Individuen, Gruppen, DNA
Konstruktion von „Urvölkern“ und „jüdischer Abstammung“ in genetischen Herkunftstests in der Schweiz
Die Debatte um Herkunftstests ist beispielhaft für aktuelle naturwissenschaftliche Diskurse um menschliche Diversität. Im Umgang mit den Testergebnissen zeigt sich wie Rassifizierung in der Verwobenheit biologischer und kultureller Bedeutungen erzeugt wird.

Foto: gemeinfrei auf flickr.com (2944065)
Im Oktober 2008 stellte der Westschweizer Grünen-Politiker Luc Recordon eine förmliche Anfrage an den Ständerat, die kleine Kammer des Schweizer Parlaments. Darin kritisierte er die „Verwendung von DNS-Tests für rassistische Zwecke“ und mahnte ein Verbot genetischer Herkunftstests an. Auslöser hierfür war die Vermarktungsstrategie des 2006 gestarteten Schweizer Unternehmens iGenea (Partner des US-amerikanischen Unternehmens FamilyTreeDNA), das u.a. die Möglichkeit bewarb, eine „jüdische Abstammung“ genetisch bestimmen zu lassen. Der Bundesrat wies ein Verbot jedoch mit dem Hinweis zurück, dass „individuelle Nachforschungen über die eigene Herkunft oder die eigenen genetischen Eigenschaften […] in der Schweiz unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen erlaubt sein“ sollten. Zudem sei die Gesetzeslage ausreichend, um „Missbräuche auch bei der hier zur Diskussion stehenden Anwendung von genetischen Untersuchungen zu verhindern“1 .
Recordons Anfrage zielte vor allem darauf ab, dass „Jüdischsein“ in den Tests zu einer Frage der Biologie erklärt wurde, was Reminiszenzen an die „rassenkundliche“ und eugenische Praxis des Nationalsozialismus wecke. iGenea selbst beschreibt auf seiner Webseite die genetische Herkunftsbestimmung als stochastisches Verfahren, das auf Varianzen in der DNA und deren statistische Häufung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen gründe. Keine der resultierenden DNA-Varianten (sogenannte Haplogruppen) sei exklusiv für eine bestimmte Population. Auf der Basis genetischer Analysen ließen sich jedoch Rückschlüsse auf genealogische Beziehungen ziehen. Der „Rassebegriff“ selbst findet in den medialen Selbstdarstellungen und den Hauptseiten der Homepage des Unternehmens keinerlei Verwendung. iGenea operiert allerdings mit problematischen Begriffen wie „Urvölkern“, zu denen sie neben „Juden“ auch „Germanen, Kelten, Wikinger oder Basken“ zählen. Andere fragwürdige Gruppenbezeichnungen sind „Araber, Kurden, Roma, Slawen, Phönizier, Indogermanen“ sowie ca. drei Dutzend weitere. Recordons Kritik zielte in erster Linie auf die Biologisierung von Zugehörigkeit ab. Sie wurde allerdings mit dem Hinweis auf den Freizeitcharakter, die Harmlosigkeit und die Freiwilligkeit der angebotenen Tests abgewiesen. Die angewandten molekulargenetischen Verfahren, ihre Darstellung und Interpretation blieben in der gesamten Diskussion außen vor. Gerade in ihnen zeigt sich aber, wie Rassifizierungen (d.h. Erschaffung des sozialen Konstrukts „Rasse“ durch Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen anhand bestimmter Merkmale) als biologisch-kulturelle Kopp-lungen hervorgebracht und wirkmächtig werden.
