Komplexität zulassen

GeN-Stellungnahme zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

Der Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland noch immer eine Straftat und wird bis heute über den im Jahr 1871 erlassenen und im Nationalsozialismus mehrmals verschärften §218 StGB geregelt. Abtreibung ist Teil von Gesundheitsversorgung und muss legalisiert werden – aber wie?

Derzeit sieht das Gesetz drei Ausnahmen für die Strafbewährung beim Schwangerschaftsabbruch vor. Erstens die sogenannte Fristenlösung: Hierfür müssen Schwangere sich einer Pflichtberatung unterziehen und mindestens drei Tage „Bedenkzeit“ zwischen Beratung und Prozedur verstreichen lassen. Abbrüche können so nur in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft stattfinden. Zweitens die „kriminologische Indikation“: Ist die Schwangerschaft Ergebnis einer Straftat, bleibt der Abbruch ebenfalls innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei. Und Drittens die „medizinische Indikation“: Ein Abbruch bleibt auch dann straffrei, wenn eine Fortsetzung der Schwangerschaft eine erhebliche Gefährdung des Lebens oder der (auch psychischen) Gesundheit der schwangeren Person bedeuten würde.

Vor allem in der Fristenlösung mit ihrem Beratungszwang und der verordneten Bedenkzeit steckt eine patriarchale Logik: gebärfähigen Menschen wird nicht zugetraut, Entscheidungen über ihren Körper selbstständig zu treffen. In seinem Urteil von 19931 schrieb das Bundesverfassungsgericht den „Schutz des ungeborenen Lebens “ auch „gegenüber seiner Mutter“ fest und schuf so einen angeblichen Rechtskonflikt zwischen Fötus und schwangerer Person. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Austragungspflicht, die vom Gedanken geprägt ist, dass gebärfähige Menschen für die Reproduktion und somit für die Erhaltung der Bevölkerung verantwortlich seien.

Weg mit §218 – und dann?

Abtreibung gehört raus aus dem Strafgesetzbuch – das ist seit Jahrzehnten einhellige feministische Forderung. Was das aber im Detail bedeutet und welche ethischen Fragen sich bei einer Neuregelung stellen, lassen viele Feminist*innen weitestgehend unbeantwortet. Dies ist nicht verwunderlich: Nachdem die sogenannte Kompromisslösung in den 1990er Jahren erreicht wurde, hieß es lange, hieran solle besser nicht gerüttelt werden. Zu groß war die Befürchtung, dass dieser fragile Status quo sich zum Schlechteren wandeln könnte. Seitdem arbeiten selbst ernannte Lebensschützer*innen kontinuierlich an einer Ausweitung der Kriminalisierung. In diesem Klima will man die eigenen Forderungen nicht schwächen, indem man sich den Ambivalenzen um den Schwangerschaftsabbruch widmet. Aber das ist dringend notwendig.

Wiederkehrende Debatte: Selbstbestimmung in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft

Dazu gehört, dass eben nicht nur ungewollte, sondern auch ursprünglich gewollte Schwangerschaften abgebrochen werden – meistens dann, wenn bei vorgeburtlichen Untersuchungen eine Behinderung des Fötus festgestellt wird. Wie kann man die patriarchale Logik der Kriminalisierung von Abtreibung zurückweisen und gleichzeitig der behindertenfeindlichen Selektion durch Pränataldiagnostik entgegentreten?

Diese Debatte ist keinesfalls neu, bereits in den 1980er Jahren machten behinderte Frauen, die sich in sogenannten „Krüppelfrauengruppen“ zusammenschlossen, auf diese Ambivalenz aufmerksam. Ihre Position: „Angesichts der behindertenfeindlichen Einstellung in der Gesellschaft allgemein und im Besonderen der Humangenetiker*innen könnten sich Frauen* nicht ‚frei‘ für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft mit einem möglicherweise behinderten Fötus entscheiden. Als Konsequenz forderten die Krüppelfrauen die Abschaffung des §218 sowie die Schließung humangenetischer Beratungsstellen. Sie kritisierten einerseits das Selbstbestimmungsparadigma der Frauenbewegung und versuchten gleichzeitig, einen neuen feministischen, behindertenpolitischen Standpunkt zu entwickeln.“2

Dieser Herausforderung stand auch das Gen-ethische Netzwerk (GeN) zuletzt gegenüber. Basierend auf dem Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung im Frühjahr die „Kommission zu Reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ eingesetzt. Deren Arbeitsgruppe (AG) 1 prüft die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches. Im September wurden verschiedene Verbände zur Stellungnahme eingeladen, u.a. das GeN. Neben feministischen Organisationen, Zusammenschlüssen von Mediziner*innen, Fachberatungsstellen und Sozialverbänden fanden sich darunter auch konfessionelle Träger, Männerrechtsgruppen und zwei Vereine, die explizit der selbst ernannten Lebensschutzbewegung zuzurechnen sind. Mit Weibernetz ist lediglich eine Organisation der Selbstvertretung behinderter Menschen darunter.

Durch bereits im Vorfeld veröffentlichte Positionspapiere, z.B. vom Deutschen Juristinnenbund oder Doctors for Choice, war deutlich geworden, dass Fragen um Pränataldiagnostik für viele lediglich eine Randnotiz bei der Neuregelung von Abbrüchen darstellen. Der Humanistische Verband Deutschlands plädierte gar für eine Wiedereinführung der 1995 abgeschafften embryopathischen Indikation.3 Dies bildete die Grundlage der Stellungnahme des GeN: eine klare Abgrenzung zu den Forderungen aus der „Lebensschutzbewegung“ und Verbesserungen für die Situation ungewollt Schwangerer bei einem gleichzeitigen Fokus auf die behindertenfeindlichen Implikationen der Pränataldiagnostik und einer deutlichen Positionierung gegen ein Sonderabtreibungsrecht für behinderte Föten.

