also sagen Ethiker*innen dazu?
Alena Buyx, bis 2024 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, hatte keine Bedenken bei Einführung der Opt-out-Lösung.9 Sie plädierte dafür, den Datenschutz nicht als Ausrede gegen mehr Datennutzung zu verwenden, sondern die Datennutzungskultur in Deutschland zu verändern, wo Überregulierung und Übervorsicht herrschen würden. Zur Frage der Informierten Einwilligung äußerte sie sich nicht. Anders wiederum Dirk Lanzerath, federführend in der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer.10 Er verweist mit Blick auf die Datenverwendung für Forschung darauf, dass nicht vollständig anonymisierte Gesundheitsdaten sehr sensible Daten seien. Das geschützte Ärtz*innen-Patient*innen-Verhältnis dürfe nicht zum gläsernen Raum werden, warnte er. „Hierfür reicht ein ‚informed consent‘ alleine nicht aus, sondern es sind an verschiedenen Stellen ethisch relevante Mechanismen wie etwa funktionierende und unabhängige Treuhandstellen und Ethikgremien einzubinden“, so Lanzerath. Selbst eine Informierte Einwilligung, stellt für ihn beim Datentransfer somit eine zu geringe Anforderung dar.
Doch am Rande bemerkt: Eine echte Anonymisierung solcher Daten ist laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung gar nicht möglich, da zentrale Angaben wie Alter, Geschlecht oder Herkunft für die Forschung immer medizinisch relevant seien. Es sei heute ohne Weiteres möglich, mittels künstlicher Intelligenz (KI) daraus echte Identitäten zurück zu berechnen. Darauf weisen auch Spezialisten hin wie Prof. Esfandiar Mohammadi von der Universität Lübeck, der zu Anonymisierungstechniken forscht.11
Komplexität erschwert Informiertheit und Entscheidung
Eine selbstbestimmte Entscheidungsfähigkeit aber ist politisch nicht mehr gewünscht. So betont Susanne Ozegowski, für Digitalisierung zuständige Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, zur Einführung der Opt-out-ePA, die Akte sei jetzt nicht mehr patientengeführt, sondern „patientenzentriert“.12 Bislang hätten die Patient*innen alle Entscheidungen treffen müssen. „Das setzt aber voraus, dass sich jeder einzelne Patient damit auseinandersetzen muss, ob er eine ePA will und was sie ihm bringt. Das ist ein verdammt hoher Anspruch, und ganz ehrlich: Wir glauben nicht, dass man das von 80 Prozent der Bevölkerung erwarten kann. Wir meinen, dass es ganz viele Menschen gibt, die möchten, dass die Ärzte und die Forschung an die Daten kommen, aber keine Lust haben, sich damit auseinanderzusetzen, wie das funktioniert“, so Ozegowski.
„Keine Lust“? Viele Menschen haben andere Alltagssorgen und sind eher überfordert von all den technischen, politischen und ökonomischen Aspekten, die es bei der ePA zu bedenken gäbe. Das beträfe dann auch die automatische Öffnung der ePA in einer Praxis nach Einlesen der Gesundheitskarte, wenn die Zugriffsrechte in der ePA-App nicht zuvor geändert worden sind. Viele schwer, chronisch und psychisch Erkrankte sowie ältere Menschen sind häufig nicht so technikaffin, um dies zu steuern, oder sie nutzen wie 10 Prozent der Bevölkerung gar kein Smartphone.
Somit haben sie auch an dieser Stelle keine Möglichkeit zur Informierten Einwilligung, auch wenn die behandelnde Praxis über ihren Zugriff auf die ePA aufklären müsste. Sich gegen deren Zugriff zu entscheiden oder dies zuvor in der ePA-App einzustellen oder generell Widerspruch gegen die ePA einzulegen, erfordert einen Mut, dem die Sorge vor schlechterem Ansehen oder schlechterer Behandlung entgegensteht.
Wie freiwillig ist eine Entscheidung, wenn befürchtet werden muss, mit einer Ablehnung der ePA „nicht mehr dazuzugehören“, sich in einer Minderheit gegenüber der Mehrheit der ePA-Nutzenden und gegenüber Ärzt*innen wie Krankenkassen rechtfertigen und somit vielleicht auch Einschränkungen in der Teilhabe in Kauf nehmen zu müssen? Diese Konflikte und Einschränkungen der Freiwilligkeit kennen Social-Media-Nutzer*innen schon bei der Abwägung, WhatsApp zu verwenden – oder aus guten Gründen eben nicht.13 Auch das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil 1983 zur Datenverarbeitung ausgeführt, dass sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsicht- und Einflussnahme erweitert hätten, „welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen“.
