Grundwerte auf dem Prüfstand

Ist die Europäische Union mehr als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft? Die gescheiterten Verfassungsreferenden zeigten, dass die EU in der Krise steckt. Doch zum echten Lackmustest, ob sich die EU auch als eine Wertegemeinschaft versteht, wird das 7. Forschungsrahmenprogramm (FRP).

Die EU steht an einer Wegscheide. Will sie tatsächlich Industrieinteressen Vorrang vor Menschenrechten und Menschenwürde einräumen? Kann die bloße und bislang unbewiesene Verheißung auf Gesundheit Rechtfertigung genug sein für eine EU-Förderung ethisch kontroverser Forschungsprojekte, obwohl dabei nationale Vorbehalte ignoriert werden? Für das neue, von 2007 bis 2013 laufende 7. FRP sollen mit rund 54,5 Milliarden Euro fast doppelt so viele Gelder für die Unterstützung von Forschung zur Verfügung stehen wie durch das Vorläuferprogramm. Im Europäischen Parlament und im Rat wird seit Monaten hitzig über die an den Grundwerten der Union rührende Frage diskutiert, ob Steuergelder für die umstrittene embryonale Stammzellforschung und Embryonenforschung genutzt werden dürfen, die in mehreren Mitgliedsstaaten verboten sind.

Wegbereiterin für Embryonenforschung?

