Neue und alte Abhängigkeiten
Überlegungen zum Charakter globaler biotechnologischer Beziehungen
Auf den ersten Blick erinnert die Globalisierung der klinischen Forschung an die Globalisierung anderer wirtschaftlicher Produktionsbereiche wie der Lebensmittel- und Kleidungsindustrie. Was unterscheidet die neuen Abhängigkeitsstrukturen von den alten? Der US-amerikanische Anthropologe und Historiker Kaushik Sunder Rajan stellt Überlegungen zum Charakter der globalen biotechnologischen Beziehungen an.
In vielerlei Hinsicht ähneln die neuen Abhängigkeiten den alten. Jeder Versuch, Unterschiede auszumachen, ist also notwendigerweise spekulativ. Im Folgenden werde ich mich auf das Beispiel Indiens beziehen, da ich mich mit der dortigen Situation am besten auskenne. Einerseits entspricht die Beziehung zwischen Indien und den westlichen Industrieländern der klassischen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie, wie sie im Kolonialismus zwischen Metropolen und Kolonien bestand. Das bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Biomedizin. Das Ende der Kolonialherrschaft liegt in Indien inzwischen sechzig Jahre zurück. Das heißt zwar nicht, dass (gerade im wirtschaftlichen Bereich) sämtliche Aspekte der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie verschwunden wären - im Gegenteil. Aber sechzig Jahre Unabhängigkeit bedeuten, dass wir uns in einer etwas anderen globalen Konfiguration befinden. Auch sie ist voller Ungleichheiten, unterscheidet sich aber dennoch von der Konfiguration der Sechziger Jahre.
Zentrum und Peripherie wandeln und verlagern sich
In Indien - wie auch in anderen Teilen Asiens - ist die zeitliche Distanz zum Kolonialismus in den letzten zwei Jahrzehnten von einer aggressiven Umarmung der neoliberalen Globalisierung überlagert worden. Auf der einen Seite sind dadurch in den so genannten Entwicklungsländern neue Innovations- und Wertschöpfungszentren entstanden. In Indien ist dies vor allem im Bereich der Informationstechnologien zu beobachten, an anderen Orten wie beispielsweise in Singapur auch in den Lebenswissenschaften. Dabei kommt es zu einer Dezentralisierung von Exzellenzzentren. Heutzutage wenden sich junge indische LebenswissenschaftlerInnen nicht mehr automatisch nach Europa oder Amerika, wenn sie eine höhere akademische Ausbildung anstreben oder eine Arbeit suchen. Vor fünfzehn Jahren, als ich selbst noch Student war, ist das noch so gewesen. Heute versuchen viele indische LebenswissenschaftlerInnen, nach Indien zurückzukehren, um dort eine Arbeit zu finden. Vor allem der Wettbewerb um akademische Stellen hat sich zugespitzt - man kann nicht mehr einfach davon ausgehen, dass man mit einem an einer Top-US-amerikanischen Einrichtung erworbenen Doktorgrad oder einem Postdoc auch eine Stelle an einer hochrangigen indischen Forschungsinstitution bekommt (von denen es zugegebenermaßen im Bereich der Lebenswissenschaften nur sehr wenige gibt). Dafür muss man schon in Zeitschriften wie Cell, Nature oder Science veröffentlicht haben. Auf der anderen Seite ist aber auch die Entstehung neuer Zentren und Peripherien zu beobachten, die nicht mehr einfach auf der globalen Ebene von Metropole und Kolonie operieren, sondern innerhalb einzelner Staaten angesiedelt sind. Das trifft auf Indien in besonderem Maße zu. Obwohl die Mehrheit der Inder immer noch in ländlichen Gegenden wohnt, hat sich die ganze Aufmerksamkeit der Hightech-Investitionen sowohl im Bereich der Biomedizin als auch der Informationstechnologie ganz auf das städtische Indien konzentriert. Es gibt extreme Ungleichheiten in diesem Land: In vielen Gebieten des Landesinneren wird regelrecht Krieg geführt. Dieser Krieg zwischen gewalttätigen Maoisten, Landbesitzern und dem Staat findet in den Mainstream-Medien des Landes praktisch keine Erwähnung. Man kann zwischen dem politischen Machtzentrum Delhi und Bangalore, einem der wirtschaftlichen Zentren, hin und her fliegen, ohne von den gewalttätigen Auseinandersetzungen etwas mitzubekommen, die unten im Land toben.
