Die ‚Leihmütter‘ der Ukraine
Wer bestimmt über den schwangeren Körper?
Die russische Invasion hat viele Menschen in der Ukraine vor eine schwierige Entscheidung gestellt: Fliehen und alles zurücklassen oder bleiben und das eigene Leben riskieren? Was bedeutet diese Situation für die vielen Frauen, die Kinder für ausländische Paare austragen und für den ukrainischen Leihmutterschaftsmarkt?

Screenshot aus dem BioTexCom Video "Newborns in a bombshelter (2022)".
Rotes Licht blinkt alarmierend; eine Sirene heult auf; zwei Hände bewegen das Drehrad einer Tür; im Zeitraffer verschwinden mehrere Dutzend Personen im Inneren eines Luftschutzbunkers. Mit diesen Szenen beginnt ein Video des ukrainischen Fertilitätszentrums BioTexCom, das am 21. Februar 2022, drei Tage vor der russischen Invasion, auf YouTube veröffentlicht wurde. Es soll Wunscheltern zeigen, dass BioTexCom für den Ernstfall Vorkehrungen in Kiew getroffen hat. Eine Mitarbeiterin führt durch die Räumlichkeiten, die bis zu 200 Personen beherbergen können: Am Eingang ein Erste-Hilfe-Koffer und Gasmasken in Tarnfarben; dann ein großer, karger Raum, in dem Schlafsäcke am Boden liegen; an den Wänden Metallregale voller Konservendosen, Milchpulver, Windeln und Babykleidung; in einem kleinen Extraraum zwei Kochplatten – kurzum: „Alles was für den komfortablen Aufenthalt gebraucht werden kann“, versichert die Mitarbeiterin und fügt etwas später hinzu, dass sich Neugeborene „hier absolut wohl fühlen“ werden. Nun wird auch der Raum für die Babys gezeigt, bestückt mit Wickelkommoden, Gitterbetten sowie vielen kleinen Plastikbettchen, die – zur Veranschaulichung? – zum Teil bereits belegt sind und von Pflegerinnen oder Nannys hin und her gerollt werden.
Am Ende des Videos erklingt dramatische Musik. In rotes Licht getaucht, sehen wir Denis Herman, den jungen Rechtsberater von BioTexCom. Er garantiert, dass das Zentrum diese „Krise“ bewältigen könne, auch wenn er hofft, dass der Bunker nicht zum Einsatz kommen werde. Menschen weltweit haben bis zuletzt an der Hoffnung auf Frieden festgehalten, die in den folgenden Tagen und Wochen jedoch vom Angriffskrieg durch das russische Militär zerschlagen wurde.
Der Leihmutterschaftsmarkt in der Ukraine
Die Parallelen des Videos mit dem „Corona-Video“ von BioTexCom vor knapp zwei Jahren sind – trotz anderem Setting – unverkennbar. Kurz nach Ausbruch der Pandemie in Europa und den darauffolgenden Grenzschließungen in vielen Ländern hatte das Fertilitätszentrum ein Video veröffentlicht auf dem mehr als 40 Neugeborene zu sehen sind, die in einem pompösen Kiewer Hotelzimmer, Bettchen an Bettchen, darauf warten, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Die Bilder gingen um die Welt: Bis heute wurde die englische Version des Videos fast drei Millionen Mal aufgerufen. Die Pandemie hat das Ausmaß des ukrainischen Leihmutterschaftsmarktes und seine internationale Bedeutung sichtbar gemacht. Im Land selbst hat das eine Debatte rund um ein Verbot von 'Leihmutterschaft' für ausländische Paare losgetreten.1 2 Offizielle Angaben zur Zahl der durch 'Leihmutterschaft' geborenen Kinder gibt es nicht, aber Expert*innen sprechen von bis zu 2.500 Geburten pro Jahr, davon etwa 80 Prozent für ausländische Paare. Laut Schätzungen sind aktuell mindestens 500 bis 800 ukrainische ‚Leihmütter‘ für ausländische Wunscheltern schwanger. Am 11. März befanden sich schon 30 Neugeborene im Luftschutzbunker von BioTexCom. Denis Herman rechnet damit, dass es bis zum Ende des Monats um die 100 sein könnten.