Suche nach dem Krieger-Gen
iGenea ist keineswegs das einzige Unternehmen, das kommerzielle genetische Herkunftstests anbietet. Seit der Sequenzierung des menschlichen Genoms in den frühen 2000er Jahren haben mehr als zwei Dutzend Unternehmen sogenannte genetic ancestry tests auf den Markt gebracht.2
Einige dieser Unternehmen sind global aktiv, andere, wie iGenea, bedienen eher einen lokalen Markt. Das Angebot umfasst genetische Analysen von Schleimhautabstrichen oder Speichelproben zur Bestimmung der „genetischen Abstammung“, der „ethnischen Herkunft“ oder „aus welchen Regionen deine DNA stammt“. Zudem werben die Unternehmen damit, ermitteln zu können, mit welchen „geschichtsträchtigen Genies“ Probengeber*innen verwandt seien oder wie viel „Neandertaler Herkunft“ in den eigenen Genen stecke.3
Auch Informationen über Krankheitsrisiken, Empfehlungen zu Ernährung, Fitness und Lebensstil im Zusammenhang mit der jeweiligen genetischen Ausstattung, das Vorhandensein eines „Krieger-Gens“ oder Auskünfte über die Blutgruppe, die Haarfarbe oder die Konsistenz des Ohrenschmalzes zählen zum Programm verschiedener Anbieter*innen.
iGenea war 2006 das erste Unternehmen, das ein speziell für den europäischen Markt zugeschnittenes Angebot genetischer Herkunftstests herausbrachte.4
Seitdem bietet die Schweizer Firma verschiedene Tests zu Preisen zwischen 165 und 1.499 Schweizer Franken an. Mit diesen lasse sich laut Eigendarstellung die „Herkunft in drei verschiedenen Epochen“ herauslesen: Erstens die „Haplogruppe“ (diese repräsentiere die „verschiedenen Stämme des Homo sapiens“ und zeige „den Ursprung und die Wanderungen unserer Vorfahren“), zweitens das bereits erwähnte „Urvolk“ („zwischen 900 v. Chr. und 900 n. Chr.“) und drittens die „Ursprungsregion“ („ca. 500 n. Chr. bis 1.500 n. Chr.“). Zudem lasse sich mit dem Test auch eine mögliche Verwandtschaft mit Ötzi, Napoleon oder dem altägyptischen Pharao Tutanchamun ermitteln.
Genetische Wahrheitsversprechen
Derartige Testangebote wurden in den letzten Jahren vielfach kritisch untersucht – insbesondere in Hinblick auf die Ungenauigkeit des Verfahrens und die Unzulässigkeit der vermeintlichen Schlussfolgerungen, aber auch mit Bezug auf Probleme der Rassifizierung, Essentialisierungen von Identitäten sowie auf datenschutzrechtliche Fragen. Dessen ungeachtet hält die Begeisterung für diese Form der Ahnenforschung nach wie vor an. Weltweit haben in den letzten 20 Jahren mehrere zigmillionen Menschen einen solchen Test gekauft und damit ihre DNA den Unternehmen zur Verfügung gestellt. Ein Grund für ihren Erfolg ist sicher, dass die Unternehmen mit der Autorität naturwissenschaftlicher Faktizität argumentieren. Trotz aller Ungenauigkeiten und Begrenzungen vermögen sie ihre Analysen als wissenschaftlich exakt darzustellen. So konstatierte etwa die Genetikerin und Geschäftsführerin von iGenea, Joëlle Apter, in einem Interview im jüdischen Wochenmagazin Tachles: „Das Ergebnis ist absolut sicher und korrekt und bedarf keiner Interpretation durch einen Historiker oder einen Archivar“. Im Nutzer*innenforum auf der Website des Unternehmens ergänzte die Mitarbeiterin von iGenea, Inma Pazos: „Im Gegensatz zu Dokumenten sind genetische Informationen fehlerfrei“, und in einem Erläuterungstext von iGenea wird ausgeführt, dass „nur noch unsere einzig wahre und richtige Akte bleibt, nämlich unsere DNA.“
