Neurobiologie in der Erziehung?
Interview mit Nicole Becker
In der Erziehungswissenschaft wird in letzter Zeit vermehrt auf neurowissenschaftliches Wissen rekurriert. Der GID sprach mit der Erziehungswissenschaftlerin Nicole Becker, die über die „neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik“ promoviert hat.
In welcher Form macht sich der neurobiologische Diskurs in der pädagogischen Wissenschaft bemerkbar?
Er macht sich bei den Publikationen bemerkbar: In den vergangenen Jahren erschienen in erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften diverse Schwerpunkte und Themenhefte, die sich mit der Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse befasst haben. In den 1990er Jahren spielte das Thema nur ganz am Rande eine Rolle. Ähnlich verhält es sich mit Monographien; auch hier gibt es einen Zuwachs an einschlägigen Titeln zum Thema Neurodidaktik & Co. Viele Zeitschriften laden Hirnforscher zu Gastbeiträgen ein; die besseren unter diesen Beiträgen fassen Studien aus der Forschung beziehungsweise Grundlagenforschung zusammen - zum Beispiel zu Lernen und Gedächtnis oder zur Hirnplastizität -, die schlechteren bringen irgendwelche - vermeintlich neurowissenschaftlich fundierte - pädagogischen Überzeugungen der Autoren zum Ausdruck. Paradebeispiele hierfür sind die Beiträge der Neurobiologin Anna-Katharina Braun und des Neurobiologen Gerald Hüther.
Was sind die treibenden Kräfte in der Pädagogik, die sich für eine Integration neurowissenschaftlicher Aspekte in die Erziehungswissenschaft aussprechen?
Ich unterscheide zwischen zwei Gruppen: „pragmatisch interessiert“ und „praktisch ambitioniert“, zur letzteren gehören die selbst ernannten Neurodidaktiker. Sie wollen aus Erkenntnissen der Hirnforschung neue, praktische Methoden ableiten, zum Beispiel Unterrichtsmethoden. Die pragmatisch Interessierten möchten einen Einblick in den Forschungsstand erhalten und rezipieren, was sich anbietet. Zum Beispiel ist es sinnvoll, neben den klassischen lernpsychologischen Theorien, die wir ohnehin in der Erziehungswissenschaft rezipieren, entsprechende Erkenntnisse aus den kognitiven Neurowissenschaften zu integrieren, die dem Ganzen eine neurophysiologische Seite hinzufügen. Pragmatisch sind sie auch deshalb, weil sie der allgegenwärtigen Forderung nach Interdisziplinarität nachkommen.
Was ist unter Neurodidaktik beziehungsweise Neuropädagogik zu verstehen?
Laut Selbstbeschreibung der Neurodidaktiker geht es darum, Lehren und Lernen so zu gestalten, „wie es das Gehirn am besten kann“. Aus Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns sollen pädagogische Gestaltungsprinzipien abgeleitet werden.
Arbeitet die Neurodidaktik bereits mit neurowissenschaftlich orientierten Forschungsmethoden?
Das genuin „neurodidaktische“ Projekt - vom Erfinder der Neurodidaktik selbst initiiert -, arbeitet sozialwissenschaftlich: Gerhard Friedrich misst bei seinem neurodidaktischen Zahlenlandprojekt die Mathematikleistungen von Kindern und vergleicht sie mit Kindern, die keine entsprechende Förderung erhalten. Das hat forschungsmethodisch mit „Neuro“ nichts zu tun, sondern ist eine klassische Vergleichsstudie. Aber man muss sagen: Die Bereiche, in denen über Neurodidaktik gesprochen wird, sind selbst innerhalb der Schulpädagogik - auch eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft - nicht sonderlich einflussreich. Die Neurodidaktik hat letztlich zu wenig Substanz, um sich als eigenständige Theorierichtung etablieren zu können. Umgekehrt: Man liest immer wieder, die Erziehungswissenschaft sei „biologiefeindlich“. Tatsächlich kann ich diese Position aber nicht finden. In Sachen Hirnforschung überwiegt, quantitativ betrachtet, die affirmative, unkritische Rezeption: Es gibt relativierende Stimmen, aber solche, die das vollständig ablehnen sind mir nicht begegnet.
Worin besteht das Neue in der jetzigen naturwissenschaftlichen Vereinnahmung?
Das Neue besteht aus meiner Sicht darin, dass man sich auf einen reduktionistischen und in die Irre führenden Sprachgebrauch einlässt. Es gibt Beiträge, in denen nicht mehr von Kindern, sondern von Gehirnen die Rede ist. Das finde ich nicht deshalb problematisch, weil ich befürchte, dass die Kinder im pädagogischen Diskurs abgeschafft werden, sondern weil es das Falsche suggeriert, nämlich: Wir müssen nicht Forschung über die Lebens- und Wahrnehmungswelt von Kindern und Jugendlichen betreiben, sondern bloß verstehen, wie deren Gehirne funktionieren. Doch selbst, wenn man weiß, wie Lernen aus neurophysiologischer Sicht funktioniert, folgen daraus noch keine Konsequenzen für das pädagogische Handeln.