Moralisches Mittelfeld
Der ukrainische Leihmutterschaftsmarkt hat sich v.a. in den vergangenen zehn Jahren konsolidiert, nachdem viele beliebte Destinationen, wie Indien, Nepal, Kambodscha oder Mexiko ‚Leihmutterschaft‘ für ausländische Wunscheltern erschwert oder verboten haben. Heute ist die Ukraine eines der wenigen Länder, in denen die kommerzielle „Leihmutterschaft“ legal ist – allerdings nur für heterosexuelle verheiratete Paare. Während die USA oft als ethischer Goldstandard und Länder des Globalen Südens als ausbeuterisch dargestellt werden, wird die Ukraine gern als „moralisches Mittelfeld“ präsentiert: Es gilt als „wohlständig“ und „europäisch“ genug, um frei entscheidende ‚Leihmütter‘ hervorzubringen3 – und dennoch zahlt man mit 30.000 bis 50.000 Euro nur ein Drittel von dem, was ein Leihmutterschaftsprogramm in den USA kosten würde. Von dieser Summe erhalten die ukrainischen ‚Leihmütter‘ etwa ein Drittel. Die meisten arbeiten für Fertilitätszentren, die sich in Kiew oder Kharkiv befinden und wohnen auch in den östlichen Teilen des Landes – also dort, wo nun der Krieg am heftigsten ausgefochten wird.
Einseitige Berichterstattung
Bereits vor Ausbruch des Krieges, aber v.a. danach, verbreitete sich Nervosität und Panik unter den ausländischen Paaren. Mehrere Medienberichte spiegeln die schwierige Situation dieser Wunscheltern wider und viele lesen sich wie „Heldengeschichten“ – so, zum Beispiel, die Beichte eines US-amerikanischen Paares oder eines australischen Paares, über die gefährliche Abholaktion ihrer Neugeborenen aus Kiew und der Flucht über die polnische Grenze.
Der Mut dieser Paare ist bewundernswert und ihre Verzweiflung mehr als verständlich. Viele, die sich für die Inanspruchnahme einer ‚Leihmutterschaft‘ entscheiden, haben bereits jahre-, wenn nicht jahrzehntelang versucht, ein Kind zu bekommen. Die 'Leihmutterschaft' sehen sie als letzte Chance. Auffallend und problematisch ist jedoch, dass die ‚Leihmütter‘ in diesen Geschichten oft nur am Rande erwähnt werden. Wir erfahren nicht, wie es ihnen und ihren Familien geht oder wo sie sich nach der Geburt aufhalten; in manchen Berichten scheint es geradezu als sei das Kind gar nicht von jemandem ausgetragen und geboren worden, sondern vom Himmel gefallen. Den Tunnelblick der Eltern kritisieren auch manche Mitarbeiter*innen von Agenturen oder Kliniken. So fehle es zum Teil an Verständnis dafür, dass sich auch die Mitarbeiter*innen unvermittelt in einer Kriegssituation wiederfinden und neben der Betreuung der Leihmutterschaftsprogramme auch um ihre eigene Zukunft bangen müssen.
Die Unsichtbarkeit der ‚Leihmütter‘
Die aktuelle Situation erinnert an die Diskussionen rund um das Erdbeben in Nepal, im Jahr 2015. Nach dem Erdbeben, das etwa 9.000 Menschen das Leben kostete, hatte der israelische Staat die rund 26 Neugeborenen von israelischen Männer-Paaren evakuiert, während die ‚Leihmütter‘ selbst zurückgelassen wurden – ein Schritt, der zu viel internationaler Kritik führte.