Die Behauptung, dass die Einordnung der DNA-Daten keiner Interpretation bedürfe, ist aus dreierlei Gründen falsch. Erstens erhält eine einzelne DNA-Sequenz erst im Vergleich mit anderen Datenbeständen Bedeutung. Für sich genommen ist sie lediglich eine Abfolge von Nukleinbasen. Zweitens erfolgt die Entnahme von genetischen Stichproben innerhalb einer Populationslogik, die Gruppenzugehörigkeiten nicht einfach abbildet, sondern selektiv erzeugt und in den Datenbanken spiegelt. Hierbei verschmelzen kulturelle, soziale und politische Vorstellungen über Gruppenzugehörigkeiten mit statistischen Zuordnungen biologischer Marker. Drittens beziehen sich genetische Abstammungstests in der Praxis beständig auf historische Assoziationen (z.B. über Populationen, Wanderungsbewegungen und Ereignisse). Diese werden dann den Konsument*innen als „genetische Zugehörigkeit“ verkauft. Die „Akte“ ist also nicht, wie von iGenea behauptet, einfach im Körper angelegt, sondern muss erst aktiv hergestellt werden. Hierzu erfolgen stets Zuordnungen von Gleichheit und Differenz. Zunächst werden aus einigen Bereichen der DNA, in denen es relativ häufig zu Veränderungen kommt, spezifische Muster herausgelesen und diese zu „Haplogruppen“ verknüpft. Um die individuelle DNA als historisches Dokument inszenieren zu können, muss sie zudem mit Referenzdaten verglichen werden. Hierzu dienen DNA-Analysen aus Forschungsprojekten der Populationsgenetik sowie jene Daten, die bisherige Kund*innen iGenea und anderen Anbieter*innen zur Verfügung stellten. Die Verknüpfung individueller DNA-Muster mit den konstruierten „Populationen“, „Haplogruppen“ und „Urvölkern“ erfolgt dabei in mehreren Schritten. Sie beginnt mit der Auswahl der untersuchten Genombestandteile und den Verfahren mit denen Stichproben aus den Referenzdatensätzen entnommen werden. Diese gehen mit bestimmten Vorannahmen über Gruppenzugehörigkeiten und geographische Verortung einher. Dabei werden auch Wissensgenealogien und Klassifikationen mobilisiert, die aus der Zeit „rassekundlicher“ Forschungen stammen. Über die Verknüpfung von DNA-Mustern, Referenzpopulationen und Herkunftsannahmen rufen auch Begriffe wie „Urvolk“, „Ursprungsregion“, „Stämme“ und die Zuordnung von DNA-Daten zu „Wikingern“, „Germanen“ oder „Juden“, Vorstellungen einer biologischen Essenz sowie der klaren Abgrenzung zwischen Gruppen auf. Dieser problematischen Essentialisierung ist sich offenbar auch iGenea bewusst. Zumindest weisen die Verantwortlichen jegliche „Rassezuordnungen“ der Testergebnisse zurück und formulieren zum Begriff des „Urvolkes“ rechtfertigend, dass sie „zwar Urvölker genetisch differenzieren“ könnten, damit jedoch „keine ‚Rassen‘ oder genetisch homogene Herkünfte bestimmt“ würden.
„Urvölker“ statt „Rassen“
iGenea weist also offene Rassismen, in denen Gruppen mit bestimmten Eigenschaften versehen und hierarchisch geordnet werden, zurück. Im Nutzer*innenforum des Unternehmens reagieren Vertreter*innen von iGenea auf das gelegentliche Auftauchen des „Rassebegriffs“ wie folgt: „Der Begriff der Ethnie oder der Rasse ist falsch“ oder: „Rassismuslehren sind lächerlich und absurd, denn diese reine Rasse gibt es nicht.“ Außerdem führe die „DNA-Genealogie“ laut iGenea „alle Rassentheorie ad absurdum“, da jede Person über verschiedene Herkünfte verfüge: „Eine homogene Herkunft hat niemand.“ Mitarbeiter*innen von iGenea grenzen sich also dezidiert von „Rassentheorie“ ab, indem sie auf die heutige Vielfalt und grundsätzliche Vermischung von Menschen unterschiedlicher Herkünfte verweisen. Gleichzeitig projizieren sie aber Vorstellungen über die vermeintliche Homogenität von Gruppen sowie über deren angebliche völkische Herkünfte in die Vergangenheit. Dadurch erscheinen diese „Urvölker“ erst recht als homogene Gruppen und Quelle heutiger genetischer Differenz.
