Essen, das man für Geld nicht kaufen kann
Hilfsprogramme erreichen die Ärmsten der Armen nicht. Ihnen fehlt das Geld, um am Marktgeschehen teilzunehmen, weshalb sie besonders von kostenlosen Ressourcen abhängig sind. Dabei spielt die lokale biologische Vielfalt eine zentrale Rolle, die entsprechend besonders geschützt und entwickelt werden muss.
Neue Forschungen zu Hilfsprogrammen gegen Armut haben gezeigt, dass diese im Großen und Ganzen und insbesondere für die Ärmsten der Armen entmutigende Misserfolge sind. Die Fehler sind dabei zweifacher Art: Ökonomen haben eine Diskrepanz festgestellt zwischen den Ansprüchen der Menschen vor Ort - des Mikro-Levels - und den Ansprüchen auf der Nationalstaaten-Ebene, dem Makro-Level. Es werden Zweifel an den Erfolgen großer Entwicklungs-Investitionen und nationaler Strategien zur Verminderung von Armut aufgeworfen.(1) Bei den Programmen zur Armutsbekämpfung gibt es ernstzunehmende Probleme mit dem (sozialen) Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen. In Bangladesch können die so genannten "hard core-poor", die Ärmsten der Armen, mit den existierenden Programmen nicht erreicht werden.(2) Die beiden Säulen, auf denen die staatliche Nahrungsmittel- und Landwirtschaftspolitik in den letzten Jahrzehnten stand, Nahrungsproduktion und -handel im Stile der Grünen Revolution, haben es nicht vermocht, das Problem des Zugangs der Armen zu Nahrung zu lösen. Es ist jetzt offensichtlich, dass die fehlende Ernährungssicherheit bei den sehr Armen nicht auf ein unbefriedigendes Angebot an Nahrungsmitteln zurück zu führen ist. Vielmehr liegt das Problem eher in dem, was Binayak Sen als "Ansprüche" (entitlements) bezeichnet hat; Rekorderträge an Getreide in der indischen Region Punjab bleiben außerhalb der Reichweite von Menschen, die zu wenig Geld haben, um sich auf dem Markt mit Nahrung zu versorgen und die über zu wenig andere Ansprüche verfügen, um auf lokale Nahrungsquellen zu zugreifen. (...) Mangelndes Verständnis der Politiker für die Bedeutung von Landwirtschaft (agriculture - Agrar-Kultur) und ihrem Verhältnis zu Nahrung, Ökologie und Kultur ist ein großes Hindernis, nicht nur wenn es um Armut geht, sondern auch, wenn andere politische Fragen, wie Nachhaltige Entwicklung betroffen sind – und zwar sowohl auf konzeptioneller als auch auf programmatischer Ebene. Wenn man Landwirtschaft nur als Produktion von Nahrung als Ware und Armut nur als Abwesenheit eines Einkommens im engeren Sinne versteht, dann reduziert man damit die Bandbreite politischer Optionen auf ein enges Set von Interventionen, das bereits in der Vergangenheit versagt hat und niemals nachhaltig sein kann.
Das Überleben muss gesichert werden
Schemata von Armut und Lebensunterhalt bauen auf einem Verständnis von Wirtschaft auf, das die Bedeutung von Einkommen und Beschäftigung in Gemeinschaften in den Vordergrund stellt. So werden die Rollen Ausgaben sparender Aktivitäten und nicht-ökonomischer Haushalts-Strategien, wie das Sammeln von Nahrungsmitteln, unweigerlich untergraben. Das Sammeln von nicht-kultivierter Nahrung [uncultivated food] hat aber einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Überlebensfähigkeit armer Menschen. Selbst in klassischen ökonomischen Untersuchungen gilt es als evident, dass in einem Rahmen, wie er zum Beispiel in Bangladesch vorherrscht, "das Sammeln von Nahrung etwa ein Fünftel des Jahreshaushaltes der ländlichen Armen ausmacht".(3) Wir meinen, Armut ist eine Existenzkrise, die von dem komplizierten Zusammenspiel zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Aktivitäten und der Entwurzelung der Menschen von der ökologischen Lebensgrundlage ausgelöst wird. Ein neuer Ansatz im südlichen Asien versucht daher, einen politischen Rahmen für den Erhalt, die Förderung und die Verbesserung lokaler biologischer Vielfalt zu entwickeln. Dabei sind alle kultivierten und nicht-kultivierten Nahrungsmittel einbegriffen, die in den unterschiedlichen Ernährungssystemen der Region genutzt werden. Diese Ausrichtung beinhaltet die Verteidigung der Gesundheit und der Integrität lokaler Ökosysteme, die kultivierte und nicht-kultivierte Biodiversität hervorbringen. Gleichzeitig umfasst die neue Strömung die Anerkennung und Wiederherstellung von Gewohnheitsrechten der Armen in den Gemeinschaften und dem Allgemeingut, welche den Zugang zu Nahrung und anderen Quellen für ein Auskommen ermöglichen.