Die Unsichtbarkeit der ‚Leihmütter‘ ist kein Zufall. Sie hat System und ist dem ukrainischen Leihmutterschaftsmarkt eingeschrieben: Agenturen und Kliniken propagieren ein mehrheitlich anonymes Verhältnis und erlauben oft nur „vermittelten“ Kontakt zwischen Wunscheltern und ‚Leihmüttern‘. Beiden Seiten wird dieses System als vorteilhaft verkauft – Es schütze die Wunscheltern vor unrechtmäßigen Geldforderungen der ‚Leihmütter‘ und die ‚Leihmütter‘ vor überbordender Kontrolle der Wunscheltern. Den Agenturen und Kliniken erleichtert es natürlich die Arbeit, wenn sie alle Fäden in der Hand haben und gegebenenfalls die zwei Seiten gegeneinander ausspielen können. Auch vielen Wunscheltern kommt die relative Anonymität entgegen – sie wollen zwar eine Familie gründen, aber nur ungern die ‚Leihmutter‘ in diese aufnehmen.4
Zwischen körperlicher Autonomie und vertraglicher Verpflichtung
Wo sind also die Frauen, die ausländischen Paaren ihren Kinderwunsch erfüllen und wie geht es ihnen? Ein Krieg wirft in Bezug auf ‚Leihmutterschaft‘ viele Fragen auf: Was heißt es, dass sie ihre Arbeit nicht einfach stehen und liegen lassen können, sondern sie überallhin mitnehmen müssen? Können sie selbst entscheiden, ob sie in der Ukraine bleiben – zuhause mit Familie und Freund*innen oder (allein) in einem Bunker der Klinik? Oder ob sie das Land verlassen wollen und wenn ja, wohin? Zwingt sie die vertragliche Verpflichtung das Wohl des Embryos/Fötus/Kind in ihrem Bauch zu priorisieren? Und wären sie verpflichtet, nach der Geburt auf diese Kinder zu schauen, wenn die rechtlichen Eltern nicht in die Ukraine einreisen können? Wie die kanadische Journalistin Alison Motluk schreibt, verdeutlicht die aktuelle Kriegssituation die potentiellen Dilemmata und Interessenkonflikte, die eine ‚Leihmutterschaft‘ mit sich bringt.
Die aktuelle Situation ist schwer zu überblicken und ändert sich wohl von Tag zu Tag. Die Medien berichten u.a. von Wunscheltern, die ‚Leihmütter‘ unter Druck setzen, das Land zu verlassen; von Agenturen, die ‚Leihmüttern‘ anbieten, nach Lviv oder Moldawien zu übersiedeln (wobei die Freiwilligkeit dieser Reise nicht immer evident ist); sowie von Zentren, die verlangen, dass die Frauen zumindest für die Geburt nach Kiew zurückkehren. In einem Facebook-Post warnt BioTexCom Wunscheltern sogar explizit vor einer Geburt im Ausland, denn „die Leihmutter wird als Mutter gelten und der Versuch der Übergabe des Kindes wird als Kinderhandel bezeichnet, Sie werden nie als Eltern des Kindes anerkannt. Solche Handlungen werden mit Freiheitsstrafen oder mit Geldstrafen bestraft.“ Eine so drastische Sprache schreckt natürlich auch die vielen Wunscheltern ab, die die ‚Leihmütter‘ gern durch eine Flucht ins Ausland oder sogar eine Aufnahme bei ihnen Zuhause unterstützen würden (vor oder nach der Geburt). Die rechtliche Unklarheit kann allerdings auch die ‚Leihmütter‘ verunsichern: So berichtet Ania, die Zwillinge für ein französisches Paar austrägt und von der Zentralukraine nach Lviv geflohen ist, dass sie Sorge hat, nach der Geburt als rechtliche Mutter zu gelten, wenn sie weiter Richtung Westen fliehen würde.
‚Leihmutterschaft‘ on hold?