Ein Eingriff in Grundrechte
Mit Blick auf eine Informierte Einwilligung ist daher die „ePA für alle“ so, wie sie jetzt eingeführt wurde, doppelt problematisch: zum einen sind die gesetzlichen Regelungen zu Widerspruchslösungen, Befüllungspflichten und Datenfluss grundsätzlich fragwürdig. Zum anderen liegen wohl kaum Informiertheit und Freiwilligkeit vor, wenn schon vorab für Bürger*innen die ePA eingerichtet wird und sie somit einer schon getroffenen Entscheidung aktiv widersprechen und sich dafür erst über die neuen komplexen Regelungen selbst informieren und damit auseinandersetzen müssen. Juristisch ungeklärt ist im Übrigen bisher auch die nötige Einwilligungsfähigkeit bei Minderjährigen.
Expert*innen weisen darauf hin, dass grundsätzlich jedwede Form der Verarbeitung persönlicher Daten einen Eingriff in unsere Grundrechte darstellt.13 Die Informierte Einwilligung habe sich daher zur wichtigsten rechtlichen Grundlage für die Datenverarbeitung im Internet entwickelt. Aufgrund der meist einseitigen Informationen, der Komplexität der ePA sowie einer bisher nicht erfolgenden öffentlichen Diskussion ist es derzeit Bürger*innen kaum möglich, zur ePA und der hier erfolgenden Datenverarbeitung zu einer Informierten Einwilligung (oder besser: Informierten Entscheidung) zu kommen. Ob dadurch Grundrechte verletzt werden, wird wohl noch juristisch zu prüfen sein.
- 1
AOK: Elektronische Patientenakte ePA: Opt-out erklärt. Online: www.kurzlinks.de/gid272-ia.
- 2
Kuhn, J. (20.08.2023): Digitale Patientenakte. Datenschutz-Beauftragter Kelber sieht Widerspruchslösung kritisch. Deutschlandfunk, online: www.kurzlinks.de/gid272-ib.
- 3
dpa/aerzteblatt.de (28.10.2024): Weiterhin wenig Widerspruch gegen elektronische Patientenakte. Online: www.kurzlinks.de/gid272-ic.
- 4
PM Deloitte (31.10.2024): Akzeptanz für die elektronische Patientenakte sinkt. Online: www.kurzlinks.de/gid272-id.
- 5
Oiseth, S./Jones, L./Maza, E. (29.06.2023): Einwilligung, Aufklärung und Entscheidungsfähigkeit. Lecturio, online: www.kurzlinks.de/gid272-ie.
- 6
Bundesverfassungsgericht (1983): Leitsätze und Urteil zu den Volkszählungsgesetzen. Online: www.kurzlinks.de/gid272-if.
- 7
Pauser, S. (09.08.2023): Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (GDNG). Caritas, online: www.kurzlinks.de/gid272-ig.
- 8
Landesbeauftragte für Datenschutz und Sicherheit NRW (04.11.2024): Darum sollten Versicherte sich jetzt mit der elektronischen Patientenakte beschäftigen. Online: www.ldi.nrw.de/ePa_Widerspruch.
- 9
ABDA (26.04.2023): DAV-Wirtschaftsforum: Opt-Out-Lösung für elektronische Patientenakte (ePA) kann kommen. Online: www.kurzlinks.de/gid272-ih.
- 10
Lau, T./Richter-Kuhlmann, E.(2023): Gesundheitsdaten: Ein Balanceakt zwischen Datennutzung und Datenschutz. In: Deutsches Ärzteblatt, 2023, 14, S.598-602.
- 11
Ärztenachrichtendienst (25.08.2024): Interview mit Privacy Forscher. „Deanonymisierung geht enorm schnell“. Online: www.aend.de/article/230535.
- 12
Misslbeck A. (08.11.2022): Startschuss für die Entwicklung der Opt-out-ePA ist gefallen. ÄND, online: www.aend.de/article/220530.
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Hofmann J./Bergemann B. (01.06.2017): Die Informierte Einwilligung: Ein Datenchutzphantom. Netzpolitik, online: www.kurzlinks.de/gid272-ij. [Letzter Zugriff Onlinequellen: 24.11.2024]
Andreas Meißner ist als Psychiater und Psychotherapeut niedergelassen und langjährig mit der elektronischen Patientenakte (ePA) befasst. Zuletzt ist von ihm das Buch erschienen: „Die elektronische Patientenakte – Das Ende der Schweigepflicht“.