Der Pädagogik-Professor Jürgen Reyer hat sich vor einigen Jahren für eine „biowissenschaftlich modernisierte Erziehungswissenschaft“ ausgesprochen (siehe Kasten). Gibt es bezüglich der Neurowissenschaft ähnlich ambitionierte Wissenschaftler?
Es kann nicht schaden, die Erkenntnisse der Neurowissenschaften dort, wo wir ohnehin viel aus der Psychologie rezipieren (Lernen, Motivation, Gedächtnis), zu integrieren. Aber es bleiben wichtige Bereiche der Erziehungswissenschaft übrig, für die neurowissenschaftliche Erkenntnisse keine Rolle spielen. Mir ist auch niemand bekannt, der ernsthaft alle erziehungswissenschaftlichen Phänomene „verneurowissenschaftlichen“ wollen würde.
Gibt es bereits neurowissenschaftliche Forschungsprojekte in der Erziehungswissenschaft?
Von dem vom BMBF ausgeschriebenen Forschungsprogramm „Neurowissenschaften (NW) und Lehr-Lern-Forschung” haben vor allem Psychologen und Mediziner profitiert - das sind auch diejenigen, die - aufgrund des experimentellen Paradigmas der NW - hier sinnvoll forschen und kooperieren können. Soll heißen: Bislang ist mir kein erziehungswissenschaftliches Projekt bekannt, das tatsächlich viel mit Neuro zu tun hätte. Ähnliche Diskussionen gibt es in Großbritannien und den USA, aber dort besteht stärker als in Deutschland eine Zweiteilung der Diskussion: Die akademische Erziehungswissenschaft geht das Thema klar forschungsorientiert an; Lehrerzeitschriften und andere Publikationen, die sich eher an Praktiker richten, schreiben - wie die Neurodidaktiker hierzulande - über „brain-based-learning“. Die „Wissenschaftsorientierten“ fragen: „Wo gibt es mögliche Ansätze für interdisziplinäre Fragestellungen?“ und finden sie beispielsweise in der Untersuchung von Lernstörungen.
Der Heilpädagoge Otto Speck überschreibt ein Kapitel seiner im letzten Jahr erschienenen Veröffentlichung „Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen“ mit der Frage: Droht eine Biologisierung der Erziehung?
Ich denke, die Erziehungswissenschaft hat keinen Einfluss darauf, wie Erziehungsdiskurse in der Öffentlichkeit ablaufen, diese haben ihre eigene Logik. Die Erziehungswissenschaft kann sie bloß beobachten und hier und da Stellung beziehen. Ich würde eher von einer Medizinisierung sprechen - Erziehungsprobleme werden häufiger auf organische Störungen zurückgeführt. Dahinter steckt ein biologisch geprägtes Menschenbild, aber das ist sicher nicht allein auf die starke Präsenz der Hirnforschung zurückzuführen.
Das Interview führte Tom Bartneck
Tom Bartneck ist Diplom-Erziehungswissenschaftler und hat sich mit der Vision genetischer Prokreation auseinandergesetzt. Die Diplomarbeit kann über das GeN als pdf bezogen werden.
Dr. Nicole Becker arbeitet an der Abteilung „Allgemeine Pädagogik“ der Eberhard Karls Universität Tübingen und führt zur Zeit ein Forschungsprojekt zur ADHS-Diskussion durch.
Knies um Eugenik in der Pädagogik
Biowissenschaftliche Vorstöße in der Pädagogik sind nicht neu. Pünktlich zur vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms meldete sich auch die Erziehungswissenschaft zu Wort. Jürgen Reyer, Professor für Pädagogik, rief sogleich unter dem Titel „Eugenik und Pädagogik. Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft“ das nahende Zeitalter einer neuen Eugenik aus. Da „genetische Designer- Babys“ nur noch eine Frage der Zeit seien, solle sich die Erziehungswissenschaft von ihren überholten pädagogischen Vorstellungen vom Natur-Kultur-Verhältnis, ihrer Angst vor dem Verlust von Zuständigkeit und Bedeutung sowie von ihrer Furcht vor einem Wiedererstarken rassenhygienischer Zustände befreien. Sonst gerate sie ins „Diskurs-Abseits“ und würde die Chancen einer neuen, liberalen Eugenik verschlafen. PädagogInnen sollten vielmehr ihre „Diskurskompetenz“nutzen, um die beiden großen Projekte zur „Verbesserung des Menschen“ - er meinte Pädagogik und Eugenik - miteinander in Einklang zu bringen.(1) Viele Anhänger hat Reyer in der Pädagogik bis heute nicht finden können. Stattdessen stellte sein Berliner Kollege Tenorth klar, dass die Pädagogik nicht die Verantwortung für die biologische Natur, sondern für die soziale und moralische Entwicklung des Kindes trage. Die Pädagogik müsse sich gegen eine Designer-Pädagogik stellen, die nur noch „erzieherische Umwelten für das genetische Design bereitzustellen“ habe.(2)
(Tom Bartneck)
Fußnoten: (1) Jürgen Reyer: Eugenik und Pädagogik. Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft, Weinheim/München 2003, S. 14ff.
(2) Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von Reyer, Jürgen: Eugenik und Pädagogik, in: EWR 3(4), 2004, www.klinkhardt.de/ewr/77991713.html