Wie kurz die Abgrenzung zu „Rassentheorie“ letztlich greift, zeigen einige Äußerungen zum Gebrauch des „Rassebegriffs“ an anderer Stelle. So schrieb die iGenea-Mitarbeiterin Inma Pazos im Nutzer*innenforum in Reaktion auf einen Kunden, „Rasse“ sei „auch ein biologischer Ausdruck“ und man müsse „es immer noch objektiv betrachten“, denn „viele Personen benutzen das Wort „Rasse“ gar nicht so, wie wir heute das als negative Definition verstehen“. Die Mitarbeiterin unterscheidet hier zwischen einem durch historische „Rassenlehren“ belasteten und daher zu verwerfenden „Rassebegriff“ sowie einem biologischen und daher objektiven „Rassebegriff“. Aus ihrer Sicht ist Rassismus also eine soziale bzw. politische Verzerrung biologischer Tatsachen. Das steht quasi in umgekehrter Logik zur Argumentation des Parlamentariers Recordon: Für diesen resultierte der Rassismus gerade aus einer solchen biologischen Verortung von Religionszugehörigkeit. Gemein ist beiden Positionen jedoch, dass sie auf eine Dichotomie zwischen Kultur und Natur Bezug nehmen, auch wenn sie jeweils die entgegengesetzte Seite zur Ursache des Rassismus erklären. Dadurch bleibt das Verständnis von Prozessen der Rassifizierung notwendigerweise verkürzt. Denn Biologie lässt sich nicht als unabhängiges Gefilde verstehen, das mittels naturwissenschaftlicher Methoden objektiv erfasst werden könnte und damit außerhalb gesellschaftlicher Prozesse stünde. Wir begreifen deshalb Körper, DNA, Kategorisierungen und Deutungen im Kontext der iGenea-Tests als eine topologische Assemblage, die nicht statisch ist, sondern immer wieder aufs Neue hergestellt wird. Dabei müssen sich unterschiedliche und teils widersprüchliche Rassifizierungen keineswegs gegenseitig ausschließen. Vielmehr wirken sie zumeist zusammen, stützen und stärken sich wechselseitig.
Was hier anhand des Beispiels von Herkunftsgentest nachvollzogen wurde, gilt auch allgemein für aktuelle Rassifizierungen. Ob im Racial Profiling, in den politischen Kampagnen etwa zur „Ausschaffungsinitiative“ bzw. „Begrenzungsinitiative“ oder in den öffentlichen Darstellungen und Diskursen über die „Anderen“, in allen diesen Formen von Rassifizierung und Rassismus wird auf biologische wie kulturelle Aspekte Bezug genommen. Nicht nur Diskurse, sondern ebenso äußere Merkmale, Körper und auch Gene sind dabei als Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu begreifen.
Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Beitrag der Autor*innen „Beständige Kopplungen. NaturenKulturen aktueller Rassifizierungen“ (2022) im Sammelband Dos Santos Pinto, J. et al. (Hrsg.): Un/doing Race. Rassifizierung in der Schweiz. Seismo.
- 1Recordon, L. (2008): Interpellation. Verwendung von DNS-Tests für rassistische Zwecke. Online: https://kurzelinks.de/gid262-ia [letzter Zugriff: 02.03.20].
- 2Sommer, M. (2012): ‘Do You Have Celtic, Jewish, Germanic Roots?’ – Applied Swiss History Before and After DNA. In: Schramm, K./Skinner D./Rottenburg R.: Identity Politics and the New Genetics: Categories of Difference and Belonging, Berghahn, S.193-211.
- 3Zitate der Reihe nach von rootsforreal.com; myheritage.ch; 23andme.com; nationalgeographic.com; 23andme.com (unsere Übersetzung).
- 4Alle Angaben zu iGenea entstammen einer Dokumentenanalyse der Selbstdarstellungen, den Foren- und Medienbeiträge und Interviews von Vertreter*innen von iGenea, sowie einer E-Mail-Korrespondenz der Autor*innen mit dem Unternehmen.
Dr. Katharina Schramm, Professorin für Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität Bayreuth.
Tino Plümecke arbeitet derzeit als Postdoc an der Universität Freiburg in der Forschungsgruppe “Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations” (SoSciBio), die sich den Konzepten zur Humandifferenzierung in den neuen Lebenswissenschaften widmet.
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