Toleranz als Privileg
Israel und Deutschland vertreten recht konträre Positionen, was den Umgang mit pränatalen Untersuchungen betrifft. In einer Doktorarbeit verglich eine israelische Soziologin die Praxis der humangenetischen Beratung der beiden Länder – mit verblüffenden Ergebnissen.
Bei der Ultraschalluntersuchung ist sich der Arzt nicht ganz sicher, welches Geschlecht der Fötus hat: "Vielleicht ist es ein Mädchen." Schließlich stellt er aber doch fest: "Es ist ein Junge. Der Penis ist aber außerordentlich klein." Nach Auffassung des Mediziners ist der kleine Penis kein Anzeichen für eine genetisch bedingte Krankheit. Trotzdem empfiehlt der Arzt der jungen Frau, die Schwangerschaft abzubrechen – um sicherzugehen. Die Geschichte dieser routinemäßigen Ultraschalluntersuchung hat vor kurzem eine Reporterin der israelischen Zeitung "Haaretz" aufgeschrieben und resümiert: "Ein kleiner Penis ist nur einer der Gründe, wegen deren Ärzte in Israel schwangeren Frauen raten, ihren Fötus loszuwerden - ein Vorschlag, der mehr als zehnmal am Tag gemacht wird." Jährlich werden in Israel mehr als 3400 Abtreibungen vorgenommen, weil bei den Föten Behinderungen diagnostiziert wurden. Das ist ein Anstieg um 20 Prozent in den letzten fünf Jahren. Für die Soziologin Yael Hashiloni-Dolev sind diese Zahlen bedenklich. Die Wissenschaftlerin, die an der Universität Tel Aviv forscht, hat vor kurzem ihre Doktorarbeit fertiggestellt, in der sie die Praxis der humangenetischen Beratung in Israel mit der in Deutschland vergleicht. Die Ergebnisse klingen verblüffend – und waren für "Haaretz" der Anlass, sich mit dem Thema zu befassen, das ansonsten in der israelischen Gesellschaft kaum öffentlich diskutiert wird.
Freundliche Heuchelei
Deutschland und Israel vertreten die beiden am weitesten auseinanderliegenden Positionen, die es in den westlichen Industrienationen gibt. Während Israel nach Auffassung von Frau Hashiloni-Dolev einem weitgehend unkritischen Fortschrittsoptimismus huldigt und die Möglichkeiten der pränatalen Untersuchungen voll ausschöpft, ist die Situation in Deutschland in ihren Augen durch einen rigiden Idealismus geprägt, der die Lebensqualität einzelner Menschen und ihrer Familien geringschätzt, um dem hohen Ziel einer toleranten Gesellschaft, die aus ihrer Vergangenheit gelernt hat, nahezukommen. Dabei empfindet sie den behindertenfreundlichen Gestus, der in den Medien und in den Äußerungen von Humangenetikern gepflegt wird, über weite Strecken als heuchlerisch: "In den vier Monaten, die ich in Köln gelebt habe, habe ich zwar oft gehört, dass Behinderte die Gesellschaft bereichern, aber die Straßenbahn können sie nicht benutzen, weil die Zugänge größtenteils nicht behindertengerecht sind." Das Herzstück von Yael Hashiloni-Dolevs Arbeit sind 295 Fragebögen, die Mitarbeiter humangenetischer Beratungsstellen in Israel und Deutschland ausgefüllt haben. Zur Vertiefung der statistischen Ergebnisse hat sie außerdem 32 ausführliche Interviews mit Beratern geführt. In Deutschland konnte sie dabei auf die Unterstützung des Kölner Genetikers Benno Müller-Hill und der ebenfalls in Köln forschenden Wissenschaftshistorikerin und Biologin Ute Deichmann zurückgreifen. Die statistischen Ergebnisse sind eindeutig: Die deutschen Humangenetiker raten fast nie zu Schwangerschaftsabbrüchen, sie haben eher keine negative Einstellung zu Behinderungen und favorisieren stark das Modell der nondirektiven Beratung. Sie führen zwar Amnioszentesen durch und raten zu routinemäßigen Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft. Gentests, mit denen einzelne Krankheiten und Anomalien festgestellt werden, bieten sie aber überwiegend gar nicht erst an.