Kultivierte und nicht-kultivierte Nahrung
(...) In Bangladesch trägt die nicht-kultivierte Nahrung in Gemeinschaften, die in einer erhaltenen biologischen Vielfalt leben, vierzig Prozent zur Ernährung bei. Zur nicht-kultivierten Nahrung werden Blattgemüse, Wurzelknollen und kleine Fische und Tiere gezählt, die von landwirtschaftlichen Feldern, aus Gewässern oder aus bewaldeten Gebieten gesammelt werden.(4) Unter den sehr Armen, den landlosen Mitgliedern dieser Gemeinschaften (die gut 15 Prozent der ländlichen Bevölkerung ausmachen und von denen viele Frauen-geführte Haushalte sind) liegt die Abhängigkeit von diesen nicht-kultivierten Quellen für Nahrung und Futter bei nahezu 100 Prozent. Übers Jahr gerechnet ist ihr alltägliches Überleben und Wohlbefinden abgesichert durch das Sammeln der nicht-kultivierten Nahrung und durch ein Tauschsystem mit Reisfarmern und den Verkauf von Ziegen und Hühnern auf lokalen Märkten, aus dessen Ertrag sie den Bedarf an Öl und weiteren Nahrungsbestandteilen bestreiten können, die nicht gesammelt werden können. Mehr als 100 verschiedene Blattgemüse (üblicherweise in den verschiedenen süd-asiatischen Sprachen als "shak" oder "saag" bekannt) werden als Nahrung oder Futter verwendet. Sie werden von den Feldern gesammelt, wo sie als Unkraut auftauchen, oder zusammengetragen von Pflanzen, die zu einem anderen Zweck angebaut worden waren. (...) Der beste Fisch kommt nicht aus den Aquakulturen, sondern wird gefangen in den offenen Wassersystemen der Flüsse und Reis- beziehungsweise Mischkultur-Feldern. Diese Fischerei in den offenen Systemen nutzt mit 250 bis 500 verschiedenen Süßwasser-Fischen mehr Arten, als es sie in Europa überhaupt gibt. Über 75 dieser Arten werden regelmäßig von der armen Bevölkerung konsumiert.(5) Der hohe Anteil nicht-kultivierter Nahrung an der Ernährung der Menschen, die in Regionen mit hoher Biodiversität leben, ist von großer Bedeutung. Dies gilt insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, dass diese Quellen im Gegensatz zu der reinen Kohlehydrat-Versorgung durch Reis auch eine Versorgung mit Spurenelementen gewährleisten. Blattgemüse, Wurzelknollen und kleine Fische sind die Hauptnahrungsquelle, die die ländliche Bevölkerung aktiv, produktiv und einigermaßen gesund hält. Der Beitrag der nicht-kultivierten Nahrung liegt dabei nicht allein darin, den Hunger zu stillen oder Stresssituationen der Unterversorgung zu überwinden. Vielmehr ist er ein essentieller Teil der Ernährung, der auf der Basis gemeinschaftlicher Verhältnisse (...) gesichert werden muss.
Landwirtschaft ist nicht nur Nahrungsproduktion
Produktion in Monokultur mit Pestiziden hat in vielen Gebieten Asiens nicht-kultivierte Nahrungsquellen zerstört. Wenn diese Zerstörungen berücksichtigt werden, zeigt sich, dass Steigerungen der Reisproduktion, die als Steigerungen der Nahrungsproduktion dargestellt werden, in Wirklichkeit für eine drastische Abnahme der Reichhaltigkeit und Verfügbarkeit von Nahrungsquellen insgesamt verantwortlich zu machen sind. Die Implikationen dieser Ergebnisse für die Politik sind weitreichend. Allein dadurch, dass die Umweltzerstörung durch den Einsatz von Pestiziden aufgehalten und die lokale Biodiversität der kultivierten und nicht-kultivierten Pflanzen so gefördert wird, würden gut vierzig Prozent des Nahrungsbedarfs der ländlichen Bevölkerung sicher gestellt werden. Für die sehr Armen wäre der Effekt sogar noch größer. (...)
Biologische Vielfalt ist ein Entwicklungthema
Forschungen zur ökologischen Landwirtschaft zeigen, dass gemischte Farmen und gemeinschaftlich genutzte Wälder, Weidegebiete, Flüsse und Seen Individuen, Haushalte und Gemeinschafen mit einem gerechten und nachhaltigeren Auskommen versorgen, als Produktionssyteme wie Monokulturen und Baumplantagen, die die biologische Vielfalt reduzieren oder nur auf wenigen fremden Arten aufbauen. (...) Über Politik in Bezug auf nicht-kultivierte Nahrung nachzudenken ist ein Weg, Nahrung, Ökologie und Lebensunterhalt zu verknüpfen. (...)