Wenig ist über die Situation der Frauen bekannt, die erst „in Vorbereitung“ für einen Embryo-Transfer sind (d.h. bereits Hormone nehmen) oder die noch in einer frühen Schwangerschaftswoche sind. Laut Medienberichten, werden manche dieser Frauen ebenfalls Richtung Westen transferiert; eine ‚Leihmutter‘ berichtete sogar, die Agentur wolle sie zu einem Schwangerschaftsabbruch drängen. Während man davon ausgehen würde, dass die gesamte ukrainische Reproduktionsindustrie derzeit „on hold“ ist, zeigt ein Blick in die sozialen Medien, dass die Akquise von ‚Leihmüttern‘ weitergeht. Private Vermittler*innen werben für Arrangements in der Ukraine, aber auch in Russland – ‚Leihmütter‘ könnten für die gesamte Zeit der Schwangerschaft nach Moskau oder St. Petersburg kommen, auch mit ihren Familien, heißt es in einer Anzeige. Solche Anzeigen sind kein Novum. Der russische Markt hat in den vergangenen Jahren stark von der reproduktiven Arbeit ukrainischer Frauen gelebt, die dort ein viel höheres Gehalt als in der Ukraine erhalten. Ob solche Angebote unter den jetzigen Umständen attraktiv sind, ist zu bezweifeln. Sicher jedoch ist, dass auch der russische Repromarkt unter dem Krieg leiden wird – nicht nur wegen des Wegfalls vieler „Arbeitskräfte“, sondern auch wegen des Ausbleibens der europäischen und US-amerikanischen Kundschaft.
Wie geht es weiter?
Während der Alltag für viele Menschen in der Ukraine stillsteht, tickt die Uhr der Wunscheltern weiter. Schon im Vorfeld des Krieges haben viele ihre geplanten Kinderwunschbehandlungen in der Ukraine abgesagt5 und schauen sich nun nach Alternativen um. Georgien wäre eine Option, sagt Sam Everingham von der internationalen Organisation „Growing Families“, aber er befürchtet, das kleine Land werde nicht die große Nachfrage decken können. In Folge könnte es, laut Everingham, vermehrt zu Programmen in Ländern wie Zypern und Albanien kommen, in denen ‚Leihmutterschaft‘ noch schlechter oder sogar gar nicht reguliert ist. Der Krieg wird also nicht nur zu einer geopolitischen Neuordnung führen, sondern könnte auch wieder eine Neuordnung des Leihmutterschaftsmarktes auslösen. Vorstellbar ist aber auch, dass nach dem Krieg der ukrainische Markt wieder auflebt, weil sich Wunscheltern „aus Solidarität“ für diese Destination entscheiden und die Realisierung ihres Kinderwunsches als Beitrag zum Wiederaufbau verstehen – schließlich wird diese „altruistische“ Rhetorik gern herangezogen, um ‚Leihmutterschaft‘ in Niedriglohnländern zu rechtfertigen.
- 1Guseva, Alya (2020): Scandals, Morality Wars, and the Field of Reproductive Surrogacy in Ukraine. In: Economic Sociology_the European Electronic Newsletter 21 (3): 4–10.
- 2Vlasenko, Polina (2020): Ukraine’s Surrogate Mothers Struggle under Quarantine. In: OpenDemocracy. Online: https://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraines-surrogate-mothers-struggl… [letzter Zugriff: 17.3.2022].
- 3Siegl, Veronika (2019): Leihmutterschaft in der Ukraine. Aufstieg – und Fall? – eines lukrativen internationalen Marktes. In: ukraine-analysen 211, 8 – 13. Online: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen211.pdf [letzter Zugriff: 17.3.2022].
- 4Siegl, Veronika (2018): Fragile Truths. The Ethical Labour of Doing Trans-/national Surrogacy in Russia and Ukraine. Dissertation, Universität Bern.
- 5The Sunday Times (20.2.2022): Surrogate mothers fighting to stay in their homeland, S. 13.
Veronika Siegl ist Sozialanthropologin (Wien/ Köln/ Bern). Für ihre Dissertation arbeitete sie viele Jahre zu 'Leihmutterschaft' in Russland und der Ukraine.
Aktuell forscht sie zu Schwangerschaftsabbrüchen nach pränataler Diagnose in Österreich.
Nur durch Spenden ermöglicht!
Einige Artikel unserer Zeitschrift sowie unsere Online-Artikel sind sofort für alle kostenlos lesbar. Die intensive Recherche, das Schreiben eigener Artikel und das Redigieren der Artikel externer Autor*innen nehmen viel Zeit in Anspruch. Bitte tragen Sie durch Ihre Spende dazu bei, dass wir unsere vielen digitalen Leser*innen auch in Zukunft aktuell und kritisch über wichtige Entwicklungen im Bereich Biotechnologie informieren können.