Zur Abstimmung stehen vier Positionen: 1) Keine EU-Finanzierung für ethisch kontroverse Forschungsvorhaben, sondern nur aus den nationalen Budgets derjenigen Staaten, in denen diese Forschung legal ist. 2) Eine Stichtags- regelung, die keine Anreize für die Schaffung neuer Stammzelllinien gibt, aber die Forschung an bestehenden ermöglicht. Zwei mögliche Stichtagsdaten sind im Gespräch, zum einen der 31.12.2003 entsprechend des Kompromissvorschlags der portugiesischen Ratspräsidentschaft zum 6. FRP, zum anderen der 31.12.2005. 3) Die EU-Förderung von Forschungsprojekten mit Embryos und humanen embryonalen Stammzellen gemäß des Vorschlags der EU-Kommission. 4) Ein im Industrieausschuss angenommener, auf dem Kommissionsvorschlag basierender Antrag mit einer inakzeptablen Revisionsklausel, die die Gefahr birgt, als Öffnungsklausel sogar für die Förderung des menschlichen Klonens zu fungieren. Lediglich in Belgien und England sind Forschungsprojekte an Embryonen und embryonalen Stammzellen ohne jegliche Beschränkungen zugelassen, während sie in Deutschland, Österreich, Italien, Luxemburg, Polen, der Slowakei und Irland verboten sind. Damit mutet die EU-Kommission dem deutschen Steuerzahler zu, nach deutschem Recht verbotene EU-Projekte mitzufinanzieren. Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass sich die EU-Kommission mit dem Festhalten an der embryonalen Stammzellforschung zur Akzeptanzbeschafferin sowie zur Wegbereiterin für das Klonen des Menschen machen möchte. Denn warum weigert sich die EU-Kommission, auf die Forderung des Parlaments einzugehen und den Ausschluss embryonaler Stammzellen von der Patentierbarkeit klarzustellen? Und wie sonst ist es zu erklären, dass die EU-Kommission riskiert, das gesamte FRP in Misskredit zu bringen? Zurzeit - unter dem 6. FRP - werden mehr als 60 Projekte zu adulten Stammzellen und lediglich sechs Projekte zu menschlichen embryonalen Stammzellen finanziert. Dies entspricht nur 0,0002 Prozent des gesamten Forschungshaushaltes. Die ohne ethische Dilemmata behafteten und Erfolg versprechenden Alternativen werden dagegen mehr als sträflich vernachlässigt. Adulte Stammzellen und Stammzellen aus Nabelschnurblut verzeichnen schon für 65 Krankheiten konkrete Therapieerfolge, so zum Beispiel für Leukämie, Osteoporose oder der Sichelzellenerkrankung.(1) Während jedoch in den USA 79 Millionen US-Dollar für die Einrichtung und Förderung von Nabelschnurblutbanken zur Verfügung gestellt wurden, hält die EU in diesem Bereich Winterschlaf. Nur ein einziges Projekt mit aus Nabelschnurblut gewonnenen Stammzellen wird bislang unter dem 6. FRP gefördert. Offensichtlich war der Skandal um den südkoreanischen Klonforscher Hwang Woo Suk nicht nachhaltig genug, um den irrationalen Hype um die embryonale Stammzellforschung zu beenden. In Großbritannien fließen 95 Prozent der öffentlichen Gelder für Stammzellforschung in die Forschung an embryonalen Stammzellen, obwohl sowohl die ethischen Schwierigkeiten als auch das offenkundig nicht kontrollierbare Tumor- und Krebsrisiko dagegen sprechen. Stichtagsregelung als Kompromiss Am 14. Juni wird das Plenum des Europäischen Parlaments über das 7. FRP abstimmen. Im Jahr 2005 forderte es erstmals mit Mehrheit in zwei Resolutionen, die embryonale Stammzellforschung von der EU-Förderung auszunehmen.(2) Unterstrichen wurde diese Position sowohl vom Frauen- als auch vom Rechtsausschuss. Ein Fingerzeig, hat der Rechtsausschuss doch gemäß den Verfahrensregeln eine besondere Zuständigkeit für ethische Fragen der modernen Technologie und der Frauenausschuss die Gefahr der Kommerzialisierung des weiblichen Körpers thematisiert. Mit großem Lobbydruck mobilisierten allerdings die Befürworter der EU-Förderung für die Abstimmung im federführenden und traditionell forschungsfreundlichen Industrieausschuss: Sowohl die Position des Rechtsausschusses als auch die beiden Parlamentsresolutionen wurden ignoriert. Ähnlich gespalten ist der Ministerrat, der nach dem Parlamentsvotum entscheiden wird: Vor allem Großbritannien, Belgien und Schweden als Länder mit liberalen Gesetzesregelungen zur Stammzellforschung plädieren für eine Förderung mit EU-Mitteln. Deutschland, Österreich, Italien, Polen, die Slowakei, Luxemburg, Österreich und Malta hingegen erteilten ihr Ende 2005 in einer gemeinsamen Erklärung eine Absage. Doch die neue italienische Regierung kündigte an, die Kritiker-Allianz zu verlassen. Eine Sperrminorität käme so möglicherweise nicht zu Stande. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Stichtagsregelung als Kompromisslösung an Bedeutung. Sie ermöglicht die Arbeit mit bereits produzierten embryonalen Stammzellen, schafft jedoch keine neuen Anreize zur Herstellung und Produktion von embryonalen Stammzellen und Embryonen "auf Halde". Nicht zuletzt kann damit auch das Risiko eingeschränkt werden, dass Frauen wegen des hohen Bedarfs an "frischen" Eizellen als Rohstofflieferantinnen ausgenutzt werden. Wie realistisch und besorgniserregend dies ist, hat der im letzten Jahr publik gewordene Eizellhandel zwischen Rumänien und Großbritannien ebenso gezeigt wie die Tatsache, dass Hwang Woo Suk seine Mitarbeiterinnen zur "Eizellspende" nötigte. Er nutzte die Eizellen von mindestens 86 Frauen, von denen 75 je 1500 Dollar erhalten haben und vermutlich mehrere das gefährliche Überstimulationssyndrom entwickelt haben. Noch eindrücklicher wird die Absurdität bei Betrachtung folgender optimistischer Berechnungen, die auf der Basis von Klonversuchen an Mäusen erfolgten: Allein für die in Deutschland jährlich neu erkrankenden Parkinson-Patienten wären jährlich 200.000 bis 250.000 fremdnützige Eizellspenden notwendig.(3) Der Countdown läuft. Europäisches Parlament und Rat werden in den kommenden Wochen unter Beweis stellen müssen, ob Europa sich auch als Wertgemeinschaft sieht und Menschenwürde und Menschenrechten Priorität vor wirtschaftlichen Interessen einräumt.

Fußnoten:

  1. www.stemcellresearch.org/facts/treatments.htm.
  2. Resolution zum Eizellhandel vom 8. März 2005 und zu Biopatenten von 26. Oktober 2006, www.europarl.europa.eu/activities/expert/ta/calen….
  3. Siehe Mombaerts: www.pnas.org/cgi/reprint/100/suppl_1/11924.
Erschienen in
GID-Ausgabe
176
vom Juni 2006
Seite 61 - 62

Hiltrud Breyer ist Mitglied des Europäischen Parlaments für Bündnis 90/Die Grünen und im Gesundheits- und Lebensmittelsicherheit, im Ausschuss für die Rechte der Frau sowie im Rechtsausschuss. Sie ist Vorsitzende der Bioethik-Intergruppe des Parlaments und war ferner Gründungsmitglied des Gen-ethischen Netzwerks.

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