Landwirtschaft als Lebensstil
Für Nahrung produzierende Gemeinschaften im Süden Asiens - wie für andere Gemeinschaften auch - ist Nahrung nicht beschränkt auf den Konsum. Nahrung ist ein Vergnügen. Wir essen nicht nur, um unseren Hunger zu stillen, sondern ebenso, um das Essen zu genießen, um es mit unseren Familien und Freunden, unseren Nachbarn und Verwandten zu teilen. Menschen sind keine Maschinen mit großen Löchern im Bauch. Wir sind soziale Wesen und Essen macht unsere Beziehungen möglich. Nahrung zu teilen ist ein zutiefst ethischer und kultureller Akt. (...) Die politische Vorstellung, Hunger sei ein biologisches Phänomen, das allein durch den Welthandel und die Produktionskapazitäten von transnationalen Konzernen behoben werden könnte, ignoriert diese Tatsache.
Nahrung als Sicherheitsfrage
Das Überleben und die Verfügbarkeit von lokaler kultivierter wie auch nicht-kultivierter Nahrung ist im politischen Sinne auch eine Sicherheitsfrage. Fehlende Nahrungssicherheit ist ein wichtiger Grund für politische Instabilität im Süden Asiens, weil es Menschen Ungerechtigkeiten und Gewalt aussetzt. Egal, ob dies Menschen dazu bringt, ihre ländliche Heimat zu verlassen und in die Städte zu ziehen, oder ob es die ländlichen Gemeinschaften demoralisiert, die Verbindung zwischen der fehlenden Nahrungssicherheit und regionalen Spannungen ist direkt und unmittelbar. (...) Migration innerhalb eines Landes und zwischen den Ländern einer Region ist zu einer bedeutenden Quelle von Konflikten geworden, die zu Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und Bangladesch und zwischen Indien und Nepal geführt haben. Nie zuvor in der Geschichte war die Bedeutung lokaler Nahrungssicherheit derart groß für die Neudefinition von Strategien für Frieden und zur Verminderung von Armut.
Biologische Vielfalt als fehlende Verbindung
Das Problem, das hinter all diesem steht, ist, dass die Regierungen und Geldgeber ihren Kontakt zu der Idee und der Bedeutung von Landwirtschaft verloren haben und dadurch ihre Fähigkeit, Menschen dort zu ernähren, wo sie leben. Aus der Perspektive von Landwirten und landwirtschaftlichen Gemeinschaften ist die Vision für die Landwirtschaft klar: die Förderung und der Schutz der lokalen biologischen Vielfalt schafft und erhält den Lebensunterhalt für viele, nicht nur für die Landwirte. (...) Ein Politikwechsel muss die Nahrungsquellen der ländlichen Gemeinschaften verteidigen, indem er das Prinzip einer lokalen und ökologischen Nahrungsproduktion verteidigt und die Regelung der sozialen Beziehungen der Nahrungsproduktion den Gemeinschaften selbst überlässt. (...)
Übersetzung: Christof Potthof
Fußnoten:
- Binayak Sen (1997): "Politics of Poverty Alleviation”, in R Sobhan (ed.), "Growth or Stagnation: A Review of Bangladesh’s Development".
- ASA, Dropout in Micro-Credit, Dhaka, April 1996; BRAC, BRAC Programmes 1990-1995: A Status Report; Oktober 1997; AAH Dewan, "Review of Current Interventions for Hardcore Poor in Bangladesh and How to Reach Them with Financial Services”, Artikel, präsentiert auf dem "Workshop on Drop-out Features, Extending Outreach and How to Reach the Hardcore Poor", BIDS, Dhaka, November 1997; M Rahman und A Razzaque, "On Reaching the Hardcore Poor: Some Evidence on Social Exclusion in NGO Programmes”, The Bangladesh Development Studies Vol. XXVI, März 2000, Nr.1.
- Mujeri und andere (1993): "Macroeconomic programme, structural Adjustments and equity: a framework for analysis of macro-micro transmission mech-anisms in Bangladesh in Monitoring Adjustment and Poverty in Bangladesh", Dhaka.
- UBINIG (2002): "Uncultivated food: summaries of preliminary data compiled from field reports".
- Minkin, SF (1993) "Flood Control and the Nutritional Consequences of of Biodiversity of Fisheries - Bangladesh Flood Action Plan (FAP 16), Dhaka; SF Minkin et al, "Fish Biodiversity, Human Nutrition and Environmental Restoration in Bangladesh”; in: Chu-fa Tsai und M Youssouf Ali (Hrsg.) (1997), Open Water Fisheries of Bangladesh, University Press Limited, Dhaka.
South Asia Network on Food, Ecology and Culture (SANFEC). Mehr Informationen zu SANFEC im Netz unter: www.sanfec.org oder per email von: ubinig@siriusbb.com.
"Uncultivated food"
Der Begriff "uncultivated food" hat - wie leicht zu erkennen ist - kein deutschsprachiges Pendant. Gemeint sind die Nahrung, das Essen und zum Teil auch die Nahrungspflanzen und -tiere, die als Begleitflora und -fauna von Landwirtschaft, aber auch als frei- oder wild-lebende Arten in Wald und Flur in Erscheinung treten. Wir verwenden nicht-kultivierte Nahrung oder nicht-kultiviertes Essen im Sinne von nicht-angebaut. (pau)