Abtreibung bis zur Geburt?

Zugangsbarrieren wie verpflichtende Wartezeiten und die Zustimmung Dritter widersprechen den Empfehlungen der WHO.4 In der Stellungnahme spricht das GeN sich daher für eine Streichung von Beratungsregelung und Indikation aus. Schwieriger bleibt die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt. Abtreibungsgegner*innen versuchen den Diskurs auf die Frage nach dem Beginn des Lebens zu verschieben – sie sehen schon in der befruchteten Eizelle ein Kind. Das GeN fokussiert stattdessen auf die Lebensfähigkeit außerhalb des Uterus. Diese ist potenziell mit Ausprägung der Lungen ab ca. der 22 SSW gegeben. Die Stellungnahme plädiert daher für Abbrüche ohne Zugangsbeschränkungen bis zur 22. SSW und macht unterschiedliche Vorschläge zur Verbesserung der Versorgungssicherheit.

Auch nach der 22. Schwangerschaftswoche müssen Schwangere die Möglichkeit eines Abbruchs haben. Da anzunehmen ist, dass es durch einen Wegfall der bisherigen Zugangshürden i.d.R. möglich ist, bis zu diesem Zeitpunkt ursprünglich ungewollte Schwangerschaften zu beenden, spricht sich das GeN für einen strengeren Maßstab für Abbrüche ab der 22. SSW aus. Maßgabe hierfür sollte die Gesundheit der schwangeren Person sein. So muss ein Schwangerschaftsabbruch weiterhin möglich sein, wenn das Leben der schwangeren Person bedroht ist oder wenn anzunehmen ist, dass durch das Fortführen der Schwangerschaft langfristige gesundheitliche (auch psychische) Schäden eintreten würden.

Neugestaltung der medizinischen Indikation

Ein überwiegender Teil der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland findet derzeitig nach der Beratungsregelung statt. Auf die medizinische Indikation entfallen ca. drei Prozent der Abbrüche. Wie viele Abbrüche innerhalb der medizinischen Indikation nach pränataler Diagnostik stattfinden, wird nicht genau erhoben. Aus nur zwei Kliniken liegen Daten dazu vor. Sie zeigen: Abtreibungen nach pränataldiagnostischen Befunden machen den überwiegenden Teil der Abbrüche nach der 12. SSW aus.5

Doch eine Behinderung des Fötus darf nicht per se als unzumutbare Belastung ausgelegt werden. Die Abschaffung der embryopathischen Indikation 1995 war ein großer Erfolg der Behindertenbewegung. Allerdings fanden pränatale Diagnosen Eingang in die medizinische Indikation, auch wenn hier der Fokus auf der psychischen Gesundheit Schwangerer liegt. Tatsächlich aber zeigen Erhebungen6, dass eine Indikation infolge einer pränatalen Diagnose einfacher ausgestellt wird, als bei einer psychischen Belastung Schwangerer, die nicht aus einem auffälligen Befund abgleitet wird.

Behindertenfeindlicher Selektion entgegentreten

Mit der zunehmenden Verbreitung vorgeburtlicher Untersuchungen ohne therapeutischen Nutzen müssen bei einer Neuregelung des Abtreibungsrechts Maßnahmen getroffen werden, um behindertenfeindlicher Selektion entgegen zu treten. In der Stellungnahme stellt das GeN daher eine Reihe von Forderungen:

  1. Ein Zulassungsverfahren für pränataldiagnostische Tests durch ein Gremium, das auch die ethischen und sozialen Fragen hinter einer solchen Praxis prüft und neben verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen auch mit Organisationen der Selbstvertretung behinderter Menschen besetzt wird.
  2. Ein umfassendes Aufklärungsgespräch VOR pränataldiagnostischen Untersuchungen, das den Unterschied zwischen selektiven und therapieorientierten Untersuchungen, die Folgen eines auffälligen Befundes ebenso wie die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen erläutert und Informationen zum Leben mit behindertem Kind bereitstellt.
  3. Nachbesserungen in der Beratung nach dem Gendiagnostikgesetz hinsichtlich des derzeitigen, den Leitlinien zugrunde liegenden, defizitorientierten Behinderungsbegriffs und der Qualifikation der beratenden Mediziner*innen.
  4. Eine Neubewertung des Fetozids (das Töten des Fötus mit Injektion einer Kaliumchloridspritze ins fetale Herz bei späten Abbrüchen).

Wie geht es weiter?

Die Ampel hat eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts im Koalitionsvertrag verankert. Die Abschaffung von §219 StGB, der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche verbat, de facto aber zu einem Informationsverbot für Ärzt*innen führte, ist 2022 gelungen. Ob auch §218 fällt, bleibt abzuwarten. Die Kommission wird im Frühjahr 2024 ihren Abschlussbericht vorlegen und Empfehlungen abgeben. Ein konkreter Gesetzesvorschlag wird nicht erarbeitet. Feminist*innen sollten sich derweil nicht von der Furcht leiten lassen, komplexe Fragestellungen könnten die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gefährden und stattdessen nach einer Lösung streben, die den Ambivalenzen in einer patriarchalen, aber eben auch behindertenfeindlichen, Gesellschaft Rechnung trägt.

 

Dies ist eine gekürzte Fassung für die Printausgabe. Die gesamte Stellungnahme des GeN finden Sie hier:
www.gen-ethisches-netzwerk.de/stellungnahme-218.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
267
vom November 2023
Seite 28 - 29

Jonte Lindemann ist Mitarbeiter*in des GeN und Redakteur*in des GiD.

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