…aber die Verwertungslogik ist intakt
Ähnliche Ungleichheiten und Brüche existieren auch innerhalb der Städte. Meine Untersuchung zum Zerfall der Fabriken in einem Industrieviertel in Mumbai zeigen die Verschiebungen, die das spekulative Kapital in den Überbleibseln einer ursprünglich auf handwerklichem Kapital aufgebauten Stadt herbeigeführt hat. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Ausbeutung billiger Arbeitskraft oder der gewaltsamen Enteignung von Menschen, die in der Logik des Kapitals als nebensächlich oder verwertbar gelten, ist immer noch lebendig und intakt. Aber die Achsen, auf denen diese Dynamiken operieren, können nicht einfach auf nationalstaatliche Begriffe reduziert werden. In Indien ist die Entstehung und Konsolidierung einer hochentwickelten Technowissenschaft zu beobachten, während gleichzeitig eine unglaubliche Gewalt, Enteignungen und radikale Formen der Ungleichheit existieren: Bauern begehen Selbstmord, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Schulden zu bezahlen; ländliche Regionen verwandeln sich in Kriegsschauplätze; in einigen Vierteln indischer Städte herrscht eine sektiererische, teils genozidale Gewalt, weil der Zerfall der bestehenden Ökonomien zu einer Verschärfung von Spaltungen entlang von Klassen-, Kasten- und Religionsgrenzen führt. Ich möchte betonen, dass dabei das alte Machtungleichgewicht zwischen West und Ost nicht verschwunden ist. Die Regime geistiger Eigentumsrechte, die im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) verhandelt worden sind, wurden und werden stark von den Interessen der USA - insbesondere den Interessen der US-amerikanischen Pharmaindustrie - bestimmt. Zweifellos wurde geopolitisch Druck auf Länder wie Indien ausgeübt, damit sie mitziehen. Die Bush-Administration hat das WTO-Abkommen über „Handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums” (TRIPS) dennoch als unzureichend für den Schutz der Interessen US-amerikanischer Unternehmen angesehen. Eine neue republikanische Regierung hätte sicher alles daran gesetzt, TRIPS-plus und damit einen noch aggressiveren und schärferen Eigentumsschutz durchzusetzen. Es ist zu hoffen, dass die Obama-Administration qualitative Verbesserungen in diesem Bereich ermöglicht.
Vom Kolonialismus zum Imperialismus?