Große Technikbegeisterung
Ganz anders dagegen die Lage in Israel: Hier werden derzeit zehn Gentests und eine Reihe von anderen Untersuchungen nahezu standardmäßig durchgeführt, weitere Tests werden bei konkreten Verdachtsmomenten vorgenommen. So wird nicht nur die schwere Stoffwechselstörung Tay-Sachs erkannt, die Blindheit, Taubheit und geistige Behinderungen bewirken kann und meist zum schnellen Tod des Kindes führt, sondern auch Behinderungen wie die zumindest behandelbare Zystische Fibrose oder – zumindest physisch weitgehend behebbare – Beeinträchtigungen wie die Hasenscharte oder einige Formen der Sterilität werden gerastert. Wenn die ersten Gentests für Alkoholismus oder Schizophrenie auf den Markt kommen, werden sie in Israel ohne Zweifel sofort in großem Ausmaß eingesetzt werden, während in Deutschland voraussichtlich große Vorbehalte gegen sie geltend gemacht werden dürften. "Deutschland ist ein Land, das gegenüber neuen Techniken äußerst kritisch ist. In Israel herrscht dagegen eine große Technikbegeisterung", stellt Frau Hashiloni-Dolev fest, deren Familie einst aus Deutschland fliehen musste und für die ihr Forschungsprojekt auch das Ziel hatte, Deutschland besser kennenzulernen. Sie sieht mehrere Ursachen für den extrem unterschiedlichen Umgang der beiden Gesellschaften mit Techniken der Reproduktionskontolle. Wichtig ist die unterschiedliche Verarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen. "In Israel ist der Blick darauf begrenzt, was für grauenhafte Verbrechen an uns Juden begangen worden sind. Hier wird der Holocaust anders als in Deutschland nicht mit Themen wie Genetik in Verbindung gebracht." Frau Hashiloni-Dolev sieht auch den von der Religion vorgegebenen Rahmen: Einerseits werde in Deutschland in katholischer Tradition der Embryo von vornherein und unabhängig von seiner Beschaffenheit mit einem Lebensrecht ausgestattet, während er im Judentum seine Rechte erst im Verlauf der Zeit herausbildet und die Mutter bis zur Geburt immer Vorrang hat. Außerdem finden sich in den 613 Geboten der Halacha, des jüdischen Gesetzes, eine Reihe von negativen Stereotypen über Behinderte, während es für das Christentum nach Auffassung von Frau Hashiloni-Dolev charakteristisch ist, dass das Leiden einen Menschen näher zu Gott bringt. Vor allem aber hält die Sozialwissenschaftlerin soziale Gründe für überaus wichtig. In der deutschen Gesellschaft gebe es eine sehr geringe, in Israel eine hohe Geburtenrate. "In Deutschland gibt es weniger Kinder, kleine Familien und einen vergleichsweise großen Wohlstand, damit haben die Deutschen das Privileg, auch gegenüber Kindern, die viel Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigen, tolerant sein zu können." In Israel sei dagegen angesichts der großen, kinderreichen Familien die Bereitschaft viel geringer, sich so stark auf ein einzelnes Kind zu konzentrieren. Typisch für diese Situation sei, dass man in Deutschland zwar viel mehr Menschen mit geistiger Behinderung in der Öffentlichkeit sehe als in Israel, dass es aber fast unmöglich sei, mit vielen Kindern in ein Restaurant zu gehen, weil sie dort als störend empfunden würden.
Ideologisch verordnet
Trotzdem ist die Behindertenfreundlichkeit in Deutschland in den Augen der Forscherin eher ideologisch verordnet als Ergebnis echter Anerkennung. In den Fragebögen hätten die deutschen Humangenetiker fast immer die hierzulande offiziell erwünschte, behindertenfreundliche Position bezogen. Erst in den ausführlichen Interviews sei deutlich geworden, dass die Berater sich unter permanenten Druck gesetzt fühlten und sich deswegen nicht trauten, beispielsweise Gentests für weniger kritische Krankheiten anzubieten oder Kosten-Nutzen-Erwägungen offen zu thematisieren. Dieser Befund korrespondiert damit, dass, wenn in Deutschland bei genetischen Untersuchungen Behinderungen festgestellt werden, die Schwangerschaft auch meistens abgebrochen wird.
Unsichtbar im Alltag
Yael Hashiloni-Dolev möchte mit ihrer Arbeit keine der beiden untersuchten Gesellschaften anklagen, aber die Grenzen von beiden aufzeigen. Während in Deutschland ihrer Meinung nach eine offene Diskussion erforderlich ist, die nicht an abstrakte Ideale von Toleranz anknüpft, sondern die Lage von Familien mit behinderten Kindern zum Ausgangspunkt nimmt, ist in Israel erst einmal überhaupt eine öffentliche ethische Debatte über die Probleme und möglichen negativen Konsequenzen der neuen Gentests und reproduktionsmedizinischen Verfahren in Gang zu setzen. Dass es eine solche Debatte in Israel nicht gibt, bestätigt auch Sylvia Tessler-Lozowick, geschäftsführende Direktorin der Behindertenrechtsorganisation Bizchut. Die Haltung der israelischen Gesellschaft zu Behinderten beurteilt sie allerdings optimistischer als Frau Hashiloni-Dolev. Besonders kritisch sei zwar, dass gerade Menschen mit geistigen Behinderungen im israelischen Alltag keine Rolle spielten, weil sie isoliert in großen Einrichtungen lebten. Aber in den letzten Jahren seien viele große Heime für Körperbehinderte aufgelöst und dafür Möglichkeiten für ambulante Versorgung geschaffen worden. "Jetzt müssen wir dafür streiten, dass auch geistig Behinderte besser integriert werden." Eine zentrale Rolle spielt in ihren Augen dafür das Antidiskriminierungsgesetz, dessen erste vier Bücher 1998 von der Knesset (1) beschlossen worden sind. Auf der Basis dieses Gesetzes, das weiter reicht als das bislang lediglich Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden sicherstellende deutsche Bundesgleichstellungsgesetz, hat der Oberste Gerichtshof von Israel in den letzten Jahren in mehreren Entscheidungen beispielsweise unterstrichen, dass Behinderte grundsätzlich Anspruch auf Eingliederung insbesondere in den Schulen haben. Trotzdem ist die umfassende Integration Behinderter bislang noch die Ausnahme. Dass die rechtliche Gleichstellung Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung ist, diese aber nicht alleine bewirken kann, ist eine Erfahrung, die Behinderte in beiden, sonst so unterschiedlichen Gesellschaften gegenwärtig machen.
Fußnote:
- Knesset = israelisches Parlament
Oliver Tolmein hat über ein strafrechtliches bioethisches Thema promoviert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Hamburg. Er vertritt überwiegend Menschen mit Behinderungen. Einer seiner Schwerpunkte in der „Kanzlei Menschen und Rechte“ ist Anti-Diskriminierungsrecht.