Die angeschnittenen Fragen betreffen also nicht nur die Technowissenschaften, sondern generell die veränderte Natur der Beziehungen zwischen Nord und Süd unter den Bedingungen des heutigen, globalen Kapitalismus. Für mich ergeben sich daraus zwei Überlegungen: Erstens: Während die USA immer noch eine dominante geopolitische und technowissenschaftliche Macht darstellen, scheint es mir nicht so eindeutig, dass sie auch immer noch das Zentrum des globalen Kapitalismus sind. Ich glaube, die Zentren des Kapitals verschieben sich: In der Kolonialzeit war Europa das Zentrum, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die USA, und zur Zeit erleben wir eine Verschiebung zu den erstarkenden Ökonomien Asiens, insbesondere nach China. Dementsprechend kann man heute technowissenschaftliche Kooperationen beobachten, bei denen die USA nicht notwendigerweise als Referenzpunkt fungieren. Besonders interessant sind hier die entstehenden pan-asiatischen Kollaborationen und institutionellen Arrangements, aus denen Singapur als zentraler Knotenpunkt hervorzugehen scheint, jedenfalls bisher. Die USA werden ihre Rolle als Weltmacht sicherlich nicht so schnell verlieren, aber zumindest für die Lebenswissenschaften werden sie in Zukunft wohl nicht mehr in dem Maße als Knotenpunkt fungieren wie in der Vergangenheit. In der Folge muss auch die Kennzeichnung von „Nord-Süd” für diesen Bereich in Frage gestellt werden. Indien etwa teilt mit anderen „Entwicklungsländern” einige Interessen, beispielsweise, wenn es in der Gesundheitspolitik um den Zugang der Bevölkerung zu Medikamenten und den Aufbau eines öffentlichen Gesundheitssystems geht. Aber auf anderen Ebenen ist Indien ein „entwickeltes” Land: Die Infrastruktur der Hightech-Medizin ist hervorragend und es gibt eine starke pharmazeutische Industrie. Außerdem weist das Land eine der höchsten Erkrankungsraten bei Zivilisationskrankheiten wie zum Beispiel Diabetes auf. Indien ist also zwar Teil der südlichen Hemisphäre, im Vergleich zu Afrika aber in einer völlig anderen Lage. Daher ist es nur bedingt sinnvoll, in einer einfachen „Nord-Süd”-Dichotomie von Indien zu sprechen - wenn es auch aus politischen Gründen immer wieder angebracht sein mag. Zweitens: Die Frage, ob wir heutzutage eher einen „neuen Kolonialismus” oder eher die Fortsetzung des alten in anderer Gestalt erleben, stellt sich nicht nur in Hinblick auf die globale Biomedizin, sondern generell. Einige Formen von Gewalt, Ungleichheit und Enteignung, die wir beobachten, sind durch und durch kolonial. Zugleich kann aber die Situation nicht einfach als kolonial bezeichnet werden, weil sich die historischen Konstellationen und ihre Erscheinungsformen voneinander unterscheiden. Ich habe keine endgültige Antwort auf diese Frage gefunden. Wichtig ist aber, an dieser Stelle zwischen Kolonialismus und Imperialismus zu unterscheiden. Unter Kolonialismus verstehe ich in Anlehnung an Rosa Luxemburg die akteursbestimmte Machtausübung metropolitaner Zentren über die „unterentwickelte” Peripherie mit dem Ziel, in großem Umfang die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und menschlicher Arbeit sicherzustellen. Imperialismus dagegen ist das strukturelle Ausspielen bestimmter historischer Ungleichheiten, die andauern und erneuert werden.1 Vermutlich sind wir nicht mehr in einem kolonialen Moment, bewegen uns aber immer noch innerhalb des Imperialismus. Es geht also darum, über die Natur der globalen biomedizinischen Beziehungen in einem erweiterten Kontext nachzudenken und zu zeigen, wie sich diese Beziehungen in verschiedenen Bereichen der Biomedizin unterschiedlich ausprägen. Klinische Versuche stellen sicher den am stärksten „kolonial” geprägten Typ dieser Beziehungen dar. Daneben entwickelt sich die globale Zusammenarbeit - etwa zwischen den USA und Indien - aber vielfach auch auf eine andere, weniger ausbeuterische Weise.
Übersetzung: Alexander von Schwerin
- 1Anm. Red.: In ihrem Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals” (1913) entwickelte Rosa Luxemburg eine Imperialismustheorie und untersuchte in Erweiterung der Marx’schen Krisentheorie die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Kolonien.
Kaushik Sunder Rajan lehrt im Fachbereich Anthropologie an der Universität von Kalifornien, Irvine. Sein Buch „Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter” ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Eine Rezension findet sich im GID 184 und auf der Homepage des GeN (www.gen-ethisches-netzwerk.de). Lesen Sie auch das Interview „Biokapitalistische Werte“ mit Kaushik Sunder Rajan und seine Überlegungen zur Veränderungen des Nord-Süd-Verhältnisses im Beitrag „Neue und alte Abhängigkeiten“ (GID 195).